Geschichte
Ich wusste nicht, wie lang ich dort saß, doch als Aaron kam und mich wachrüttelte, war mir klar, dass ich eingeschlafen war. Ich erkannte, dass auch er Blut auf seinem Hemd hatte. „Aaron, was ist passiert? Wer ist der Mann?“, fragte ich noch etwas schlaftrunken, trotzdem war meine Stimme etwas höher als sonst. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Ich glaubte, Tränen erkennen zu können. „Ist er … ist er … tot?“ Ich wagte das Wort gar nicht auszusprechen. Der junge Prinz richtete sich auf, doch brach gleich darauf zusammen. Ich fing ihn auf und setzte mich zu ihm auf den Boden. Seinen Kopf legte ich in meinen Schoß und strich ihm über das Haar. Ich konnte nichts dagegen machen, die Tränen traten aus meinen Augen. Doch nicht nur ich weinte, auch Aaron weinte. Nie hätte ich gedacht, dass Aaron weinen konnte. Er war mir so stark und selbstbewusst vorgekommen. Und jetzt lag er in meinen Armen und weinte. Er wirkte so zerbrechlich.
Lange saßen wir da. Dann fand der Prinz seine Stimme wieder und sprach langsam, aber deutlich zu mir: „Es tut mir leid, dass du meinen Vater so kennenlernen musstest.“ Wieder überkam ihn ein Schluchzen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sein Vater? Der Mann, den ich gerade eben noch versucht hatte zu trösten? Nein, das konnte nicht sein. Er sah Aaron doch gar nicht ähnlich, oder doch? „Du willst es nicht glauben, stimmt’s?“, sagte Aaron. „Ich will, aber ich kann nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Sag, lebt er noch?“, fragte ich stotternd. Aaron nickte und ich war erleichtert. Es fiel mir ein Stein vom Herzen. Schließlich setzte sich Aaron auf. Seine Augen waren so rot wie der Teppich unter seinem Sessel. Ich hielt ihm ein Taschentuch hin, das ich in einer Seitentasche gefunden hatte. Dankbar nahm er es entgegen. Er schnäuzte sich und versuchte zu lächeln, doch es wurde nur eine Grimasse. Trotz seines Schmerzes sah er noch immer schön aus. „Ich werde es dir jetzt erzählen. Aber versprich mir, dass du jedes Wort glauben wirst“, sagte er und schaute mich durchdringend an. Ich nickte. Aaron ließ alle Wachen abtreten. Nun waren wir in der Halle allein.
„So ist es jedes Mal“, begann er seine Geschichte zu erzählen und ich hörte aufmerksam zu. „Jedes Mal höre ich sein Schreien. Es ist nur noch Schmerz. Schon oft hätte er ins Reich der Toten gehen können. Doch ich will das nicht zulassen.. Ich kann nicht ohne ihn leben. Ich liebe ihn, weißt du. Trotz seiner Krankheit. Ich kann nicht ohne ihn …“ Wieder schluchzte er und begann zu weinen. Ich überwand mich und nahm ihn in den Arm. Ich spürte seinen Atem an meiner Schulter und drückte ihn fest an mich. Trotz der trau-rigen Situation war ich glücklich. Ich hatte einen Menschen im Arm, den ich gern hatte. Aaron erzählte mir seine Probleme und ich hörte einfach nur zu. „Es geht schon viele Jahre so. Am Anfang war ja noch alles ganz in Ordnung. Doch dann wurde die Krankheit schlimmer und nach sieben Jahren konnte er nicht mehr. Seitdem liegt er oben in der Kammer.“ Wieder liefen mir die Tränen herunter. „Was ist das für eine Krankheit?“, fragte ich. „Krankheit kann man es gar nicht nennen. Er wird eines Tages an gebrochenem Herzen sterben. Vor neunzehn Jahren verlor er meine Mutter. Sie starb bei … bei meiner Geburt. Er hat es nie wirklich verkraftet. Sie war eine tolle Frau. Rosé war ihr Name. Meine Mutter hatte langes, schwarzes Haar, genau wie du. Mutter hatte ein Herz für jeden. Sie holte die Bettler ins Schloss, um ihnen Essen und ordentliche Kleider zu geben. Außerdem liebte sie die Tiere. Mein Vater hat sie abgöttisch geliebt. Sie war für ihn sein Stern, sein Ein und Alles. Als sie bei meiner Geburt starb, schloss er sich tagelang ein. Er wollte und konnte niemanden sehen. Nicht einmal mich, seinen einzigen Sohn. Er war zu schwach. Er musste Mutters Tod erst verarbeiten.“ Aaron atmete tief durch. „Mein Vater tut mir so leid. Er hat so viel mitgemacht. Er möchte in dem Zimmer sterben, in dem er momentan liegt, da es das Zimmer meiner Mutter war. Vater hatte sie bei einem Ball von König Alessandro kennengelernt. Es war, wie man so schön sagt, Liebe auf den ersten Blick. Und nach einem halben Jahr haben sie auch schon geheiratet. Tja, und dann nach neun Monaten kam ich auf die Welt. Und Mutter ging. Sie ist für mich gegangen, verstehst du? Das war das Schlimmste, was meinem Vater je passieren konnte. Sein Sohn kommt auf die Welt und seine Frau stirbt. Ich kann mir das nie verzeihen. Er hatte sie doch nur so kurze Zeit für sich.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das Schicksal der Familie ging mir sehr nah. „Aber du kannst doch nichts für den Tod deiner Mutter“, versuchte ich ihn aufzubauen. „Ja, aber trotzdem habe ich Schuldgefühle. Ich kann meinem Vater nie in die Augen schauen, ohne Schuldgefühle zu bekommen. Obwohl er so krank ist, kann ich nicht ohne ihn leben. Es ist egoistisch von mir, ich weiß. Aber wenn du deine Mutter schon verloren hast und dein Vater im Sterben liegt, dann kannst du diese Person, von der du weißt, dass sie dich liebt, nicht einfach so gehen lassen. Weil du Angst davor hast, wieder allein zu sein.“ Er wischte sich die Tränen weg, ehe er weitersprach: „Weißt du, manchmal gehe ich zu ihm ins Zimmer und erzähle ihm von den Leuten im Dorf. Dann versucht er zu lächeln und mir geht es dann schon besser“, fuhr er fort. „Du tust mir leid“, sagte ich und schaute weg. Ich wollte nicht, dass er meine vielen Tränen sah, die ich für ihn vergoss. Doch er sah sie trotzdem. „Warum weinst du? Du musst nicht weinen. Ich möchte nicht, dass du weinst.“ Er schaute mir ins Gesicht. Schließlich schaute ich Aaron auch wieder an. Zärtlich wischte er mir eine Träne von der Wange.
„Aber warum blutet dein Vater so viel?“, fragte ich. „Das passierte in einer Schlacht mit dem König Achille. Erinnerst du dich?“ „Ja“, antwortete ich und hörte ihm weiter zu. „Achille schnitt ihm eine Wunde in den Arm, die seitdem blutet. Vor meiner Zeit verstanden sich Vater, meine Mutter und Achille sehr gut, doch dann gab es ein großes Missverständnis. Achille hatte zu dieser Zeit bereits eine Tochter, Anastasia. Sie war mir versprochen, obwohl ich noch nicht einmal auf der Welt war. Von irgendeinem Fremden hörte er dann, dass mein Vater nie seinen Sohn mit einer Tochter des Reiches von Achilles verheiraten würde. Schließlich plante Achille vor lauter Wut einen Angriff auf meine Mutter, weil sie das Wichtigste für meinen Vater war. Er ließ sich von einer Hexe im tiefen Norden sein Schwert scharf machen, schärfer, als es üblicherweise geht. Die Hexe, sie ist inzwischen gestorben, schaffte es, das Schwert so gefährlich zu machen, dass jede Wunde, die es einem Menschen zufügte, unheilbar war. Tja, Achille schaffte es, sich ins Schloss zu schleichen und meine Mutter abzufangen. Er hatte bereits sein Schwert gezückt und wollte sie töten, als sie laut schrie. Mein Vater war im Nebenzimmer, er ließ sie selten allein, und kam sofort gelaufen. Er warf sich vor sie und verhinderte so mit seinem Arm den tödlichen Schlag für mich und meine Mutter. Seitdem hassen Vater und Achille einander. Obwohl sich Achille entschuldigt hat, kann mein Vater es ihm nicht verzeihen, dass er meine Mutter umbringen wollte. Sie war sein Leben.“ Ich bekam eine Gänsehaut. „Schlimm“, sagte ich und schauderte. Aarons Tränen waren inzwischen getrocknet, seine Augen nicht mehr so rot. „Ich werde mich eines Tages dafür rächen. Ganz bestimmt. Seit diesem Vorfall foltert Achille Leute in seinem Schloss. Er verzieh sich diesen Vorfall nie“, erzählte Aaron weiter.
Ich sagte eine Weile nichts und dachte über seine -Worte nach. Ich hatte so viel erfahren. Seine Mutter, Achille und … Anastasia. Was hatte er gesagt, er sei ihr versprochen? „Aaron, du bist Anastasia versprochen? Wie kann das sein?“, fragte ich. „Ja und ich kann nichts ändern. Mein Vater möchte, obwohl er so einen Hass auf Achille hat, dass ich Anastasia heirate. Weißt du, wenn er einmal sein Wort gegeben hat, bricht er es nie. Auch wenn es noch so abartig ist. Aber ich möchte und kann sie nicht heiraten“, beantwortete er meine Frage. „Aber wenn du musst …“, fing ich an, doch Aaron unterbrach mich: „Ich weiß. Ich möchte Vater auch nicht enttäuschen. Doch warum soll ich eine Frau heiraten, die ich nicht liebe und deren Vater so grausam ist?“ „Wann müsst ihr heiraten?“ „Wenn der König zurücktritt, um seinem Nachkommen den Thron zu übergeben. Doch das ist bei uns sowieso anders …“ Er schaute zu Boden, dann stand er auf. „Was möchtest du jetzt tun?“, fragte er mich und ich zuckte die Achseln. Ich wusste, dass seine Geschichte zu Ende war. Ich würde nicht mehr erfahren. Zumindest nicht heute.
„Weißt du eigentlich, dass es hier auch einen Jungen deiner Rasse gibt?“ Deiner Rasse? War ich denn ein Hund? „Ich bin doch von keiner Rasse“, sagte ich und lächelte. „Natürlich nicht. Ich meinte, der ein Mensch ist“, erwiderte er und versuchte ebenfalls ein Lächeln. „Wie kannst du das unterscheiden?“, fragte ich ihn. „Na, das ist doch nicht schwer. Ihr Menschen habt einen goldenen Schein um euch, den man nicht übersehen kann.“ Ich stand auf und drehte mich um meine Achse. „Ich sehe aber nichts“, widersprach ich und Aaron antwortete: „Kannst du ja auch nicht. Das sehen nur wir, die Bewohner der Sternenwelt. Du bist eben anders. Anders als wir Sternenwesen.“ „Ah“, machte ich. Die Sternenwesen. Das hatte er auch noch nie erwähnt. „Erzähl mir von dem Jungen“, bat ich und sah Aaron an.
„Ich weiß selber nicht so viel über ihn. Er ist ungefähr zehn Jahre alt oder so. Aber er wird gefangen gehalten bei -Achille. Schon allein weil ich den kleinen Jungen retten möchte, werde ich eines Tages zu Achille gehen. Ich werde ihn -retten“, sagte Aaron und sah mich wieder mit seinem durchdringenden Blick an. „Warum ist der kleine Junge hier? Wie kommt er hierher? Auch mit einem Fernrohr so wie ich?“ Ich hatte so viele Fragen. „Oh nein. Er kam zu uns, weil es bei euch für ihn keine Rettung mehr gab. Er lag im Sterben. Doch seine Trauer war größer als das Verlangen nach dem Tod. Also kam er hierher. Er erschien, ebenso wie du, in der Wüste. Am gleichen Platz. Doch einer von Achilles Männern war zufällig dort und nahm ihn mit. Er wusste natürlich sofort, dass der Kleine etwas Besonderes war. Der goldene Schein, wie ich schon erwähnt habe. Er brachte ihn zu Achille. Nun ja, den Rest kannst du dir ja denken. Schnell sprach es sich im Dorf herum, dass Achille einen Wunderknaben gefunden hatte. Es drang auch zu uns durch. Doch im Dorf gab es einen Mann, der auch von der Erde kam. Mir fällt sein Name nicht mehr ein, aber er klärte Achille auf. Nachdem Achille dem Mann alle Antworten entlockt hatte, wollte er ihn umbringen. Aus welchem Grund auch immer. Doch der Mann war schneller. Er flüchtete sich zu dem Ort, wo auch du immer verschwindest und verließ diese Welt für immer. Deswegen weiß ich auch, warum du ein Mensch bist. Der Kleine hat nämlich den gleichen goldenen Schein um sich wie du“, erklärte Aaron stolz.
Ich dachte über Aarons Worte nach. „Wie ist der Mann hierhergekommen?“, fragte ich ihn. „Oh, das ist ja gerade das Komische an der ganzen Sache, Tara. Er kam mit dem gleichen Fernrohr wie du.“ Nachdenklich sah er in die Ferne. Nun war ich verwirrt. Hatte ich den Mann gekannt? Natürlich, mein Großvater hatte ihm damals das Fernrohr auf dem Flohmarkt abgekauft! „Ich kenne den Mann …“ Und ich erzählte Aaron die Geschichte. Aufmerksam hörte er zu. „Interessant. Also lebt er noch. Und hoffentlich ist er glücklich.“ Ich fuhr mit meinen vielen Fragen fort: „Sind wir denn die einzigen Menschen in der Sternenwelt?“ „Ja. Ihr habt als Einzige den Schein um euch.“ Ich nickte. Mein Kopf schwirrte von all den Informationen. „Willst du dich vielleicht ausruhen? Ich hab dir wirklich genug zugemutet“, fragte der junge Prinz mich. Ich bejahte und beschloss, mich für einige Zeit hinzulegen, um Kraft zu schöpfen.
Wir saßen beim Abendessen. Ich hatte mehrere Stunden geschlafen. Shania hatte mich aufgeweckt. Wieder trug ich eines der schönen Kleider. Aaron saß mir gegenüber. „Tara, du musst mir jetzt aber auch etwas über dich erzählen“, meinte er. Ich verschluckte mich und rang nach Luft. Bald hatte ich mich wieder beruhigt. „Nicht gleich so hastig“, neckte er mich. Er wusste ja nicht, was ich für eine Familie hatte. „Na gut.“ Ich seufzte. „Ich wohne bei meinen Großeltern. Sie sind, wie auch du letztens gesagt hast, anders. Sie hassen mich, weil ich überlebt habe und meine Eltern nicht.“ Aaron sah mich an. Er hatte es nicht ganz verstanden. Ich wollte meine Geschichte eigentlich kurz halten, doch dann sprach ich weiter. „Ja, meine Eltern sind bei einem Autounfall gestorben. Es war tragisch. Ich überlebte, wie gesagt, als Einzige. Meine Großeltern haben das nie verkraftet. Ich glaube, es wäre ihnen lieber gewesen, wenn meine Eltern überlebt hätten.“ Ich schluckte und wischte mir meine Tränen aus den Augen. Ich wollte nicht schon wieder weinen. „Das tut mir leid. Da haben wir ja beide fast das gleiche Schicksal, nicht!? Verzeih, Tara, dass ich dich das gefragt habe.“ Er reichte mir seine Hand über den Tisch und ich drückte sie. „Vergiss die Situation, zumindest wenn du bei mir bist. Ich möchte, dass du glücklich bist. Ich will bei dir nicht auch noch Leid sehen.“
Aaron war ein wunderbarer Mensch. Er konnte mich richtig aufbauen. Ich schaffte es sogar, ein Lächeln hinzubekommen. „Wie haben deine Eltern denn ausgesehen? Ich bin mir sicher, deine Mutter war genauso hübsch wie du, oder!?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, wie sie ausgesehen haben. Das Einzige, was mir von ihnen geblieben ist, ist der Teddybär meines Vaters.“ „Oh Tara. Ich sage jetzt wirklich nichts mehr“, versprach er und verschloss seinen Mund mit einem unsichtbaren Schlüssel. Ich musste lachen. Aaron musste doch reden, er konnte gar nicht anders. „Aber das hast du doch sicher alles schon gewusst, oder!? Ich meine, sonst weißt du ja auch alles über mich“, forschte ich und schaute ihn durchdringend an. „Ich wusste nichts über deine Eltern. Und außerdem weiß ich nicht alles über dich. Aber fast alles“, sagte er wahrheitsgemäß und damit war für mich das Thema abgehakt. „Tara, ich glaube, du musst bald wieder zurück nach Hause. Nicht dass ich dich hier nicht haben möchte, aber du musst wieder in die Schule. Auf der Erde ist es schon vier Uhr.“ Ich verzog das Gesicht. „Hab ich dir das noch gar nicht gesagt? Jeder Tag, den du hier verbringst, sind zwei Stunden auf der Erde.“ „Aha“, sagte ich und schlang mein Essen hinunter. Wenn es wirklich schon vier Uhr war, sollte ich doch noch ein bisschen schlafen, wenn ich heimkam.
Nach dem Essen brachte Aaron mich noch vor das Schlosstor. Silvester stand bereits da. „Verzeih mir, dass ich dich nicht mehr weiter begleiten kann, aber ich muss mich um Vater kümmern. Außerdem … nun ja, ist ja auch egal. Mach’s gut.“ Aaron hob noch die Hand. Ich winkte ebenfalls und dann setzte sich Silvester auch schon in Bewegung. Obwohl ich noch nicht nach Hause wollte, trabte das Pferd einfach los. Warum tat es auch nur so viel gegen meinen Willen?