Von Gottes Hand geformt
Was sollte ich jetzt tun? Ich fühlte mich
alleingelassen. Ich beschloss, ins Bett zu gehen. Langsam tappte
ich die Stufen hinauf in mein Zimmer. Aus dem Schlafzimmer meiner
Großeltern drangen wieder einmal Schnarchgeräusche. Sie hatten
meine Abwesenheit nicht bemerkt.
Ich betrat mein Zimmer und sah zum Fenster hinaus.
Es war noch immer stockfinster, obwohl es schon fünf Uhr in der
Früh war. Wie konnte das sein? Ich würde Aaron das nächste Mal
fragen. Falls es ein nächstes Mal geben würde. Was war so Schlimmes
geschehen, dass er so plötzlich etwas anderes tun musste?
Ich sah zu den Sternen hinauf. Alle leuchteten hell
wie jede Nacht. Nur mein Lieblingsstern fehlte. Wo war er? Sonst
war er doch immer da. Ich suchte den Himmel ab. Vergeblich. Ich
fand ihn nicht. Plötzlich überkam mich die Müdigkeit und ich legte
mich ins Bett. Ich drückte meinen Teddy fest an mich und machte die
Augen zu. Doch dieses Mal lief ich keinen schwarzen Gang entlang
…
„Mensch, Tara! Wirst du denn endlich wach?!“, fuhr
mich meine Großmutter an und rüttelte mich auf. „Was?“, sagte ich
und setzte mich auf. „Wenn das so weitergeht und ich dich jeden
Morgen wecken muss, gibt das Strafdienst!“, sagte sie und schritt
aus dem Zimmer. „Entschuldigung! Das wird nicht mehr vorkommen!“,
rief ich ihr hinterher, doch ich hörte schon, wie sie sich bei
Großvater über mich aufregte. Ich schlüpfte in meine Klamotten und
ging ins Bad. Heute sah ich wirklich schlimm aus. Die Haare waren
durcheinander und die Augen geschwollen. „Oh Gott! So kann ich
nicht in die Schule gehen“, sagte ich zu mir selbst und streckte
meinem Spiegelbild die Zunge raus. Dann bürstete ich das
pechschwarze Haar und band es zusammen. Bald sah ich wieder relativ
normal aus und ging zum Frühstück. „Da bist du ja endlich“, grüßte
mich mein Großvater. Ich sagte nur „guten
Morgen“ und biss in mein Marmeladenbrot. „Du stehst in
Zukunft früher auf, denn ich mache dir sicher nicht jeden Morgen
das Frühstück“, sagte meine Großmutter und ich nickte. Noch früher
aufstehen, wenn ich jetzt schon verschlief …
Schnell aß ich mein Brot und war auch schon aus dem
Haus. Meine Schultasche war leichter als sonst und ich ging etwas
fröhlicher zur Schule. Heute hatten wir nämlich früher aus. Genau
zwei Unterrichtstunden lagen vor mir! Ich freute mich wirklich
sehr. Die Schule verging Gott sei Dank schnell. Meine Mitschüler
hatten mich wieder einmal argwöhnisch beobachtet. Ich hatte sie
ignoriert.
Rasch ging ich die Straße zu meinem Zuhause
entlang. Ich freute mich nicht darauf, weil meine Großmutter wegen
des Vorfalls am Morgen sicherlich schlecht gelaunt war. Und dann
erinnerte ich mich an Aaron. Ich hatte ihm noch immer nicht
verziehen, dass er mich einfach so heimgeschickt hatte. Aber gab es
Aaron wirklich? Ich wurde den Gedanken einfach nicht los, dass es
nur ein Traum sein konnte. „Doch, es gibt ihn“, widersprach ich mir
selbst.
Schließlich war ich vor unserem Haus angekommen und
marschierte hinein. „Hallo! Ich bin zurück!“, rief ich laut durchs
Treppenhaus. Keine Antwort. Mürrisch ging ich in die Küche.
Großmutter saß am Küchentisch und strickte. „Hallo“, sagte sie,
ohne aufzublicken. „Was strickst du denn da?“, fragte ich höflich,
als ich mir meine Suppe aufwärmte. „Einen Schal für den Winter.“
„Ach so.“ Als die Suppe fertig war, schlang ich sie eilig hinunter.
„Warum isst du denn so schnell?“, fragte meine Großmutter. „Ich
möchte noch zu Luna.“ Wo war heute nur Großvater? Wahrscheinlich
bei einem Freund.
Ich beeilte mich, zu Luna zu kommen. Die schlechte
Laune meiner Großmutter war einfach nicht auszuhalten. Luna
begrüßte mich stürmisch und wir machten einen Spaziergang.
Anschließend ging ich wieder nach Hause und -erledigte die
Hausaufgaben. Wir hatten zum Glück nur Mathematik auf. Ich hasste
Mathematik und lernte deswegen auch nicht sehr viel. Trotzdem stand
im Zeugnis meist eine Eins.
Nach einiger Zeit dämmerte es schon und ich
beschloss, Abendessen zu kochen. Ich ging in die Küche und war
nicht erstaunt, meine Großmutter dort anzutreffen. Sie strickte
immer noch. „Ich mache heute Pfannkuchen. Ist das in Ordnung?“,
fragte ich sie. Großmutter nickte. Pfannkuchen backen war meine
absolute Leidenschaft. Meistens drehte ich sie in der Luft um. Ich
hatte es heimlich geübt, wenn meine Großeltern nicht zu Hause
waren, denn sonst hätte ich Ärger bekommen.
In der Zwischenzeit war mein Großvater nach Hause
gekommen. Ich deckte den Tisch und servierte die Pfannkuchen, die
ich wirklich mit viel Liebe zubereitet hatte. Sie schmeckten
hervorragend. Nach dem Essen ging ich hinauf in mein Zimmer und
beschloss, heute früh schlafen zu gehen. Mittlerweile war es
draußen schon dunkel. Ich machte meine Fensterläden zu und sah
zuvor noch kurz zum nächtlichen Himmel. Es ging ein kalter Wind,
ich fröstelte. Mein Lieblingsstern war heute wieder zu sehen.
Heller als alle anderen leuchtete er. Ich schloss das Fenster, zog
mir meinen Schlafanzug an, legte mich ins Bett und schlief sofort
ein.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ich fühlte mich
ausgeschlafen und beschloss, im Wohnzimmer nachzuschauen, ob
Großvater eventuell noch wach war. Doch unten war niemand zu sehen.
Irgendwie zog es mich wieder zum Fernrohr. Aber ich wollte Aaron
die Freude nicht machen, ihn zu besuchen. Gegen meinen Willen
drehte ich trotzdem an den Rädern und spürte das Herumwirbeln. Ich
schloss die Augen und wenige Augenblicke später stand ich auch
schon in der Wüste. Sofort erkannte ich Silvester. Heute wartete er
ganz alleine. „Hallo, mein Schöner. Wo ist denn Basko?“, fragte ich
ihn, als ich auf ihn zuging. Silvester schnaubte. Ich sah an mir
herunter. Wieder hatte ich vergessen, ein anderes Kleid anzuziehen.
Doch über Silvester hing eines. Es leuchtete silbern und ich zog es
mir schnell über. Dann schwang ich mich auf das Pferd. Ohne dass
ich ihn angetrieben hätte, ging Silvester von alleine los. Erst
erschreckte ich mich, doch dann war ich entspannter. Ich erzählte
meinem Pferd von meinem Tag und es kam mir vor, als höre er mir zu.
Hin und wieder wieherte er leise.
Wir kamen durch das kleine Dorf und schon bald
standen wir vor dem gigantischen Schloss. Es war beleuchtet, doch
heute war kein Diener zu sehen. Irgendwie beunruhigte es mich ein
bisschen. Ich stieg von Silvester ab und ging langsam auf das große
Tor zu. Es öffnete sich und ich trat hinein. Bald hatte ich die
riesige Halle erreicht. Ich konnte es kaum glauben, als ich Aaron
in seinem Sessel sitzen sah. Als ich genauer hinblickte, konnte ich
erkennen, dass er große dunkle Schatten unter den Augen hatte. Ich
stand nur wenige Schritte vor ihm. Ich hätte ihm in sein dunkles
Haar greifen und es verwuscheln können. Eine ganze -Weile blieb ich
vor ihm stehen und beobachtete ihn. Plötzlich musste ich niesen.
Aaron erschrak und fuhr herum. „Oh, hallo Tara!“, sagte er außer
Atem. „Hallo. Verzeihung, dass ich dich aufgeweckt habe. Ich wollte
das nicht …“, stotterte ich. „Nicht schlimm. Ich hatte dich sowieso
erwartet“, sagte er und lächelte mich an. Mir wurde schwindlig.
„Woher weißt du, wann ich komme?“, fragte ich. „Ich sehe mehr, als
du glaubst.“ Er zwinkerte mir zu. „Sag mir, warum“, forderte ich.
„Nein, ein andermal. Heute habe ich etwas anderes mit dir vor.
Wolltest du nicht einmal mein Reich sehen?“, fragte er mich. Ich
nickte und dann hatte er mich schon an der Hand gepackt und zog
mich langsam die Halle hinunter. „Warum erklärst du mir nicht,
warum du schon so gut wie alles über mich weißt? Warum weichst du
mir aus, Aaron?“ Er drehte sich um. „Ich habe meine Gründe.“ Als er
das sagte, erkannte ich Traurigkeit in seinem Gesicht. Ich wollte
und konnte nicht weiter nachfragen.
Wir gingen durch das große Tor. „Reiten wir denn
nicht?“, fragte ich vorsichtig. „Oh nein! Das wäre viel zu
anstrengend. Hier gibt es lauter Berge und Hügel. Nein, das möchte
ich den Pferden nicht antun“, meinte er lachend. „Also schau“,
sagte er, als wir das Dorf erreicht hatten. „Hier, das sind alles
Häuser. Ein jedes hat eine andere Farbe. Frag mich nicht, warum,
aber die Bewohner möchten es so. Vielleicht, weil es fröhlich
aussieht oder so, nein, ich weiß es wirklich nicht. Schau, da wohnt
Miro, der Schuhmacher. Er macht die besten Schuhe der Welt, das
kannst du mir glauben. Und da vorne wohnt Aurelie, die alte
Kräuter-hexe. Wenn es dir mal nicht gut geht, brauchst du nur zu
ihr gehen. Sie hat gegen jede Krankheit irgendwelche Kräuter. Aber
erschreck dich nicht, sie schaut etwas gewöhnungsbedürftig aus. Wie
eine alte Hexe eben“, sagte er strahlend. Ich sah seinen Stolz im
Gesicht, als er mir die Häuser zeigte. Sie waren wirklich alle sehr
schön. Es sah aus wie in einer Märchenstadt. Wie in einer ganz
verborgenen, kleinen Märchenstadt. „Und hier ist jeden Mittwoch und
Samstag Markt. Da kannst du alles kaufen, was du möchtest. Von Obst
und Gemüse bis hin zu Kleidern und Spielzeug für die Kleinen“,
erklärte Aaron schon wieder weiter. „Die Kleinen?“, fragte ich.
„Ja, hier gibt es Kinder. Herzig, sag ich dir. Eines ist hübscher
als das andere“, beantwortete der junge Prinz mir meine
Frage.
Nach einiger Zeit hatten wir das Dorf durchquert
und ich hatte wirklich viel Neues kennengelernt. Inzwischen wusste
ich, wo ich am besten hingehen sollte, wenn mir meine Frisur nicht
mehr passte, wo es die besten Süßigkeiten gab, wo es … „Aber jetzt
zeig ich dir die Berge!“, rief Aaron. Er war zu Fuß etwas schneller
als ich. Ich schnaufte mittlerweile, aber Aaron war kaum zu
bremsen. Er war schon sehr stolz auf sein Dorf, das war nicht zu
überhören. Wir marschierten eine holprige Straße entlang. Nun ging
es wirklich steil bergauf. Nach einiger Zeit kreuzten sich die
Wege. Wir hätten verschiedene gehen können, die nicht so steil
gewesen wären, aber Aaron steuerte auf keinen der anderen zu. Es
gab hier viele Bäume und Sträucher und vor allen Dingen viele
Kurven. „Jetzt sind wir gleich da!“, rief Aaron fröhlich und ich
beeilte mich nachzukommen.
Als ich oben am Berg angekommen war, wusste ich,
dass es sich gelohnt hatte. „Wow“, sagte ich und schaute mir die
Gegend an. Von hier aus überblickte man Abanon, die Wüste und
andere Dörfer, die ich allerdings nicht kannte. Es war ein
atemberaubender Anblick. Ich stellte mir einen Sonnenuntergang vor.
„Ich glaube, für diesen Anblick würde ich alles geben“, sagte ich
zu mir selbst. „Hab dir nicht zu viel versprochen, was!?“ Aaron sah
mich an. Ich schüttelte den Kopf. Es war unmöglich, etwas zu sagen.
Die Aussicht war faszinierend. Nach einiger Zeit hatte ich meine
Stimme wiedergefunden und fragte nach den Dörfern in der Nähe.
Aaron beantwortete mir all meine Fragen: „Das ist das Dorf des
Königs Oswald im Westen. Hier drüben in dem kleinen Dorf herrscht
Alessandro. Ein netter Kerl.“ „Und hier“, fuhr Aaron fort, „siehst
du das Reich von Achille. Das Dorf, oder besser gesagt die Stadt,
nennt sich Kingsleon. Achille ist … nun ja, wie soll ich es
ausdrücken … er ist anders. Man sagt, er sei ein … ein herrschsüchtiger König.
Und dann hat er noch eine Tochter …“
Aufmerksam hörte ich zu. „Eine Tochter? Wie heißt
sie denn?“, fragte ich und wartete geduldig auf eine Antwort, denn
diesmal antwortete er mir nicht so schnell. „Ja, ihr Name ist
Anastasia. Sie ist, laut Legenden, sehr hübsch und hat langes,
gelocktes Haar. Doch den Charakter hat sie von ihrem Vater, wie man
sich erzählt.“ Ich nickte und stellte mir Anastasia vor. Sie musste
wirklich sehr hübsch sein. „Wie wär’s, sollten wir wieder
zurückgehen?“, fragte Aaron mich und lächelte. „Ja“, antwortete
ich, obwohl ich am liebsten noch Stunden oder Tage dort geblieben
wäre. Langsam gingen wir zurück. Als wir vor dem Schloss -standen,
sagte der Prinz: „Du bleibst doch noch bis morgen, oder!? Ich
möchte nicht, dass du gehst.“ „Wenn du -möchtest“, antwortete ich.
Dann brachte er mich in mein Zimmer. Doch auch hier war keiner der
Dienstboten zu sehen. Nicht einmal Shania befand sich in meinem
Zimmer.