Schön wie das Meer
„Tara! Tara, bitte wach auf!“ Ich wurde sanft am Arm gerüttelt. „Was … ach, du bist’s, Aaron.“ „Wie nett“, sagte der Prinz auf meine Begrüßung. „Liege ich auf deiner Seite?“ Erschrocken fuhr ich hoch und sah, wo ich geschlafen -hatte. Alles war in Ordnung. Mein Kopf schwirrte. „Hast du noch gar nicht geschlafen?“, fragte ich und schaute ihn etwas verlegen an. „Nein, ich war noch unten. Achille wollte mich nicht gehen lassen. Aber jetzt komm und zieh dir deinen Umhang über. Ich möchte dir gerne etwas zeigen.“ Ich nickte und stand vorsichtig auf. Meine Knochen knackten und ich streckte mich ausgiebig. Mit einer Hand fuhr ich mir durch die Haare und ging hinüber zu dem Sessel, wo mein Umhang unordentlich lag. Ich seufzte, als ich ihn mir überzog. „Wo gehen wir denn hin?“, fragte ich neugierig. „Das wirst du schon noch sehen“, gab Aaron zurück und zog mich zur Tür hinaus. Er legte einen Finger an den Mund. Ich musste also leise sein.
Wir schlichen durch viele Gänge, die ich noch nie betreten hatte. Komischerweise stand nirgendwo eine Wache. Der Putz bröckelte bereits von den meisten Wänden. Ich fühlte mich hier nicht wohl. „Aaron, wo sind die Wachen?“ „Nicht da. Ist ein Geheimgang“, sagte er stolz und zog mich weiter. Bald gelangten wir nach draußen hinter das Schloss. Ich sah die Wachen am Eingangstor stehen und hoffte, dass sie uns nicht entdeckten. Erst jetzt fiel mir auf, dass Aaron ebenfalls einen Umhang trug. Sein Gesicht war wie meines bis auf die Augen verdeckt. Wir schlichen in das Gebüsch. „Jetzt ist es nur noch ungefähr ein Kilometer“, erklärte er. „Nur noch“, maulte ich. Ich hatte so tief geschlafen und war, weil er mich geweckt hatte, etwas sauer. „Du wolltest doch unbedingt einmal aus dem Schloss raus“, sagte Aaron und grinste mich an. „Ja, schon. Aber nicht mitten in der Nacht.“
Wir rannten quer durch das Gestrüpp. Ich hatte bereits nach wenigen Metern die Orientierung verloren. Hoffentlich kannte Aaron den Rückweg. Schließlich tauchten Felsen vor uns auf. Wir kletterten darüber und dann sah ich das, was ich mir immer gewünscht hatte. Zuerst wollte ich es gar nicht glauben. Vor mir lag das Meer. „Wow“, machte ich und blieb stehen. „Hab ich dir nicht zu viel versprochen, was!?“ Ich schüttelte den Kopf. Dann merkte ich, dass ich im Sand stand. „Komm, wir müssen weiter“, sagte Aaron und rannte los. Wie schade. Wie gerne wäre ich noch eine Weile hier gestanden. Wir kletterten abermals über Felsen. Mit meinen Schuhen war das ein kleines Problem. Ich war mir nicht sicher, ob sie diese kantigen Steine noch lange durchstehen würden. „Jetzt sind wir angekommen“, verkündete Aaron. Wir standen inmitten einer kleinen Bucht. Rechts und links ragten hohe Felsen. Keiner konnte uns hier sehen. „Du kannst jetzt deinen Umhang ablegen. Hier wirst du nicht erkannt“, sagte der Prinz, als hätte er meine Gedanken gelesen. Ich gehorchte und legte das Gewand auf einen der Felsen. „Ah! Du blendest vielleicht“, beschwerte sich Aaron und lachte. Zum Spaß hielt er sich die Hände vor die Augen. „Es ist wunderschön hier“, gab ich zu und war so froh, dass Aaron mir meinen Wunsch, einmal das Meer zu sehen, erfüllt hatte. „Schon, ja.“ Nun zog auch er sich seinen Umhang ab. Ich schaute wie gebannt hin. Aaron trug nur eine Hose und kein Oberteil. Ich bestaunte seinen durchtrainierten Körper. Seine Brust war sehr muskulös. Er hatte große Brustmuskeln und einen sehr durchtrainierten Bizeps. Ich beschloss wegzuschauen. Sonst merkte er vielleicht noch, dass ich ihn anstarrte.
 
„Tja, dann mal rein ins Vergnügen“, sagte er und ging einige Schritte auf mich zu. Der Rosenduft wurde stärker. „Äh …“, fing ich stotternd an. „Na, möchtest du denn gar nicht schwimmen gehen?“ Er schaute mich verständnislos an. Ich sah an mir hinunter. Konnte ich wirklich in meinem Nachthemd, das mir Shania heute Abend extra gegeben hatte, ins Wasser? Sie hatte wohl gewusst, dass Aaron mich heute entführte. „Doch, sicher“, sagte ich schnell. Ich ging einen Schritt auf das Wasser zu, um zu prüfen, wie kalt oder warm es war. Schnell wich ich zurück. Das Wasser war eiskalt. „Kalt, nicht!?“, gab auch Aaron zu. Ich nickte, vielleicht etwas zu übertrieben. Inzwischen stand er bereits bis zu den Knien im Wasser. „Komm.“ Er streckte eine Hand nach mir aus und ich überwand mich. Schnell, damit die Kälte mir nicht langsam den Rücken raufkriechen konnte, griff ich nach seiner Hand und war somit bis zum Bauch im Wasser. Ich holte tief Luft und sah, dass Aaron lächelte. „Ich finde das wirklich überhaupt nicht komisch“, sagte ich. „Ich auch nicht. Ich finde es nur gigantisch, wie man so viel Gänsehaut auf einmal haben kann.“ Er deutete auf meinen Arm. Tatsächlich ging mir die Gänsehaut bis zu den Schultern. Aaron wirkte belustigt. Dann ließ er, zu meinem Bedauern, die Hand los und stürzte sich ins Wasser. Ich bewunderte ihn. Der Prinz tauchte unter und kam bald wieder an die Oberfläche. Er schüttelte den Kopf, sodass das Wasser aus seinem pechschwarzen, lockigen Haar spritzte. Ich bekam ein paar Tropfen ab. „Hey!“ Schließlich schwang auch ich mich ins Wasser. Allerdings tauchte ich nicht unter. Womöglich wurde mir dadurch nur noch kälter. „Brrr“, machte ich und schwamm von Aaron weg. Trotz der Kälte liebte ich das Meer. Das Wasser schmeckte, wie es die Geschichten erzählten, salzig. Ich verzog das Gesicht, als ich davon kostete.
Lange schwammen wir so herum. Der Mond -leuchtete hell vom Himmel. Es war Vollmond. Man hätte keine Fackel oder Ähnliches gebraucht, hier war es hell genug. Aaron jagte mich quer durch die Wellen. Dadurch wurde mir wenigstens etwas wärmer. Dann stieg er aus dem Wasser. Ich machte Anstalten, es ihm nachzutun, doch er gab mir zu verstehen, dass ich weiterschwimmen sollte. Der Prinz nahm seinen Umhang, holte etwas heraus, was ich nicht erkennen konnte und war kurz darauf wieder neben mir. „Was sollte das denn bitte?“ Ich schaute ihn verwirrt an. „Nichts“, antwortete der junge Mann. „Wie nichts sah das aber nicht aus.“ „Sei nicht immer so neugierig“, bekam ich zurück. Schließlich setzte ich mich so in den Sand, dass die Wellen immer noch bis zu meinem Bauch gelangten.
„Glaubst du, dass es hier Muscheln gibt?“, fragte mich Aaron plötzlich. „Keine Ahnung, aber ich glaube, eher nicht.“ Er griff ins Wasser, holte etwas hervor und hielt mir seine offene Hand entgegen. „Ich glaube schon.“ In seiner Hand lag eine Muschel. Doch es war nicht irgendeine, sondern eine Herzmuschel. Ich stutzte. „Aaron, Herzmuscheln gibt es hier nicht.“ Ich schüttelte überzeugend den Kopf. „Das ist doch jetzt egal. Nimm sie, ich schenke sie dir.“ Er setzte sich neben mich. „Danke. Aber warum tust du das? Eigentlich solltest du sie Anastasia …“ Er unterbrach mich: „Vergiss doch mal Anastasia. Ich möchte sie dir schenken und dir damit eine Freude machen.“ Er schaute mich mit seinen dunklen Augen an und ich lächelte. „Danke, das hast du geschafft“, sagte ich und nahm die Muschel. Als ich sie aus seiner Hand nahm, streichelte ich vorsichtig über seine Handfläche. Ich drehte die Muschel in meinen Händen. Plötzlich nahm der Prinz sie mir aus der Hand und legte sie ein Stück weiter weg. „Ich freue mich, wenn sie dir gefällt.“ Mein Lächeln wurde breiter und ich bekam Herzklopfen. „Du hättest das nicht tun dürfen“, sagte ich nach einer -Weile. „Ich weiß. Aber warum sollte ich sie -Anastasia schenken, wenn sie mir nichts bedeutet“, antwortete er. Nun redete aber er über das Thema.
Erst nach einigen Augenblicken wurde mir bewusst, was er gerade gesagt hatte. Anastasia bedeutete ihm nichts. „Also magst du mich?“ Ich kam mir blöd vor, als ich die Frage stellte. „Natürlich. Sehr sogar. Weißt du noch, als du das erste Mal mein Schloss betreten hast?“ Ich nickte. „Du warst so ängstlich. Ich beschloss vom ersten Moment an, dich zu beschützen. Und es ist mir gelungen. Seit du hier bist, Tara, hast du viel mehr Selbstvertrauen.“ Ich dachte über seine Worte nach. Ja, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte, war ich wirklich ängstlich gewesen. Ich war der Meinung, dass nun der Moment gekommen wäre, um die Frage zu stellen, die mir schon länger im Kopf herumspukte. „Aaron, als ich dich das erste Mal traf, da kam es mir vor, als … als wüsstest du schon alles über mich. Als … würdest du mich schon kennen. Wie funktioniert das? Ich meine, eigentlich ist das doch vollkommen unrealistisch …“
Aaron schaute zu Boden. „Ich wusste, dass du mich das eines Tages fragen würdest. Ja, Tara, ich kannte dich bereits. Ich sah dich, dein Haus, deine Großeltern. Ich … habe eine spezielle Gabe. Ich kann euch Menschen auf der Erde sehen. Es ist, als stünde ich neben euch. Als wäre ich auch ein Mensch. Ich bin der Einzige, der diese Gabe besitzt. Und ich glaube, deswegen hasst mich Achille auch so sehr. Weil ich eine Gabe besitze, die er nie haben kann, und ich dadurch für ihn stärker wirke. Er glaubt, ich hätte so viel mehr Macht als er. Wäre ich nicht seiner Tochter versprochen, wäre er sicher schon lange gekommen und hätte mich umgebracht. Achille kann nicht schwächer sein. Aber ich bin eben Anastasia versprochen. Und somit fließt meine Gabe in seine Familie ein und er ist, gemeinsam mit meinem Vater, das Oberhaupt der stärksten Familie der gesamten Sternenwelt. Verstehst du, es geht ihm nur um Macht! Darum, der Größte und Stärkste zu sein.“ Ich nickte. „Aber wie geht das? Ich meine, schluckst du da irgendeinen Trank oder so?“ Aaron musste über meine Spekulationen lachen. „Nein, ich schlucke nichts. Keine Angst. Es ist sehr schwierig, weil du vollkommen konzentriert sein musst. Ein jedes Geräusch kann dich ablenken. Ich setze mich also in ein Zimmer und schließe die Augen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, auf der Erde zu sein, und dann kommen die Bilder. Es ist faszinierend. Ich kann in Afrika und Europa zugleich sein. Ich staune noch immer selber darüber“, erklärte Aaron. „Wow. Nicht schlecht. Dann hast du mich gesehen. Deswegen wusstest du schon so viel über mich! Aber warum hast nicht du mich in die Sternenwelt geholt? Ich meine, dann hätten wir schon viel früher meinen Bruder retten können. Dann wäre alles viel einfacher gewesen …“
Der Prinz sah traurig zu Boden. „Tara, glaub mir, ich habe lange darüber nachgedacht, dich hierherzuholen. Aber nicht wegen Cedric, von ihm wusste ich ja noch nichts. Nein, sondern weil du dort unten so schlecht behandelt worden bist. Es tat mir so weh, dich zu sehen, wie du -littest. Aber was sollte ich tun? Sollte ich dir die Freiheit nehmen? Vielleicht wärst du dort doch glücklich geworden.“ Ich stutzte. Ich war Aaron schon immer so nahe gewesen. „Glaub mir, es ist mir so schwergefallen, dir nicht einfach im Traum zuzuflüstern, dass du dieses Fernrohr kaufen solltest. Es tat mir so weh, dass ich dich vielleicht, wie ich damals dachte, nie treffen würde. Dass wir uns nie kennenlernen würden. Dass ich nie einer so atemberaubenden Persönlichkeit gegenüberstehen würde. Du hattest mich bereits damals in deinen Bann gezogen, Tara. Ich war so fasziniert von dir. Trotz alledem versuchte ich zu vergessen. Ich versuchte, nicht mehr in deine Welt einzudringen. Aber es misslang mir. Ich sprach auch mit Basko und er meinte, ich solle damit aufhören. Ich schadete nur mir selbst, wenn ich mich so krampfhaft bemühe, dich zu sehen. Ich versuchte es tatsächlich, dich nicht mehr zu besuchen. Aber es zerriss mir das Herz, Tara. Ich konnte bald nicht mehr. Basko erklärte mich schon fast für verrückt. Was hat dieses Mädchen, was so viele andere nicht haben, Aaron?, hat er mich gefragt, warum ausgerechnet sie? Du könntest mit jeder glücklich werden. Aber warum sie? Ich konnte ihm die Antwort nicht geben. Ich wusste selber nicht, warum ich mich zu dir so hingezogen fühlte. Vielleicht war es unser ähn-liches Schicksal.“ Er machte eine Pause. „Und wie durch ein Wunder kamst du doch in die Sternenwelt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie verunsichert ich am Anfang war. Deswegen bin ich dir so oft aus dem Weg gegangen. Ich musste mich mit Basko beraten. Er meinte, ich solle so weitermachen wie zuvor und möglichst versuchen, mich von dir fernzuhalten. Er wusste, dass es nicht gut wäre, wenn du wiederkämest. Es war zu gefährlich. Aber was tat ich? Weil ich so viel Gefallen an dir hatte, Tara, wollte ich, dass du immer wiederkamst. Du solltest mich nicht mehr verlassen. Endlich hatte ich diejenige gefunden, mit der ich glücklich werden konnte. Die mich verstand, die mir Trost spendete. Ich war zu egoistisch, um mich weiter von dir fernzuhalten. Ja, Tara, ich bin ein ziemlicher Egoist. Was glaubst du, wie glücklich ich war, als du immer zu mir kamst? Ich machte mir so viele Vorwürfe. Warum bist du nur so egoistisch, Aaron?, habe ich mich selber gefragt. Aber ich war zu schwach, um dich zu überzeugen, mich zu verlassen. Es schien mir so unmöglich.“
Ich schluckte. Ich hatte Aaron noch nie so über seine Gefühle reden gehört. „Du musst dir keine Vorwürfe machen, Aaron. Jetzt, wo ich hier bin, bin ich glücklich. Es ist alles richtig so.“ „Nein, ist es nicht. Du hättest nicht wiederkommen dürfen. Nach jedem Treffen dachte ich mir: Beim nächsten Mal sagst du ihr, sie darf nicht wiederkommen. Und was habe ich getan? Nichts. Ich merkte, wie sehr ich dich brauchte. Ich merkte, was es heißt, zu lieben und zu vermissen. Und von da an konnte ich nicht mehr ohne dich sein. Weil du, Tara, mir mein Leben zurückgegeben hast. Weil du diejenige bist, die all die Schatten aus meinem Leben verscheucht hat.“
Mir war eine Gänsehaut den Rücken hinaufgekrochen. Langsam wischte ich mir eine Träne von der Wange. „Bitte, sag etwas“, bat er mich. „Verzeih, aber mir … fällt gerade nichts ein.“ Nun sah ich ihn endlich an. Er lächelte nicht, stattdessen blickte er sehr ernst. „Ich liebe dich, Tara. Ich habe dich vom ersten Moment an geliebt, an dem ich dich gesehen habe. Als du mich unbewusst angesehen hast. Als ich in deine meerblauen Augen schauen konnte und mich dem Staunen hingab.“ Er nahm zärtlich meine Hand und strich über meine Gänsehaut. „Ich liebe dich mehr als -alles andere auf der Welt.“ Vorsichtig, als wäre ich zerbrechlich, strich er mir das Haar aus dem Gesicht. „Ich würde dir nie wehtun. Und wenn, könnte ich mir selber nicht mehr ins Gesicht sehen.“ Aaron letzter Satz hatte es bewirkt: Ich weinte richtig. Ich weinte vor Freude. Aaron küsste vorsichtig meine Tränen weg. „Du darfst mich nie verlassen“, flüsterte ich, als er mein Gesicht zu seinem heranzog. „Nie“, schwor er, ehe er mich küsste.
Später, als ich im Bett lag, dachte ich noch einmal über Aarons Worte nach. Es kam mir so unglaublich vor, dass er mich wirklich liebte. Mich! Das unscheinbare, aber doch angeblich wunderschönste Mädchen der ganzen Welt, wie Aaron mir später erklärt hatte. Ich hatte schon widersprechen wollen, aber er hatte mich mit einem Kuss zum Schweigen gebracht.
Ich hörte ihn leise und regelmäßig neben mir atmen. Ich wusste nicht, ob er nur so tat oder ob mein Prinz wirklich schon schlief. Vielleicht dachte auch er über das eben Geschehene nach.
Ich kuschelte mich tiefer in seine Arme und war doch tatsächlich wenige Augenblicke später eingeschlafen. Mit dem besten und verständnisvollsten jungen Mann an meiner Seite, den es gab.