Und Vater …
Als ich am Morgen aufwachte, wollte ich nicht
aufstehen. Ich fühlte mich so müde und das Wetter war schlecht. Es
regnete schon die ganze Zeit. Shania saß wie gewohnt auf ihrem
Sessel und lächelte mich an. „Guten Morgen“, grüßte sie mich.
„Guten Morgen“, murmelte ich und stand auf, um mich zu waschen.
Shania suchte derweil ein Kleid heraus. Es war meerblau und würde
sicher gut zu meinen Augen passen. Schließlich ging ich hinunter in
die Halle. Doch Aaron saß nicht da. Auch Basko war nirgends zu
sehen. Ich setzte mich an den Tisch und wartete.
Nach einiger Zeit kam Aaron endlich angelaufen. Er
war ganz außer Atem. „Guten … Morgen! Verzeih die Verspätung, aber
ich hatte zu tun“, sagte er. „Kein Problem.“ Dann frühstückte ich
ausgiebig. Ich hatte wie immer einen Bärenhunger. Seit ich bei
Aaron war, hatte ich sicher schon mehrere Kilos zugenommen. Aber es
wirkte sich sicher nicht negativ aus, ich war ja sehr schlank. „Du
schaust sehr hübsch aus. Das Blau steht dir sehr gut“, machte mir
Aaron ein Kompliment. „Danke“, antwortete ich leise. „Äh, hm, Tara.
Ich muss dir da noch was sagen“, fing Aaron an. „Ja?“ „Es tut mir
echt leid, aber du musst heute Nacht wieder zurück. Ich habe so
viel zu tun. Weißt du, ein paar Nachbarländer machen Stress und,
nun ja, ich hoffe, du bist nicht böse.“ „Oh nein. Aber könntest du
mir mal erklären, warum ich immer in der Nacht gehen muss und nie
am Tag?“ „Ja, natürlich. Das ist jetzt aber etwas kompliziert.
Bitte lache darüber nicht. Wie du ja schon weißt, werde ich eines
Tages, zu meinem Bedauern, Anastasia heiraten. Das weiß das ganze
Dorf. Und wenn sie mich mit einem anderen Mädchen sehen würden,
gäbe es Riesenaufruhr. Sie würden denken, ich hätte eine Geliebte.
Es würde sich überall herumerzählen und dann könnte Achille davon
erfahren und wäre böse. Deswegen“, erklärte er mir. „Oh. Aber warum
Geliebte?“ „Tja, wenn bei uns ein Mann mit einer anderen Frau
ausgeht, heißt das soviel wie, er ist mit ihr liiert.“ „Aber wir
sind doch nur freundschaftlich liiert, wenn
du das so nennen möchtest“, redete ich weiter. „Ja, so ist es
wohl.“ „Gut, dann verschwinde ich eben wieder“, sagte ich. „-Bitte
nenn es nicht verschwinden.“ Ich war beleidigt. War die Arbeit denn
wichtiger als ich? Ich konnte es mir nicht vorstellen, wieder zu
meinen Großeltern zu gehen. Aber na ja, es musste wohl so
sein.
Die Zeit verging wie im Flug. Bald war es Abend
geworden und ich musste nach Hause. Dort kam mir alles so fremd
vor.
Am Morgen wachte ich pünktlich auf. Ich ging ins
Bad, um mich, wie immer, herzurichten. Am Frühstückstisch herrschte
trübselige Stimmung. „Ach so“, fing mein Großvater an, „nur dass
du’s auch weißt, deine Großmutter und ich sind heute über Mittag
nicht da. Wir kommen gegen Abend wieder. Wir sind bei Bekannten
eingeladen.“ „Aha“, machte ich und war begeistert. Ich hatte also
das ganze Haus für mich. „Aber nicht dass du denkst, du kannst die
ganze Zeit nur fernsehen. Es ist die Wäsche zu bügeln“, gab meine
Großmutter dazu und ich sagte nichts. Es -hätte mich auch sehr
gewundert, wenn ich ohne Aufgaben zu Hause geblieben wäre.
Schließlich machte ich mich auf in die Schule. Sie verging diesmal
sehr langsam …
Zu Hause beeilte ich mich, die Wäsche zu bügeln.
Die Lehrer waren bei dem schönen Wetter wenigstens so gnädig
gewesen und hatten keine Aufgaben gegeben.
Als ich mit dem Bügeln fertig war, trug ich die
Wäsche hinauf, um sie einzuräumen. Ordentlich legte ich meine
Klamotten in den Schrank. Nun waren die Sachen meiner Großeltern
dran. Ich stand vor ihrem Schlafzimmer. Eigentlich legte ich ihre
Wäsche immer nur vor die Tür, es war mir ja verboten worden, dort
hineinzugehen, doch die Neugier war größer als die Angst. Mit
klopfendem Herzen öffnete ich die Tür. Vorsichtig lugte ich hinein.
„Wow“, staunte ich. Das Zimmer war in einem warmen Orange
angestrichen. Es gab zahlreiche Fenster, wenn auch mit Vorhängen
verdeckt. Der Raum war sehr groß. Ich hätte nie gedacht, dass meine
Großeltern so ein schönes Zimmer hätten. An den Wänden hingen
lauter Fotos. Ich begutachtete sie. Meine Großeltern sah ich darauf
abgebildet, als sie noch sehr jung waren. Dann blickte ich auf das
Nachtkästchen. Auf dieser Seite schlief offensichtlich meine
Großmutter, denn ich entdeckte dort ihre zahlreichen Ketten. Doch
nicht nur sie lagen da, sondern auch ein großes Foto. Es befand
sich in einem goldenen Rahmen. Das Glas davor war verwischt.
Offenbar wurde das Foto oft in die Hand genommen. Ich wischte den
Dreck beiseite.
Zu sehen waren zwei ältere Leute und eine kleine
Familie. Dort standen der Vater, die Mutter und das Kind.
Vielleicht wollte ich es nicht begreifen, denn erst Augenblicke
später wurde mir bewusst, dass ich zum ersten Mal meine Eltern
gesehen hatte. Das kleine Kind auf dem Arm des Vaters war ich. Ich
konnte es kaum glauben. Tränen der Freude stiegen mir in die Augen.
Die älteren Leute waren meine Großeltern. Unglaublich: Da standen
mein Vater und meine Mutter. Meine Eltern. Mutter hatte hüftlanges,
blondes Haar. Sie war wunderschön und hatte das gleiche Lächeln wie
ich. Sie trug ein rotes Kleid, schaute leicht zur Seite und blickte
mich an. Auch ich lächelte. Mein pechschwarzes Haar war
schulterlang. Mein Vater sah stolz aus. Er war sehr groß und hatte
die gleichen Augen wie ich. Sonst sah ich wenige Ähnlichkeiten. Bis
auf das Haar. Es hatte die gleiche Farbe wie meines. Ich hätte das
Ebenbild meiner Mutter sein können. Wäre ich genauso alt gewesen
wie sie und hätte blondes Haar gehabt, hätte man uns für Zwillinge
halten können. Doch sie war nicht mein Zwilling, sie war meine
Mutter.
Heute war gewiss mein schönster Tag im Leben. Ich
hatte das erste Mal meine Eltern gesehen. Wir waren eine richtige
Familie gewesen.
Schließlich legte ich das Foto wieder zurück. Erst
jetzt bemerkte ich die große Truhe an der Wand. Sie sah alt aus und
hatte ein Schloss. Mein Puls ging schneller und der Atem kam
stoßweise. Ich wischte mir die Tränen der Freude weg und atmete
tief durch. Vorsichtig öffnete ich die Truhe. Wie oft hatte ich
schon die Chance, das Geheimnis meiner Familie aufzudecken? Ich
schaute hinein. Überall sah ich kleine Kisten und nahm eine heraus.
Dort stand in großen Buchstaben geschrieben:
Leyanne
Leyanne. Ein seltener Name. Ich öffnete die Kiste.
Sie enthielt lauter Fotos. Ich erkannte die Frau natürlich sofort.
Es war meine Mutter mit ihrem blonden Haar. Ich lächelte, als ich
die Fotos ansah. Sie war wirklich wunderschön gewesen. Es gab
zahlreiche Fotos von ihr. Ihre Kindheit, die Schulzeit, ihre Jugend
… einfach alles war abgebildet. Mutter hatte ein tolles Lachen,
außerdem war sie sehr fotogen. Oft war mein Vater auch drauf. Er
strahlte ebenfalls. Bald hatte ich alle Fotos durchgeschaut. Ich
schloss die Kiste, nicht ohne mir eines herauszunehmen. Dann griff
ich zur nächsten:
Nick
Das war sicher mein Vater. Ich hatte recht. Auf dem
ersten Bild war er zu sehen. Meine Großeltern erkannte ich auch
dabei. Wie gern sie ihn hatten, ihren einzigen Sohn. Es gab sogar
Fotos von der Hochzeit. Meine Mutter trug ein langes, weißes Kleid
und mein Vater, so wie es üblich war, ein schwarzes Sakko. Sie
wirkten beide so glücklich. Bald hatte ich auch diese Kiste
durchgeschaut. Es folgten welche von meinen Großeltern und dann
entdeckte ich meine:
Tara
Geschwind öffnete ich sie. Das erste Foto gefiel
mir am besten. Dort war meine Mutter abgebildet. Ihren großen Bauch
konnte man nicht übersehen. Es gab mehrere Fotos, auf denen meine
Mutter schwanger war. Dann sah ich mich als Baby, Kleinkind und
Schulkind. Plötzlich war die Fotosammlung zu Ende. Zu diesem
Zeitpunkt musste der Unfall passiert sein. Ich legte die Kiste
sofort weg, ich wollte nicht daran erinnert werden. Tränen stiegen
mir wieder in die Augen, doch diesmal waren es keine Freudentränen.
Ich nahm mir schnell die nächste Kiste und öffnete sie. Ich war
verwundert, als dort wieder Schwangerschaftsfotos zu sehen waren.
Vielleicht war die Kiste nicht genau sortiert. Wieder lächelte
meine Mutter fröhlich wie immer.
Doch dann wollte ich kaum glauben, was ich da sah.
Neben Mutter stand ich und hielt ihre Hand. War meine Mutter ein
zweites Mal schwanger gewesen? Hatte ich eventuell Geschwister?
„Das gibt’s doch nicht!“, dachte ich und nahm das nächste Foto.
Wieder war meine Mutter schwanger. Und dann gab es das erste
Babyfoto. War ich es vielleicht? Doch das konnte nicht sein. Meine
Kiste war eine andere. Auf dem nächsten Bild war das Kind schon
etwas größer und mit meinem Vater abgebildet. Ich hatte ein
Geschwisterchen! Ich drückte das Bild fest an mich. Schließlich
betrachtete ich es genauer. Mein Geschwisterchen war ein Junge. Der
Kleine war wirklich herzig. Ich dachte an Aaron. Ich hatte doch
Familie gehabt. Eine richtige Familie! In diesem Moment war ich so
glücklich. Trotzdem erinnerte mich der Junge an irgendwen. Ich nahm
das letzte Foto heraus. Dann war der Unfall passiert und mein
Bruder gestorben. Auf diesem Foto sah der Kleine wie ein
Eineinhalbjähriger aus. „Nein! Das geht nicht! Das ist unmöglich!“
Nun wusste ich, an wen mich das Kind erinnerte. Ich begegnete ihm
so oft. Nur anfassen konnte ich es nicht. Ich hatte meinen Bruder
die ganze Zeit gekannt. In meinen Albträumen. Er passte genau auf
dieses Bild. Wieder kehrten meine Gedanken zurück zu Aaron. Hatte
nicht auch er einen kleinen Jungen so beschrieben? Pechschwarzes Haar so wie du. Und er ist ein Mensch. Er lebt
bei Achille. Ungefähr zehn Jahre alt.
Ich reimte mir alles zusammen. Es ergab einen Sinn.
Doch ich wollte es nicht wahrhaben. Konnte mein Bruder tatsächlich
der Junge oben bei Aaron in der Sternenwelt sein? Wie hatte er noch
einmal gesagt? Seine Trauer war größer gewesen als
das Verlangen nach dem Tod. Natürlich, mein Bruder war bei
dem Unfall nicht wirklich gestorben, er war in die Sternenwelt
gekommen. Dann spielten sich meine Albträume im Schloss von Achille
ab. Aaron hatte gesagt, dass der Kleine gefangen gehalten werde und
es kein Sonnenlicht dort unten gebe. Es passte alles genau, denn in
meinen Albträumen gab es auch kein Sonnenlicht. Ich brauchte nur
noch einen Beweis. Und ich wusste auch schon welchen. Ich legte die
Fotos zurück in die Kiste und schloss meine Augen, als ich auf das
Namenschild sah. Ich hatte Angst, dass es wirklich so sein könnte.
Doch dann öffnete ich meine Augen wieder. Als ich den Namen las,
wurde mir schlecht, denn dort stand in großen Buchstaben der Name
Cedric geschrieben.