Begegnung
In dieser Nacht schlief ich nicht gut. Obwohl ich
keine Albträume hatte, wälzte ich mich in meinem Bett unruhig hin
und her. Nach einiger Zeit war ich hellwach und beschloss
aufzustehen. Meine Augen hatten sich bald an die Dunkelheit gewöhnt
und ich schaute mich im Zimmer um. Alles sah aus wie immer. Der
große Schrank, das Badezimmer und die vielen Bilder. Doch der
Sessel, auf dem normalerweise Shania saß, war leer. „Komisch“,
dachte ich und trat aus dem Zimmer. Eigentlich war es mir ja nicht
erlaubt, einfach so im Schloss herumzuschleichen, doch ich war zu
neugierig. Ich schämte mich für mein Verhalten. Ohne Schuhe, nur
mit meinem Nachthemd bekleidet, marschierte ich los.
Das Schloss war wirklich riesig. Größer, als ich es
mir vorgestellt hatte. Ich kam an mehreren hohen Türen vorbei. An
den Wänden hingen große Bilder. Ich sah mir jedes ganz genau an.
Vor einem blieb ich besonders lang stehen. Zu sehen war ein Mann
mittleren Alters. Er sah erschöpft aus. Sein langes, graues Haar
hing schlaff an den kräftigen, muskulösen Schultern hinunter. Der
Gesichtsausdruck wirkte traurig. Als ich ein Schild neben dem Bild
entdeckte, erschrak ich: Elio I. von
Abanon. Er war offensichtlich König in diesem Schloss
gewesen. Noch eine ganze Weile betrachtete ich das Bild, dann ging
ich weiter.
Bald gelangte ich zum Dachboden des Schlosses. Hier
hingen weder Bilder noch Kerzenleuchter. „Unheimlich“, sagte ich zu
mir selbst. Vorsichtig tastete ich mich an der Treppe entlang und
entdeckte eine eher abgelegene Tür. Wäre ich nicht so lange
gegangen, wäre sie mir wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Im
Gegensatz zu den anderen Türen hatte diese kein Schloss, sondern
einen Riegel. Ich schob ihn auf. Die Tür öffnete sich knarrend. Ich
blinzelte, denn hier drinnen war der Raum hell erleuchtet.
Vorsichtig tapste ich ins Zimmer. Auf dem Boden lag Staub und an
den Wänden schälte sich der Putz. Ich schauderte und ging um eine
Ecke. Erst jetzt stand ich richtig im Zimmer. Doch als ich meinen
Blick in die Mitte des Raumes richtete, konnte ich kaum glauben,
was ich sah. Dort stand ein Bett. Ein Himmelbett mit blutrotem
Stoff. Darin lag eine Person. Ich trat näher, um sie begutachten zu
können.
Da bemerkte ich erst den Gestank. Ich hielt mir die
Hand vor die Nase, um den beißenden Geruch nicht einatmen zu
müssen. Im Bett lag ein alter Mann. Ich schätzte ihn auf über
siebzig Jahre. Er sah ungepflegt aus. Als ich mich über sein
Gesicht beugte, schlug er die Augen auf. Es sah aus, als wolle er
losschreien, doch es kam kein Laut aus seinem Mund. Sein Gesicht
war voller Falten. „Ich tue Ihnen nichts“, stotterte ich. Wieder
wollte mir der Mann etwas sagen. Vorsichtig setzte ich mich auf die
Bettkante. Vielleicht konnte ich ihn damit etwas beruhigen. Ich
hatte Mitleid. Wie konnte man nur einen alten, zerbrechlichen Mann
hier einfach so liegen lassen? Tränen stiegen mir in die Augen.
„Ich …“, fing er mit matter Stimme an. Ich folgte seinem Blick. Er
hatte ihn auf seinen Arm gerichtet. Dort trat Blut hervor. „Oh
Gott! Sie bluten ja!“, schrie ich. Schnell drückte ich den Stoff
meines Nachthemds auf die blutende Wunde. „Kann ich Ihnen irgendwie
helfen?“, rief ich. Vielleicht hörte er ja schlecht. Mein Geschrei
würde man sicher unten im Schloss noch hören, da war ich mir
sicher. Oder zumindest auf den Gängen. Doch dann nickte der Mann.
„Er … muss … sie …“, fing er an. „Ja, was wollen Sie sagen?“,
fragte ich schnell. „Heiraten. Ana… Anas…“ „Sie meinen Anastasia?“,
half ich ihm auf die Sprünge. Dann nickte er wieder und schnaufte
schwer. Anastasia. Wen sollte die junge Prinzessin heiraten? Was
hatte dies alles zu bedeuten?
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein Diener
erschien. „Geh sofort weg! Er braucht Hilfe! Lauf hinunter in die
Halle und hole Aaron!“, erklärte er mir. Ich lief los. So schnell
ich konnte rannte ich die Stufen hinunter. Ich stolperte, fiel hin,
rappelte mich auf und rannte weiter. Vielleicht ging es hier ja um
ein Menschenleben. Als ich unten ankam, saß Aaron bereits in seinem
Sessel. „Tara, was ist los? Sag schon! Was bedeutet das Blut an
deinem Ärmel? Bist du ver…?“, brüllte er und dann rannte er auch
schon los. „Aaron, ich … muss dir etwas sagen!“, rief ich.
„Später“, antwortete er und lief die Stufen hinauf. Ich setzte mich
auf seinen Sessel und sackte zusammen.