Neues Leben
Vorsichtig öffnete ich die Augen. Mir schwirrte der Kopf. In der Luft lag der angenehme Duft von Rosen. „Guten Morgen, mein Engel“, sagte Aaron und langsam trudelten die Geschehnisse der letzten Nacht wieder ein. Ich war mit Aaron zusammen! Wir hatten uns geküsst. Und ich war mir sicher, dass ich gerade eben das glücklichste Mädchen der beiden Welten war.
„Guten Morgen“, sagte ich und drehte mein Gesicht zu seinem. Ich lag gut zugedeckt in seinen Armen. Er lächelte mich an, während ich mir die Haare aus dem Gesicht strich. Ich merkte, dass auch Aaron zugedeckt war. Doch er trug nicht sein T-Shirt, sondern ein Hemd. „Wie lange bist du schon wach?“, fragte ich noch ganz verschlafen. „Schon eine Weile“, flüsterte er mir ins Ohr und gab mir einen Kuss aufs Haar. „Ich habe mir erlaubt, dir etwas vom Mittag-essen mitzubringen.“ „Mittagessen!?“, rief ich schockiert. „Ja, du hast das Frühstück verpasst. Aber mache dir deswegen keine Gedanken. Ich habe jetzt bis zum Abend für dich Zeit. Du kannst also ruhig noch schlafen“, antwortete mein Prinz. „Nein“, sagte ich schnell. „Du siehst wahnsinnig attraktiv aus, wenn du träumst. Habe ich dir das schon einmal gesagt?“, fragte Aaron mit einem Lächeln in der Stimme. „Nein. Habe ich wieder geredet?“ „Und ob. Genau genommen hast du mir einen ganzen Roman erzählt.“ Ach -herrje! Ich seufzte. „Was war der Höhepunkt?“, fragte ich und schaute in das gottgleiche Gesicht. Aaron lachte. „Nun ja, du hast erwähnt, dass du mich liebst und dass …“ Er stoppte. „Ja?“ Vielleicht sollte ich doch nicht nachfragen. „Tja, dass ich der Mann deines Lebens bin.“ Ich schämte mich und lief rot an. „Dann weißt du es ja jetzt“, war das Einzige, was ich darauf sagen konnte. Mehr fiel mir nicht ein. Er küsste mir die Stirn. „Wie geht es dir nach der Nacht?“, fragte er mich. „Mir ist es nie besser gegangen. Ich fühle mich wunderbar“, sagte ich aufrichtig und drehte mich so, dass ich auf ihm liegen konnte. Wir sahen einander an. Aaron strich mir zärtlich über das Haar. „Das ist gut so. Mir geht es genauso“, gab er zu. „Hier, iss.“ Er hielt mir ein Marmeladenbrötchen hin und ich biss ab. „Ich glaube, wenn du mich immer fütterst, esse ich Achille noch alle Vorräte weg“, sagte ich kauend. Aaron lachte. „Das wäre gar nicht schlecht. Du bist sowieso zu dünn.“ Ich versuchte zu widersprechen, doch Aaron hielt mir die Hand vor den Mund. Den restlichen Nachmittag verbrachten wir damit, uns gegenseitig aufzuziehen. Aaron bat mich, ihm abermals auf dem Flügel vorzuspielen. Ich spielte Romance Larghetto von Chopin. Wieder hatte ich ihn zu Tränen gerührt.
„Das sieht perfekt aus“, sagte ich, als Aaron fertig angezogen vor mir stand. Es war Ballabend. „Sicher?“ „Hundertprozentig. Mir gefällt es“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Na gut. Dann gehe ich jetzt mal runter.“ Er seufzte. „Jetzt hab dich nicht so. So schlimm kann es gar nicht sein“, versuchte ich ihn zu motivieren. Aaron stand bereits an der Tür. Er trug einen eleganten Smoking, der wirklich perfekt zu seinem pechschwarzen Haar passte. „Tara, ich habe wirklich keine Lust.“ Dieses Thema hatten wir bereits vor einer Viertelstunde gehabt. Er wollte einfach nicht gehen. „Du kannst es dir aber nicht aussuchen“, sagte ich belustigt und schob ihn zu Tür hinaus. „Was ist denn so schlimm daran, dort hinunterzugehen?“ Ich verstand sein Problem wirklich nicht. Ich wäre froh, einmal aus dem Zimmer herauszukommen. „Da kommst du vermutlich nie drauf …“ Nun seufzte ich. Das Problem war natürlich Anastasia. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Abschiedskuss zu geben. „Du schaffst das schon“, sagte ich und küsste ihn. Aaron wurde sehr leidenschaftlich und schlang seine Arme um meinen Hals. „Aaron, das ist kein Grund, damit du nicht gehen musst.“ Ich hatte ihn durchschaut. „Doch“, sagte er unter sämtlichen Küssen. Ich konnte mich nicht aus seiner Umarmung befreien, aber vielleicht wollte ich das auch gar nicht. „Du verheimlichst mir was“, folgerte ich. „Warum?“ „Weil du sonst überall hingehst, ohne so herumzutrödeln.“ „Ich trödele doch nicht“, gab er zurück. „Überhaupt nicht“, sprach ich scherzhaft.
Dann klopfte es. „Prinz Aaron, wir sollten nun hinuntergehen“, sagte Basko. „Hast du gehört? Geh“, versuchte ich aufmunternd zu sagen, obwohl es mir sehr schwer fiel. „Ja, ich komme schon“, rief Aaron etwas lauter, sodass Basko es auch mitbekam. „Mach’s gut und verwirre Anastasia nicht zu viel.“ Ich lächelte ihn an. „Tschau“, sagte er und zwinkerte mir zu. Aaron verließ das Zimmer und ich hörte Basko vor der Tür über sein Zuspätkommen meckern. „Was hat du dir dabei nur gedacht? Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie unhöflich das deinem zukünftigen Schwiegervater gegenüber ist. Was musstest du denn noch unbedingt erledigen?“ „Etwas sehr Wichtiges“, antwortete Aaron und lachte. Ich war mir sicher, dass Basko wusste, was er gemeint hatte, denn er schwieg.
Schließlich setzte ich mich aufs Bett und döste ein bisschen ein. Einige Zeit später wurde ich jedoch durch das laute Geschrei von unten wach. Ich beschloss, Shania zu besuchen. Ich musste ihr unbedingt von Aaron und mir erzählen. Geschwind zog ich meinen Umhang über und lief aus dem Zimmer. Basko hatte mir gesagt, wo Shania schlief. Ihr Zimmer war nur wenige Türen von unserem entfernt. Ich klopfte vorsichtig. Keine Reaktion. Ich wiederholte es. Aber es kam wieder keine Antwort. War Shania etwa beim Ball? Nein, das konnte nicht sein. Es durften doch nur Könige anwesend sein. Ich schüttelte den Kopf. Komisch. Wo trieb sie sich nur rum? Warum hatte Aaron nicht befohlen, dass sie bei mir blieb? Kopfschüttelnd ging ich zurück in unser Zimmer und sah unschlüssig die Vorhänge an. Es ergab alles keinen Sinn. Ich seufzte tief. Dann würde ich also auf Aaron warten. Egal, wie lange der Ball dauern würde. Meinetwegen auch bis morgen früh. Hoffentlich schlief ich nur nicht ein.
Plötzlich hörte ich Aarons Stimme. Sie kam von unten. Es gab nur eine Möglichkeit, um ihn zu sehen: Ich musste zum Balkon hinausgehen. Sicher stand er auf der Terrasse. Vielleicht konnte ich ja herunterrufen und kurz mit ihm reden. Schnell zog ich mir wieder meinen Umhang über und machte die Balkontür auf. Kalte Nachtluft schlug mir entgegen und ich bekam eine Gänsehaut. Warum musste es auch schon so kalt sein? Ich ging bis zum Geländer vor. Doch als ich hinunterschaute, bereute ich meine Entscheidung, auf den Balkon gegangen zu sein … Wut stieg in mir hoch und wurde von Sekunde zu Sekunde heftiger. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie bis zu seiner Rückkehr zügeln konnte.
 
 
Ich stand vor dem Bett, als Aaron hereinkam. „Du bist ja noch wach, mein Engel“, sagte er zur Begrüßung. Ich drehte mich nicht um. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie er seine Smokingjacke ablegte und auf den Stuhl warf. „Bist du denn gar nicht müde?“, fragte Aaron. Ich merkte, dass er hinter mir stand. Ich spürte den Rosenduft. Dann berührten seine Lippen meine Wange. „Offensichtlich nicht“, sagte ich schroff, drehte mich allerdings immer noch nicht um. „Ich habe dich vermisst“, versuchte es Aaron ein weiteres Mal. Keine Reaktion von mir. „Tara, ist alles in Ordnung?“ Nun drehte ich mich ruckartig um, sodass mein Haar ihm ins Gesicht flog und er sich über die Augen strich. „Das fragst du noch?!“ Ich war wirklich nicht höflich. Er -schaute mich verständnislos an. „Setz dich doch.“ Ich schüttelte den Kopf. „Was ist passiert?“, fragte er. „Was glaubst du denn?“, fuhr ich ihn an „Ich habe wirklich keine Ahnung.“ „Aber ich“, schrie ich und bohrte ihm meinen Finger in die Brust. Aaron verzog vor Schmerz das Gesicht. „Dann sag es mir doch bitte“, bat er mich. „Tu nicht so unschuldig. Du weißt ganz genau, um was es geht.“ Ich drehte mich von ihm weg. Ich wollte nicht, dass er meine Tränen sah. Schon so lange hatte ich sie zurückgehalten. Jetzt ging es nicht mehr. Tränen des Zornes und des Verletztseins liefen mir die Wangen herunter. Er legte seine Arme um meinen Bauch. „Fass mich bloß nicht an!“, schrie ich und befreite mich aus seiner Umarmung. Ich versuchte das Schluchzen zu unterdrücken. „Tara, es wäre wirklich nett, wenn du mir dein Problem schildern würdest.“ Nun wurde auch Aaron unhöflich. Merkte er denn nicht, was los war? „Du hast sie geküsst! Du hast Anastasia geküsst! Ich habe es gesehen!“, schrie ich. Es war mir egal, wie viele Leute nun mithörten. Aaron hatte mich betrogen! Er hatte eine andere geküsst! Einfach so. Nie wieder durfte er sagen, dass er mich -liebte. Ich würde es ihm nicht glauben. Ich glaubte ihm gar nichts mehr. „Tara, hör mir zu …“, fing er an, doch ich unterbrach ihn: „Ich höre dir nie wieder zu. Hörst du, nie wieder! Ich schlafe heute Nacht bei Shania. Ich brauche keine Erklärung!“ Ich war schon dabei, meine Sachen in einen Koffer zu räumen, als Aaron sanft, aber entschlossen meine Hand festhielt. „Du kannst mich nicht aufhalten“, sagte ich. „Das habe ich auch gar nicht vor. Aber wenn du nicht hören willst, was ich dir zu sagen habe.“ „Nein, möchte ich nicht. Wenn du mir erklären willst, dass du Anastasia liebst. Nein, danke. Das weiß ich ja jetzt bereits. Aber versuch nie wieder mich anzulügen, Prinz. Und ich dachte wirklich, dass du mich liebst. Aber es kam mir schon immer so unrealistisch vor.“ Ich schleuderte ihm meine Worte nur so entgegen. „Das ist es nicht, komm.“ Er zerrte mich zum Bett und wollte mich auf seinen Schoß setzen, doch ich wehrte mich. „Ganz -sicher nicht.“ Ich kochte immer noch vor Wut und vielleicht vor … vor Eifersucht. Immer mehr Tränen liefen über mein Gesicht. Aaron hielt mir ein Taschentuch hin, aber ich lehnte ab. „Ich wollte nicht, dass du das siehst …“, fing er an. „Das kann ich mir sehr gut vorstellen“, unterbrach ich ihn. „Bitte hör mir zu, Tara. Ich liebe Anastasia nicht. Ich liebe nur dich.“ „Natürlich, das sagt ihr doch alle! Lass mich einfach in Ruhe und gehe mir aus dem Weg, wenn du mich glücklich machen willst! Das ist mein einziger Wunsch!“ Ich stand auf und packte die restlichen Kleider in den Koffer. „Tara! Ich habe Anastasia nicht geküsst, weil ich wollte, sondern weil ich musste.
Diese Worte ließen mich aufhorchen. Ich schmiss das letzte Kleid in den Koffer und setzte mich wieder neben Aaron. „Du musstest?“ Ich ließ das letzte Wort wie ein Schimpfwort klingen. „Ja, ich musste. Ich tat es für deinen Bruder und für … dich.“ „Für mich!? Man küsst eine andere, damit man es der eigentlichen Freundin leichter macht. Vollkommen logisch, Prinz.“ Die Wut wollte nicht weichen. Aaron atmete tief durch. „Verstehst du nicht, warum? Ich musste Anastasia küssen, damit sie glaubt, dass ich sie liebe. Ich küsste sie, um an deinen Bruder ranzukommen. Und ich habe es geschafft. Anastasia hat mir das Schloss gezeigt. Inklusive der Käfige der Gefangenen.“
Ich kam mir so blöd vor. So unsagbar dumm. Ich -wusste nicht, was ich sagen sollte, und hörte ihm weiter zu. „Ich würde Anastasia nie küssen. Nicht einmal im Traum. Glaubst du etwa wirklich, dass ich dich betrügen würde? Dich, die Frau meines Lebens? Die Frau, die ich immer lieben werde? Tara, ich würde mein Leben für dich geben.“ Jetzt flossen die Tränen noch reichlicher. Ich schluchzte und schämte mich. Ich schämte mich so sehr. Ich hatte Aaron zu Unrecht verurteilt. Ich hatte ihn umsonst angeschrien. „Es … es … tut … mir leid“, brachte ich noch heraus, bevor ich zusammenklappte. Aaron fing mich auf und nahm mich auf seinen Schoß. „Das ist schon in Ordnung. Wie, glaubst du, hätte ich reagiert, wenn du Mischa aus einem Grund küssen würdest, den ich nicht kennen würde? Ich hätte ebenso gehandelt. Warum, glaubst du, wollte ich heute nicht zu dem Ball gehen? Ich wollte Anastasia nicht küssen. Ich habe mich so geschämt, als ich es tat. Nein, ich habe mich schon geschämt, als ich mit ihr auf die Terrasse ging. Ich ekle mich vor mir selbst, Tara. Ich ekle mich, weil ich eine andere Frau geküsst habe, obwohl ich dich so liebe. Ich würde … ich würde mich am liebsten …“ Aaron verstummte und strich mir über das Haar. Ich setzte mich ruckartig auf. „Nein, sag so etwas nicht! So was darfst du nicht einmal denken!“, sagte ich und hielt seine Hand fest. „Du weißt nicht, wie ich mich fühle“, antwortete er leise. „Nein, aber ich wünsche mir für dich, dass du es vergisst. Dass du daran nicht mehr erinnert wirst.“
In dieser Nacht schlief ich sehr unruhig. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, bis ich endlich beschloss aufzustehen. Ich sah zu Aarons Seite, aber er war nicht da. Wo war er hingegangen? Ich hatte ihm doch erklärt, dass er das Geschehene vergessen solle. Ich hatte Angst um ihn. Große Angst. Schnell zog ich mir meinen Umhang über und ging zur Tür.
Ich wollte sie schon öffnen, als ich draußen leise Stimmen reden hörte. „Das kannst du nicht machen! Es wird funktionieren! Es gibt keinen besseren Plan. Schlag dir diesen Gedanken sofort aus dem Kopf. Er ist völlig sinnlos“, sagte die eine. „Glaubst du, ich möchte sehen, wie Achille dich umbringt? Glaubst du, ich möchte sie unglücklich sehen?“, antwortete die andere. „Ich werde nicht sterben. Ich bin viel stärker als Achille. Es wird mir gelingen, es gibt gar keinen Grund, das zu tun, Mischa. Du bist doch völlig verrückt geworden!“ Aaron hörte sich verzweifelt an. Hatten die beiden etwa doch Freundschaft geschlossen? Aber über was redeten sie da? Was wollte Mischa tun? „Sei ehrlich, Aaron. Stell dir vor, du wärst an meiner Stelle und du selbst lebtest nicht mehr. Könntest du zusehen, wie sie langsam zerbricht? Du hast keine Chance gegen Achille. Ich kenne ihn so viel besser. Er wird, wenn es zum Kampf kommen sollte, alles versuchen, dich umzubringen. Er schreckt vor nichts zurück.“ „Nein, er wird mich nicht umbringen. Er wird den Willen Anastasias respektieren. Achille würde ihr nicht wehtun. Anastasia liebt mich. Glaubst du wirklich, dass Achille ihr das antun würde, Mischa?“, widersprach Aaron heftig. Stritten die beiden etwa? „Ja, Aaron, er würde es. Achille versteht nichts von Liebe. Ihm geht es nur um Macht. Wenn er einmal die Chance hat, dich umzubringen, wird er sie nützen.“ Aaron atmete tief durch. „Und warum tust du das? Glaubst du, sie wird danach glücklicher sein?“, fragte mein Prinz. „Das weiß ich nicht. Aber sie wird glücklicher sein, wenn du noch da bist.“ „So ein Unsinn! Sie liebt dich genauso, Mischa.“ Aarons Stimme klang hart. „Aber nicht so sehr wie dich. Und genau aus diesem Grund werde ich ihr nicht wehtun. Ich werde nicht zulassen, dass sie traurig ist. Dafür hat sie schon zu viel erlebt“, sagte -Mischa leise. Ich schüttelte nur den Kopf. Die Worte der beiden Männer ergaben einfach keinen Sinn. Wer sollte nicht mehr traurig sein? Was planten die beiden da? Von was war Aaron nicht überzeugt? Ich hatte zu viele Fragen. Doch ich würde sie dem Prinzen nicht stellen. Ich würde ihm nicht sagen, dass ich das Gespräch belauscht hatte. Ich wollte ihm nicht noch mehr Sorgen bereiten.
 
 
Alles war besprochen. Heute Nacht würde es passieren. Wir würden meinen Bruder Cedric retten. Mischa, Aaron, -Basko, Shania, Sancho und ich hatten lange darüber diskutiert. Und jetzt stand unser Plan fest. Wir hatten einen Entschluss gefasst.
„Ich freue mich ja schon so auf Cedric“, sagte ich, als die anderen aus dem Zimmer waren. „Schön für dich“, antwortete Aaron schlicht und versuchte zu lächeln. Schon den ganzen Tag über war er nervös gewesen. Ich machte mir allmählich Sorgen um ihn. „Aaron, was hast du nur? Unser Plan ist perfekt“, sagte ich. „Sicher“, antwortete er kurz. „Ich habe Angst um dich. Ich will dich nicht verlieren.“ „Das wirst du nicht“, erwiderte er. Heute wäre seine Verlobung gewesen. Hätte er Anastasia geheiratet, wenn er mich nicht gekannt hätte? Ich wusste es nicht und wollte die Antwort auch nicht wissen. „Es kann doch nichts schief gehen, oder?“ „Ich hoffe nicht. Der Kampf gegen Achille zum Schluss wird leichter werden, als du glaubst. Wenn ich wirklich zu verlieren drohe, braucht ihm Basko nur seine Narben zeigen und Achille wird zurückschrecken. Dann haben wir gewonnen. Es wird alles gut“, sagte mein Prinz. „Was sorgt dich dann? Ich kenne dich, Aaron. Mir brauchst du nichts vorzumachen. Was ist los?“, fragte ich meinen Geliebten. „Das werde ich dir erklären, wenn es so weit ist. Ich kann es jetzt noch nicht“, antwortete er. Hatte es vielleicht irgendetwas mit dem gestrigen Gespräch zu tun? Aber da hatte Aaron verärgert geklungen und nicht so nervös. „Das ist in Ordnung. Aber versprich mir, dass du heute nicht ein Mal dein Leben aufs Spiel setzt. Hörst du? Nicht ein Mal! Ich kann nicht mehr ohne dich leben.“ Darauf sagte er nichts. „Bitte, Aaron!“ Ich sah ihn flehend an und drückte fest seine Hand. Und dann antwortete er doch: „Ich verspreche es.“ Vielleicht war es Glück, dass ich in diesem Moment nicht seine verschränkten Finger hinter dem Rücken sah.
„Ist alles bereit? Sind Basko und Mischa an ihren Plätzen?“, fragte mich Aaron aufgeregt, als ich, fest eingepackt in meinen Umhang, ihm gegenüberstand. „Ich denke schon.“ Die Frage hatte ich nun schon mindestens fünf Mal gehört. Es waren nur noch drei Stunden bis zur Verlobung. Unser Plan würde gleich beginnen. Alles war bereit. Ich würde gemeinsam mit Aaron und Mischa hinunter in die Kerker laufen und dort Cedric befreien. Achille hatte heute zum Glück allen Wachen zum Fest des Tages freigegeben. Trotzdem war ich mir sicher, dass wir dort unten auf Tarek treffen würden. Anastasia war zu dieser Zeit in ihrem Zimmer und würde sich für die Verlobung herrichten. Das Problem war Achille. Wie würden wir an ihm vorbeikommen? Was das betraf, mussten wir wirklich vorsichtig sein. Und was war mit Nathalia? Shania war sich sicher, dass sie in der Zeit bei ihrer Tochter sein würde. Sollten wir es schaffen, meinen Bruder zu retten, dann würden wir sofort fliehen. Doch spätestens bei der Flucht würde Achille uns bemerken und es würde zum Kampf kommen. Zum Kampf auf Leben und Tod.
Ich hatte solche Angst. Würde Aaron es schaffen, gegen den großen Achille anzukommen? Ich wusste es nicht. Das Einzige, was ich wusste, war, dass meine Angst von Minute zu Minute größer wurde. Oh nein, nicht von Minute zu Minuten, sondern von Sekunde zu Sekunde. Jeder Kuss, den mir Aaron gab, konnte der letzte sein, jede Umarmung, jede Berührung sich nicht wiederholen. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Ich fror und begann zu zittern. „Ich habe solche Angst, Aaron. Es ist so schlimm zu wissen, dass … dass du …“ „Schhh“, machte mein Prinz, „mir wird nichts passieren. Ich passe auf mich und dich auf. Ich liebe dich so sehr, Tara, warum sollte ich dann nicht acht auf mich geben!? Alles wird gut, du wirst sehen.“ Als er das sagte, sah er mich nicht an. Er schaute in eine andere Ecke des Zimmers. „Bitte, Aaron.“ Mir liefen die Tränen herunter. Er wischte sie mir weg und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Dir wird nichts geschehen.“ „Aber um mich ist es doch egal. Du musst auf dich aufpassen!“, schrie ich. Er schüttelte den Kopf und strich mir über die Kapuze. Ich hatte meinen Schleier noch nicht übergezogen. „Tara, sag so etwas nicht. Ich werde alles tun, damit es dir gut geht. Und damit wir Cedric retten. Ich habe es dir versprochen, erinnerst du dich noch!?“ Ich nickte. „Aaron, wenn dir etwas geschieht, möchte ich nicht weiterleben. Ich werde mich umbringen, falls es so sein sollte.“ Er starrte mich großen Augen an. „Wenn mir etwas geschieht, wirst du Cedric nehmen und mit ihm verschwinden. Versprich mir das!“ „Das kann ich nicht“, sagte ich unter Tränen. „Versprich es!“, wiederholte er. Es war eine Mischung aus Nicken und Kopfschütteln, als ich antwortete. „Dann ist ja gut“, sagte er. Er hatte meine Antwort als Nicken interpretiert. Oder vielleicht hatte er es auch nur so gewollt. „Wenn wir heute Cedric retten, denke nur an ihn. Denke an nichts anderes! Hörst du, an nichts!“ Ich nickte wieder und vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Doch dann hörte ich ein Klopfen an der Tür und wusste, dass es losging.
Der größte Kampf in der Geschichte der Sternenwelt war in diesem Moment entbrannt. Es gab kein Zurück mehr, nur noch das Hier und Jetzt, Überleben oder Sterben. Die Tür ging auf und Mischa starrte uns an. „Hallo Mischa“, sagte ich und stotterte leicht. Er versuchte zu lächeln, was ihm misslang. „Hallo, es ist so weit. Wir können los.“ -Mischa sah sehr müde und erschöpft aus, fast als litte er an einer schlimmen Krankheit. Doch es war keine Krankheit. Auch bei ihm war es die Angst. „Komm.“ Aaron nahm mich bei der Hand, zog mir die Kapuze und den Schleier über und ging mit mir aus der Tür.
Den Gang beleuchteten unzählige Kerzen. Niemand war zu sehen. Es verhielt sich alles so, wie Mischa es uns geschildert hatte. Wie froh ich war, ihn zu haben. Mit schnellen Schritten rannten wir den Gang entlang. Von der Halle her drangen Musik und viele Stimmen zu uns. Offenbar feierten die Gäste schon. Aaron hatte mir erzählt, dass Achille zahlreiche Könige mit ihren Familien zur Feier des Tages eingeladen hatte. Zu einer Feier, die nicht stattfinden würde.
Ich drückte Aarons Hand fester, als Mischa plötzlich stehen blieb. Er stand am Ende des Ganges und hatte sich gegen eine Wand gelehnt. Das Stück Wand ging auf und Mischa schlüpft hinein. „Schnell! So können wir die Halle umgehen“, sagte er und Aaron und ich taten, was er uns gesagt hatte. Mischa lief vor uns eine lange Wendeltreppe hinunter. Hier war nichts beleuchtet. Ich schloss daraus, dass es ein Geheimgang sein musste. Einmal wäre ich fast hingefallen, wenn Aaron mich nicht aufgefangen hätte. „Vorsicht, mein Engel“, hatte er gesagt und mir über die Wange gestreichelt. Mischa hatte weggesehen.
Ich wusste nicht, wie lange wir die Treppe hinunterliefen, doch plötzlich blieben wir stehen. Ich sah den Umriss einer großen Tür. Mischa öffnete sie ächzend und machte eine Handbewegung, dass wir hineingehen sollten. Ein Geruch von alten Knochen, Spucke und Staub drang mir in die Nase. Ich würgte und Aaron hielt mir die Hand vor den Mund. „Es ist alles in Ordnung. Atme durch den Mund, Tara.“ Ich tat es. Bald ging es mir besser. Übelkeit war das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte. Ich sah mich in dem Raum um. Ich konnte es kaum glauben, als ich sämtliche Käfige sah. Wir waren bei den Gefangenen angekommen. Gänsehaut kroch mir den Rücken hinauf und ich begann wieder zu zittern. Aaron bemerkte meine Reaktion auf den Raum und presste unsere Hände gegen seine Brust. Es war ein beruhigendes Gefühl, seinen Herzschlag zu spüren.
Mischa ging weiter. Wir marschierten an unzähligen Käfigen vorbei. Erschreckenderweise erkannte ich, obwohl es dunkel war, dass nirgendwo auch nur eine Person drinnen war. „Mischa, bist du dir sicher …“, fing ich an, doch Aaron versetzte mir einen sanften Stoß in die Rippen, sodass ich zusammenzuckte. Ich musste also leise sein. Der Geruch war noch immer unerträglich. Ich begann, mit meiner freien Hand langsam meinen Bauch zu massieren. Die armen Gefangenen! Wie konnte man es nur bei einem solchen Gestank aushalten!? Alles war still. Nur unsere Schritte waren zu hören. Ich hatte Angst. Panische Angst. Was würde passieren, wenn plötzlich Tarek oder Achille vor uns standen? Was würde ich tun? Ich konnte nicht kämpfen. Ich konnte gar nichts. Ich konnte nur zusehen und abwarten, was geschah. Wieder erschauerte ich. Ich war wie ein Klotz am Bein.
Mischa ging mit sicheren Schritten voran. Kannte er den Weg so gut? Ich wollte gar nicht wissen, wie oft er schon hier unten gewesen war. Ich trat auf irgendetwas und es knackte. Ich versuchte mir vorzustellen, dass es ein Stein wäre, doch ich wusste ganz genau, dass ich gerade auf einen Knochen getreten war. Ich unterdrückte ein Würgen. Schließlich standen wir vor einer weiteren Tür. Sie war aus Eisen und sah sehr schwer aus. „Ich bräuchte kurz deine Hilfe, Aaron“, flüsterte Mischa und Aaron unterstützte ihn. Gemeinsam schafften sie es, die Türe zu öffnen. Wieder wehte mir der gleiche Geruch entgegen, nur etwas intensiver. Ich dachte an Aaron und unser Treffen am Meer. Das lenkte mich etwas ab. Auch hier gab es Käfige. Meine Augen hatten sich mittlerweile gut an die Dunkelheit gewöhnt. Ich schloss sie und ließ mich von meinem Prinzen ziehen.
„Wo wollt ihr denn hin?“, ertönte es plötzlich hinter uns. Mein Herz begann zu rasen. Schweiß rann mir den Rücken hinunter und die Gänsehaut, die sich überall an meinem Körper gebildet hatte, breitete sich aus. „Sieh an, sieh an. Der kleine, unscheinbare Mischa führt jemanden aus dem Schloss. Was soll das denn werden?“, kam es von der Person. Plötzlich wurde es hell und ich sah in mehrere Gesichter. Vor uns standen drei Männer, alle mit Schwertern bewaffnet. „Juri, was machst du denn hier!? Hat dir Achille nicht freigegeben? Das tut mir leid“, sagte Mischa. „Provoziere mich nicht, Mischa. Das würde dir nur leidtun. Aber sag, wo willst du mit den zweien hin?“
Der Mann, der Juri hieß, starrte Aaron und mich an. Er trug keinen Bart und hatte kurzes, brünettes Haar. Auf seinem Gesicht zeichneten sich keine Narben ab. Wie auch, wenn Achille so etwas nicht sehen konnte. „Nein! Was tust du hier, Prinz“, sagte Juri und schaute Aaron mit großen Augen an. „Eine Erkundungstour durch das Schloss. Was dachtest du denn!?“ Und mit diesen Worten zog Aaron sein Schwert aus der Scheide. Die anderen taten es ihm nach. Auch Mischa. Ich ging einige Schritte zurück. „Verschwinde, Tara“, rief mein Prinz mir zu. Ich war mir sicher, dass bald für irgendjemanden das Leben zu Ende war. „So, so. Das Schloss anschauen, ja. Aber dafür müsst ihr erst an uns vorbeikommen“, schrie Juri und stürzte sich auf Aaron. Mein Prinz wich elegant aus und tänzelte mit Juri im Kreis. Ich wandte meinen Blick ab und starrte Mischa an. Er kämpfte mit den anderen beiden. Schon vom Hinschauen wurde mir schwindlig. Ich lehnte mich an die Wand, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Ich hatte Angst. Noch schlimmer als vorher. Was würde nun passieren? Wer würde sein Leben lassen? Und wer würde überleben?
Ich sah zu Aaron. Er hatte Juri an die Wand gedrängt. Mischa hatte bereits einen seiner Gegner erledigt. Er lag mit dem Gesicht zur anderen Wand, sodass ich ihn nicht sehen konnte. „Was ist jetzt, Juri? Hast du wirklich geglaubt, du würdest einen Prinzen besiegen!? Du Egoist!“, sagte Aaron ruhig und bohrte Juri die Schwertspitze in die Brust. Das war zu viel für mich und meine Magennerven. Ich drehte mich um und übergab mich auf den Boden. Ich würgte und spuckte mein gesamtes Frühstück aus. Ich hatte noch nie Blut sehen können. Immer wenn der Arzt mir Blut abgenommen hatte, war ich zusammengeklappt. „Tara, alles ist gut. Wir haben sie besiegt“, hörte ich Aaron und merkte, dass er mir zärtlich die Hände um den Bauch gelegt hatte. Bei seinen Worten würgte ich wieder. Er streichelte -meinen Bauch und hielt mir die Stirn. „Mischa, bitte, hättest du mal ein Stück Stoff?“, fragte Aaron. Mischa drückte mir eins in die Hand und ich wischte mir den Mund ab. Vorsichtig richtete ich mich auf. „Alles wieder in Ordnung?“, fragte mich Mischa und sah mich mitleidig an. Ich nickte und atmete tief durch. Ich sah nicht mehr zurück zu Juri oder zu einem der anderen.
Aaron stützte mich, da ich etwas wackelig auf den Beinen war. Mischa hatte eine Fackel in der Hand. „Wir sollten jetzt weitergehen. Ich denke, dass der Weg jetzt frei sein wird. Juri war einer der stärksten Kämpfer von Achille. Er wird nicht noch jemanden hier unten haben“, sagte Mischa und ging schon weiter. Ich wollte mich am liebsten hinlegen und schlafen. Doch das ging jetzt nicht. Ich musste meinen Bruder retten. Ich wollte Cedric endlich in den Arm nehmen und ihn küssen. So, wie eine Schwester ihren Bruder küsste. „Ist dir schon besser?“, flüsterte mir Aaron zu. „Es geht schon“, antwortete ich und suchte seine Hand. Sie war ganz warm. Aaron nahm meine und drückte einen Kuss darauf. „Bald ist alles gut“, sagte er zuversichtlich und lief weiter.
Ich sah wieder in die Käfige. Ich konnte es kaum glauben, als ich entdeckte, dass dort Menschen drin waren. Sie trugen alte, zerfetzte Kleider und starrten uns an, als wir an ihnen vorbeiliefen. Ich wollte ihnen etwas zurufen, aber ich war zu schwach. Schon in die vielen traurigen Augen zu schauen, kostete mich viel Überwindung. „Aaron, sieh nur“, sagte ich zu meinem Prinzen und er schaute mich entschuldigend an. Auch ihm tat es weh, die vielen Menschen zu sehen, das wusste ich. Aber wir konnten sie nicht retten. Wir mussten so schnell wie möglich meinen Bruder finden und dann von hier verschwinden. Mir zerriss es fast das Herz, als ich mir vorstellte, wie lange die Menschen hier noch bleiben mussten. Vielleicht für immer. Tränen rollten mir über die Wangen. Ich wischte sie schnell weg. Ich wollte nicht, dass Aaron oder Mischa sie sahen.
„Wir sind gleich da“, informierte uns Mischa und mein Herz begann schneller zu klopfen. Ich schwitzte und drückte Aarons Hand fester. Wieder kamen wir zu einer Tür. Ich war mir sicher, dass es die letzte war. Mischa blieb stehen. „Bist du bereit?“, fragte er mich und ich nickte. Ich hatte meinen Schleier bereits abgenommen. Aaron lächelte mich aufmunternd an. Ich wusste, dass er sich für mich freute. Ich spürte es. Mischa drehte sich um. „Jetzt sind wir dort, wo du immer hinwolltest, mein Engel. Jetzt sind wir am Ziel all deiner Träume“, sagte Aaron. Dann öffnete Mischa die Tür. „Na dann mal los“, lächelte er mir zu. Wieder drang mir ein beißender Geruch in die Nase. Schweiß und vor allen Dingen Trauer lagen in der Luft. Der Raum war sehr klein. Es gab keine Fenster. Der Boden lag voller Dreck und an den Wänden hatte sich Schimmel gebildet. Es war genau so wie in meinen Albträumen. Und dann sah ich ihn. Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben meinen kleinen Bruder. Cedric.
Ich wollte zu ihm hinlaufen, doch ich klappte zusammen. Aaron fing mich auf und stützte mich. Cedric hob seinen Kopf, als wir näher traten. Er hatte die gleichen Augen wie ich. In ihnen lag so viel Traurigkeit, doch als er mich sah, blitzte es in ihnen auf. Er hatte mich erkannt! Ich hielt mir die Hände vor den Mund. Da war er, mein Bruder. Mein Bruder, den ich so sehr liebte, obwohl ich ihn erst kurz kannte. Tränen der Freude liefen mir über die Wangen, als ich mich zu ihm hinunterbeugte. „Tara“, sagte Cedric und ich schlang meine Arme um ihn. Es war mir egal, wie er roch. Ich wollte ihn nur fest bei mir haben. Ich küsste sein Gesicht und sein Haar. „Cedric! Du bist es wirklich!“, rief ich voller Freude und drückte ihn wieder. „Meine Schwester. Ich habe gewusst, dass du kommst. Ich habe es gewusst“, sagte Cedric und lachte. „Ich liebe dich, mein Bruder.“ Ich nahm sein Gesicht in die Hände. „Ich habe dich vermisst“, antwortete er. Noch immer weinte ich. Doch auch Cedric rannen die Tränen die Wangen hinunter. Sie tropften auf meinen Umhang. „Ich kann es … kaum glauben“, brachte ich heraus, bevor ich wieder schluchzte.
Das erste Mal in meinem Leben weinte ich aus Erleichterung. Wie lange hatte ich auf diesen Moment gewartet? Monate? Jahre? Ein Jahrzehnt? Und nun hatte ich meinen Bruder in den Armen! Er gehörte nur mir. Es war das schönste Gefühl, das man haben konnte. Endlich hatte ich ihn gefunden. Ich ließ Cedrics Gesicht los und küsste ihn auf beide Wangen. „Du bist wunderschön“, sagte Cedric, als ich ihn wieder umarmte. Ich lächelte. Am liebsten hätte ich die ganze Welt umarmt. Dann trat Aaron neben mich. „Hallo Cedric. Endlich lerne ich dich kennen“, sagte er und streichelte meinem Bruder übers Haar. „Prinz Aaron. Du hast veranlasst, dass ich gerettet wurde. Ich danke dir“, sagte Cedric und lächelte. Nun kam auch Mischa dazu. -Cedric sah ihn an: „Auch dir danke ich, Mischa“, und dieser zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Das Lächeln, das ich so sehr an ihm liebte.
„Jetzt sollten wir dich aber mal befreien“, drängte er. Ich hatte ganz die Fesseln an Cedrics Armen und Füßen vergessen. Mischa machte sich an die Arbeit. Ich erhob mich und Aaron packte mich am Arm. Sicher hatte er Angst, dass ich wieder zusammenklappen würde. Cedric sah uns mit großen Augen an. Was er wohl dachte? Hoffentlich hatte er nicht gemerkt, dass zwischen Aaron und mir etwas war. Ich wollte nicht, dass er es schon bemerkte. Ich war so glücklich. Nie wieder würde ich meinen Bruder hergeben! Ich liebte ihn. Aaron lächelte mich an. „Jetzt hast du ihn wieder, deinen Bruder“, sagte er und ich merkte, dass in seinen Worten Trauer mitschwang. Ich wollte ihn darauf jetzt aber nicht ansprechen.
Endlich hatte Mischa es geschafft, die Fesseln zu öffnen. Mein Bruder stand auf und kam mir in die Arme gelaufen. Er war etwas wackelig auf den Beinen. Ich drückte ihn fest an mich und strich ihm über das pechschwarze Haar, das auch ich hatte. „Hier, nimm das, Cedric“, sagte Mischa und hielt ihm seinen Umhang entgegen. „Danke“, antwortete mein Bruder. Mischa nickte nur und wandte sich schon wieder zum Gehen. Er wollte offensichtlich so schnell wie möglich hier heraus. „Komm“, sagte ich zu meinem Bruder und hielt ihm meine Hand hin, die er schnell ergriff. Aaron ging hinter mir. Ich drehte mich zu ihm um und blieb stehen. Cedric tat es mir nach, obwohl auch er es eilig hatte, seinen Kerker zu verlassen. Ich verstand ihn sehr gut. Aaron sah mich lächelnd an und ich merkte, dass auch ihm die Tränen hinuntergelaufen waren. „Cedric, komm. Deine -Schwester kommt gleich nach“, sagte Mischa zu meinem Bruder. „Aber ich …“, fing er an. „Ich komme gleich. Versprochen“, ver-sicherte ich ihm. Die beiden verließen den Raum.
„Aaron, was ist los?“ Ich trat näher zu ihm. „Es ist nichts“, antwortete er. „Das glaube ich dir nicht. Du hast geweint.“ Ich strich ihm die Tränen von den Wangen. „Was ist los?“, wiederholte ich meine Frage. Doch er gab mir keine Antwort. Es dauerte sehr lange, bis er wieder zu sprechen begann: „Tara, ich habe so schreckliche Angst, dass ich dich verlieren werde“, gab er zu. „Aber, Aaron. Du wirst mich nicht verlieren. Ich bleibe immer bei dir. Ich werde dich nicht verlassen, nie. Das verspreche ich dir“, versicherte ich. „Manche Versprechen kann man aber nicht einhalten, mein Engel.“ Ich sah ihn verwirrt an. „Komm, dein Bruder wartet“, sagte er schnell und zog mich zur Tür hinaus.
Cedric nahm meine Hand und trat von einem Fuß auf den anderen. „Dann gehen wir jetzt aus dem Schloss raus, oder?“, sagte Mischa und schritt voran. Wir gingen den Weg zurück. Neben mir trottete Aaron. Ich hatte nach seiner Hand gesucht, doch er hatte mich nur entschuldigend angesehen und sie mir nicht gegeben. Wir kamen wieder in den Raum mit den vielen Käfigen. Die Menschen starrten uns an, als wir an ihnen vorbeigingen. Schließlich blieb Mischa stehen. Er stemmte sich abermals gegen die Wand und sie zerbrach. Ich sah das Licht hereinströmen und hielt Cedric die Arme schützend vor sein Gesicht. Ich wusste ja nicht, wie lange er kein Sonnenlicht mehr gesehen hatte. Schließlich traten wir hinaus.
Wir befanden uns auf einer großen Wiese. Das Meer war nicht weit entfernt, denn ich hörte es rauschen. „-Cedric, du bist frei“, sagte ich zu meinem Bruder und nahm meine Arme von seinem Gesicht. Er blinzelte wie verrückt und dann sah er sich die Gegend an. „Wow“, machte er und lächelte. Wir strahlten ihn an. „Es ist … wunderschön hier“, stammelte Cedric. „Schnell, wir müssen los, sonst können wir nicht mehr fliehen“, drängte Mischa und wandte sich auch schon zum Gehen. „Das könnt ihr jetzt sowieso nicht mehr“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter uns. Gleichzeitig drehten wir uns alle um und sahen in unzählige Gesichter. Ganz vorne stand Achille und starrte uns feindselig an.