Albträume
Es war kalt. Ich lief einen langen, düsteren,
schwarzen Korridor entlang. Ich fror und hatte am ganzen Körper
Gänsehaut. Alles um mich herum war schwarz. Nur schwer konnte ich
überhaupt erkennen, wo ich entlanglief. Mein Haar klebte mir an der
feuchten Stirn. Wie lange musste ich es noch aushalten, bis ich an
das Ende des Korridors kam? Ich hatte Angst. Ich war ganz allein,
allein, wie ich immer war. Wie oft war ich diesen Korridor schon
entlanggelaufen? Fünfzehn Mal? Zwanzig Mal? Ich hatte bereits
aufgehört zu zählen.
Plötzlich vernahm ich ein Schreien. Einen gellenden
Schrei, der mir durch Mark und Bein ging und mich erschauern ließ.
Jede Nacht vernahm ich diesen Schrei. Er kam von einem Kind. Einem
kleinen Kind, einem Jungen, den ich schon so oft besucht hatte. Ich
lief schneller. Diesem Kind musste doch geholfen werden! Ich wollte
es in die Arme schließen und es trösten. Ja, einfach nur trösten.
Und dann sah ich es plötzlich vor mir. Ein Junge, scheinbar nicht
älter als neun oder zehn Jahre. Mit tränenüberströmtem Gesicht sah
er mich an. Ich konnte den Kleinen nicht genau erkennen. Er schien
leicht verschwommen. Ich sah nur seine Umrisse. Er streckte die
Hände nach mir aus. Ich wollte ihn auf den Arm nehmen, doch ich
konnte nicht. Wie versteinert blieb ich vor ihm stehen und sah ihn
an. Tränen tropften ihm auf den dreckigen Pullover. Das Kind war
gefesselt. Doch ich konnte ihm nicht helfen. Und dann war ich
plötzlich wieder weg. Weg von dem Korridor, weg von dem schreienden
Kind, weg von all der Angst. Zurück in einer anderen Welt …
Schweißgebadet saß ich aufrecht in meinem Bett.
Wieder hatte ich einen Albtraum gehabt. Fast jede Nacht machte ich
dies mit. Aber inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt. Es war
nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Das Kind jedoch erinnerte mich
an irgendjemanden, auch wenn ich die Gesichtszüge nicht genau
erkennen konnte. Ich setzte mich auf und trat ans Fenster. Die
Sterne leuchteten hell in der Nacht. „Was kann ich nur dagegen
machen?“, fragte ich mich und öffnete das Fenster, sodass die kalte
Nachtluft hereinströmte. Tief atmete ich ein. Es tat gut. Ich sah
auf den Wecker. Seine roten Ziffern zeigten bereits halb drei.
Jetzt konnte ich sowieso nicht mehr einschlafen und deswegen holte
ich meine Schultasche unter dem Schreibtisch hervor und machte mich
an die Arbeit. Bis um 07.00 Uhr früh hatte ich noch genügend
Zeit und es war ja immerhin besser zu lernen, als durch Albträume
geplagt zu werden. Oder etwa nicht? Und dann begann ich auch schon
zu schreiben.
„Endlich fertig!“, rief ich glücklich und steckte
die Hefte zurück in die Schultasche. Heute hatte ich wieder mal
alles geschafft. Die Hausaufgaben waren erledigt. Ich lief ins
Badezimmer, um mich zu duschen. In einem dicken Strahl fiel das
warme Wasser auf meinen Körper hinab. Ich merkte, wie der Schweiß
herunterlief und mit ihm all die schrecklichen Erinnerungen der
letzten Nacht.
Schließlich stieg ich aus der Dusche und sah wieder
in den Spiegel. Ein müdes und etwas geschafftes Mädchen blickte mir
entgegen. Ich trocknete mich ab und schlüpfte in meine frisch
gewaschenen Sachen. Langsam wurde mir wärmer und ich föhnte die
Haare. Ich band sie zu einem langen Zopf zusammen und schminkte mir
etwas die Augen. Ich wollte doch gut aussehen und nicht zu
über-müdet.
Ich ging die Treppenstufen hinunter. Wie erwartet
befand sich unten niemand. Alles war stockfinster. Ich schaltete
das Licht ein und steuerte auf den Kühlschrank zu, um mir wie jeden
Morgen mein Marmeladenbrot zu machen. Kirschmarmelade, meine
Lieblingsmarmelade. Ich -konnte nie genug davon bekommen. Meine
Großeltern schliefen noch. Wie jeden Morgen, wenn ich aufstand. Ich
war immer froh, wenn ich allein frühstücken konnte, denn die
Anwesenheit meiner Großeltern war nicht immer leicht zu ertragen.
Entweder sie sagten gar nichts oder nörgelten ständig an mir
rum.
Als ich fertig gegessen hatte, strich ich mir noch
ein Brot für die Schule und packte es anschließend in die
Schul-tasche. Jetzt musste ich mich aber beeilen, denn es war schon
halb acht. In einer halben Stunde würde die Schule beginnen.
Schnell zog ich den schwarzen Anorak an, packte die Schultasche und
stolperte aus der Haustür. Das Haus war von einem Gartenzaun
umgeben. Überall wuchsen die schönsten Blumen. Hinter dem Haus
stand eine riesengroße Eiche. Dort hatte einmal meine Schaukel
gehangen. Mein Großvater hatte sie vor einiger Zeit entsorgt, da
sie schon alt und morsch gewesen war.
Ich überquerte die Straße und lief den Bürgersteig
entlang. Die Schule war nicht weit von unserem Haus entfernt. Nur
ein paar Hundert Meter. Ich ging gerne in der Stadt, auch wenn
jetzt, um diese Zeit, noch keine Geschäfte offen hatten. Obwohl ich
ganz in Gedanken versunken war, grüßte mich, wie jeden Morgen, der
nette Eisverkäufer Fabio. Hin und wieder schenkte er mir ein Eis,
natürlich nur an heißen Sommertagen. „Hallo Fabio! Schöner Tag
heute, nicht wahr?“, rief ich zu ihm hinüber. „Oh ja! Viel Spaß in
der Schule!“, schrie er zurück und wandte sich wieder seinem
Eisstand zu, den er gerade zu putzen begann. Ich lächelte. Fabio
war wirklich sehr aufgeweckt und hatte außerdem das beste Eis der
ganzen Stadt. Schon seit langer Zeit kannte ich ihn, eigentlich
seit ich neun Jahre alt war. Ja, seit ich zu meinen Großeltern
gezogen war. Ohne meine Eltern. Ohne Erinnerungen, ohne Bilder von
den Eltern, nur mit meinem Bären und meinen Sachen hatten mich
meine Großeltern von unserem damaligen Haus abgeholt. Ich hatte
keine Ahnung, wo unser Haus gestanden hatte. Unser Haus, in dem wir
nur so wenige glückliche Jahre hatten verbringen dürfen. Aber so
war es vorherbestimmt.
„He, pass doch auf!“, sagte Johannes, ein Junge aus
meiner Klasse. Ich hatte ihn unabsichtlich angerempelt.
„Entschuldigung, das wollte ich nicht. Ehrlich“, antwortete ich und
lächelte schüchtern. „Schon in Ordnung“, murmelte er und lief ins
Schulhaus. Johannes, ein großer, gut aus-sehender Junge mit
haselnussbraunen Haaren. Er hatte -grüne Augen, so grün, wie die
Blätter im Frühling waren. -Johannes war eigentlich ganz nett.
Johannes saß rechts neben mir an einem anderen Tisch. Er beleidigte
mich nicht wie so viele anderen in der Klasse und akzeptierte mich
so, wie ich war. Manchmal half er mir sogar in Mathematik, wenn ich
wieder mal mit den Gedanken woanders war. Hin und wieder ließ ich
ihn auch dafür in Englisch abschreiben, denn in diesem Fach war ich
die Bes-te. Letztes Jahr hatte ich es wieder mal geschafft, an
unserer Schule, einem staatlichen Gymnasium, lauter Einser zu
haben. Stolz war ich nach Hause gelaufen und hatte es meiner
Großmutter gezeigt. Diese hatte nur die Augenbrauen hochgezogen und
gesagt: „Ich hatte mir nichts anderes erwartet.“ Ich war enttäuscht
in mein Zimmer gelaufen und hatte dort meinen Bären in den Arm
genommen. Er -hatte glücklich ausge-sehen, so als hätte er mir
sagen wollen: „Super! Toll gemacht! Deine Eltern wären bestimmt
stolz!“ Und das hatte mich wieder aufgemuntert, ich war wieder
fröhlich nach unten gelaufen und hatte Großmutter beim
Kartoffelschälen geholfen.
Ich stand vor dem Eingang des Gymnasiums. An der
gelben Hausmauer bröckelte bereits der Putz. Es gab einen Eingang
für Mädchen und einen für Jungen. Mein Eingang war der linke.
Ich ging in das Gebäude hinein und marschierte auf
unsere Garderobe zu. Sie befand sich genau neben der Direktion.
Unser Direktor war ein kleiner Mann mit grauem Haar und
Sommersprossen im Gesicht. Jede Woche saß er in einer anderen
Klasse und beobachtete den Unterricht. Wenn er merkte, dass es
einem Schüler oder einer Schülerin nicht gut ging, dann redete er
später immer mit ihm oder ihr. Mich hatte er schon oft rausgeholt.
Ich hatte ihm aber noch nie von unseren Problemen zu Hause erzählt.
Großmutter hatte immer gesagt: „Erzähl doch den Leuten nicht immer
alles! Wir haben ein Privatleben. Das geht sie gar nichts an.“ Und
deswegen hatte ich noch nie etwas ausgeplaudert, obwohl ich
manchmal unserem Direktor Eichinger wirklich gerne alles gesagt
hätte.
Wir zählten insgesamt vierzehn Klassen. Ich
besuchte die 10 b. Die Klasse befand sich im Obergeschoss,
ganz hinten im Gang. Unser Klassenzimmer war relativ groß und nie
aufgeräumt. Oft flogen Hefte und Bücher herum, außerdem lag immer
Schmutz am Boden. An den Wänden hingen von uns gezeichnete Bilder,
denn wir waren eine sehr künstlerisch veranlagte Klasse.
Endlich hatte ich mich umgezogen und lief die
Treppe hinauf. Die Wände waren weiß angestrichen und an jeder Tür
klebte ein Schild, auf dem der jeweilige Klassenname stand. Gerade
ging ich an der 5 a vorbei, einer kleinen Klasse mit nur siebzehn
Schülern. Wir selbst waren zweiundzwanzig Kinder in der Klasse. Auf
dem Weg kam mir noch Frau Lengmann entgegen, die Geografie- und
Turnlehrerin. Sie war sehr nett und hatte mich besonders ins Herz
geschlossen. Sie galt zwar als etwas streng, aber welcher Lehrer
war das nicht!? Schließlich lief ich noch an den 7. Klassen
vorbei und kam endlich in die 10 b. In der Klasse herrschte
Chaos.
„Guten Morgen“, grüßte ich meine Mitschüler. Aber
wie erwartet drehte sich niemand um. Es hätte mich auch gewundert,
wenn es anders gewesen wäre. Seit dem ersten Schultag hatte ich
keine Freundschaften geschlossen. Die Mitschüler unterhielten sich
mit mir nur über das Nötigste und sonst gingen wir getrennte Wege.
Ich hatte mich damit schon sehr gut abgefunden, deswegen trottete
ich mürrisch auf meinen Einzelplatz in der ersten Reihe am Fenster.
Ich liebte diesen Platz. Dort konnte ich zum Fenster -hinausschauen
und gleichzeitig mitlernen. War das nicht herrlich?
Ich packte meine Sachen für die erste Stunde aus.
Wir hatten Chemie. Ich hasste dieses Fach. Ich fand es einfach nur
langweilig. Unser Chemielehrer hieß Rudolf Wolf. Oft wurde er von
uns „Wolferl“ genannt. Er war, laut meinen Mitschülerinnen, „der
heißeste Lehrer des ganzen Universums“. Ich hatte darüber nur den
Kopf geschüttelt. Trotzdem hatte ich mich einmal dabei ertappt, wie
ich ein großes „W“ auf meine Mappe zeichnete. Aber das war
Geschichte. Außerdem würde sich ein Lehrer doch nie für eine
15-Jäh-rige interessieren, oder!?
Plötzlich kam er, zusammen mit dem Glockenläuten
und seiner Tasche, in die Klasse gestürmt. Wir standen alle hinter
den Sesseln und warteten darauf, dass er sagte: „Guten Morgen,
meine Lieben! Bitte setzt euch!“ Das passierte auch wenige
Augenblicke später. „Wer kann mir sagen, was wir letzte Stunde
gemacht haben?“, fragte der Lehrer in die Runde. Keiner zeigte auf.
Meine Hand schnellte in die Höhe. „Tara, bitte!“ „Wir haben letzte
Stunde über die verschiedenen Ladungen der Atome gesprochen und …“,
antwortete ich, doch Herr Wolf redete gleich weiter: „Ganz genau!
Wer kann mir sagen, was wir noch durchgenommen haben?“, wollte er
wissen, doch ich hörte schon gar nicht mehr hin. Chemie
interessierte mich einfach nicht. Aber immerhin hatte ich mich am
Unterricht beteiligt. Verträumt sah ich aus dem Fenster. Heute war
ein schöner, warmer Tag. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor.
Vielleicht blieb nachher ja noch ein bisschen Zeit für einen kurzen
Spaziergang …
„So, die Schule ist für heute beendet! Ihr könnt
zusammenräumen!“, rief Herr McKay, unser Englischlehrer, in die
Klasse hinein. Endlich war die Schule aus. Ich packte geschwind
meine Sachen zusammen, wünschte dem Lehrer noch einen schönen
Nachmittag und lief in die Garderobe, um mich umzuziehen. Heute
wollte ich besonders flink sein. „He, schaut mal, unsere
allwissende Tara
ist ja heute mal wieder ganz besonders schnell. Was das wohl für
einen Grund hat!? Aber vielleicht will sie sich ja noch bei den
Lehrern einschmeicheln“, spottete Julian von hinten. Wir besuchten
gemeinsam die 10. Klasse. Oft ärgerte er mich, aber immer ohne
Grund. „Ach, halt doch deinen Rand“, fuhr ich ihn an und lief an
dem Jungen vorbei. Ich wollte nur raus aus dem Schulhaus. Weg von
den nervigen Mitschülern, die mich eh nicht verstanden.
„Hallo, ich bin wieder da!“, rief ich beim
Hineingehen ins Haus, doch keiner antwortete mir. Ich war allein.
„Umso besser“, dachte ich mir und legte meine Schultasche auf dem
Gang ab. Ich lief in die Küche und fand einen Zettel auf der
Anrichte:
„Sind weg. Essen steht in der Mikrowelle zum
Aufwärmen. Du weißt ja, wie es funktioniert, Großmutter.“
Nichts weiter. „Auch in Ordnung“, murmelte ich vor
mich hin und begann das Essen aufzuwärmen. Alles sollte ganz
schnell gehen, damit ich nachher noch meiner Lieblingsbeschäftigung
nachgehen konnte. Ich hatte sie schon seit
zwei Tagen vernachlässigt. Hoffentlich war sie mir nicht böse …