Ausflug zum Flohmarkt
Im ganzen Haus brannte Licht, als ich es betrat. „Hallo, ich bin wieder zu Hause“, plärrte ich los und zog meine Schuhe und Jacke aus. Ich lief ins Wohnzimmer, wo auch meine Großeltern schon auf der Couch saßen und fernsahen. „Elsbeth hat sich den Fuß verknackst“, antwortete mein Großvater nur und sah weiter in das flimmernde Gerät. „Du warst sicher wieder bei dem Hund, oder!?“, fragte meine Großmutter unfreundlich. Ich nickte nur. „Essen steht auf dem Tisch“, sagte sie knapp und erhob sich mit einem Seufzer. Sie verzog das Gesicht, offenbar musste ihr Fuß wirklich wehtun. Sie setzten sich gemeinsam mit mir an den Esstisch und ich begann rasch zu essen. Ich hatte großen Hunger. „In der Schule wohl aufgepasst?“, fragte sie mich. Wieder nickte ich. Ich war heute einfach nicht so gesprächig, was vielleicht an meinem Gesprächspartner lag. Weiter sprachen wir nicht viel und dann gab ich den Teller in die Spülmaschine. „Am Samstag fahren wir gemeinsam auf den Flohmarkt und schauen, ob wir ein billiges Fernrohr finden“, sagte Großmutter und humpelte wieder zurück ins Wohnzimmer. „Oh, ich freu mich schon!“, rief ich vergnügt, verstummte jedoch gleich wieder, als mein Großvater etwas von „Pscht“ rief.
Wieder lief ich den langen, düsteren Gang entlang. -Kalter Schweiß rann mir den Rücken herunter. Diese schreckliche Angst breitete sich wieder in mir aus. „Warum mache ich jede Nacht diesen Terror mit?“, fragte ich mich selber und lief weiter, weiter an schwarzen, verschlossenen Türen vorbei. Bis ich dann an jene Stelle kam, an der das Kind schon auf mich wartete. Es hatte die Arme wieder nach mir ausgestreckt. Warum konnte ich das Kind nicht in den Arm nehmen, und warum sah ich es immer nur verschwommen? Diese Frage stellte ich mir immer wieder. Dann versuchte ich den Mund aufzumachen und zu rufen: „Das arme Kind! Es braucht Hilfe! Warum kann ich es nicht auf den Arm nehmen?“ Stille. Ich wusste, dass ich nie Antworten darauf bekommen würde. Dass ich dieses Kind nie retten konnte und wieder verlassen musste …
Schweißgebadet wachte ich auf. Ich saß aufrecht im Bett. Diese Albträume, sie waren einfach schrecklich. Ich sah auf den Wecker. Es war sechs Uhr. Eigentlich früh genug, um aufzustehen, denn es war Samstag. Samstage liebte ich, wir hatten keine Schule und ich hatte genügend Zeit für mich selbst und natürlich für Luna. Noch etwas verschlafen stieg ich aus dem Bett und machte mein Fenster auf. Am Himmel waren noch die Sterne zu sehen. Doch mein liebster Stern funkelte nicht mehr dort. Der Stern, der am hellsten und schönsten von allen leuchtete. Der, der etwas Geheimnisvolles an sich hatte.
Schließlich ging ich ins Badezimmer, duschte mich und frühstückte anschließend. Auf der Anrichte lag ein Zettel. Natürlich an mich gerichtet und schwer zu erraten, von wem – meiner Großmutter:
 
„Spülmaschine ausräumen
Anrichte putzen
Frühstück richten
bügeln“
 
Wie nett. Meine Großmutter behandelte mich immer wie eine Arbeitskraft. Ich kam mir vor wie ihre persönliche -Dienerin. Trotzdem machte ich mich daran, die Spülmaschine auszuräumen und die anderen Aktivitäten zu erle-digen. Alles, wie die gnädige Frau Großmutter wünschte.
 
Gegen Mittag machten wir uns endlich auf den Weg zum Flohmarkt. Schon seit meine Großmutter mir davon erzählt hatte, freute ich mich darauf. Nach gut 20 Minuten kamen wir an. Der Kirschsteinplatz, auf dem der Flohmarkt stattfand, war überfüllt mit Ständen. Viele Besucher drängten sich durch die engen Durchgänge. Wir begutachteten die Stände. Viele boten Bücher, Stofftiere oder auch Antiquitäten an. Mein Großvater schritt voran und wir schlenderten gemütlich durch die Menschenmenge. Hier und da blieben wir stehen und sahen uns ein paar Sachen genauer an. Großmutter hatte sogar schon eine rosafarbene Vase gekauft, mit Blumen darauf.
Schließlich kamen wir zu einem Stand, auf dem ein Fernrohr angeboten wurde. Ein wunderschönes Fernrohr. Es war schwarz und hatte alles, was man brauchen -konnte, um hindurchzuschauen. Ich war begeistert. Mir fiel auf, dass es anders aussah als die, die ich einmal im Fernsehen gesehen hatte. Trotzdem war es das Schönste, was ich je erblickt hatte. „Guten Tag! Mein Name ist Hester. Wir würden uns für das Fernrohr interessieren. Können Sie uns -sagen, aus welchem Jahr es stammt?“, fragte mein Großvater den Verkäufer. Dieser war ein alter Mann. Er hatte weißes, schmutziges Haar und trug zerlumpte Kleider. „Oh ja, natürlich!“, antwortete er meinem Großvater mit seiner tiefen Stimme. „Es ist ein altes Stück, aber dennoch besser erhalten als alle anderen. Man sieht die Sterne so klar, wie man durch ein Glas Wasser hindurchschauen kann. Ich brauche es nicht mehr, obwohl ich ebenso wie Sie ein großer Sternenliebhaber bin. Wissen Sie, meine Jahre gehen langsam zu Ende und ich möchte doch noch etwas länger in meiner derzeitigen Wohnung bleiben. Alles wird teurer, die Miete …“ „Woher wissen Sie, dass ich Sterne mag?“, fragte mein Großvater unhöflich. „Das sieht man an Ihren Augen. Doch, ich sage es Ihnen, dieses Fernrohr ist nicht wie jedes andere. Es ist etwas ganz Besonderes.“ Er zwinkerte mir zu. „Wie viel verlangen Sie?“, fragte mein Großvater. „Oh, so viel, wie Sie mir geben wollen. Es hat seine Dienste bei mir getan“, antwortete der Alte und mein Großvater steckte ihm einen Hunderter in die Tasche. Der Alte bedankte sich mit einer Verbeugung, Großvater nahm das Fernrohr und ging auch schon weiter. Doch der Mann winkte mich zu sich her. „Nimm dir meine Worte zu Herzen“, sagte er und lachte leise. Ich sah ihn mit großen Augen an und nickte. „Tara, wo bleibst du?“, rief meine Großmutter und ich drehte mich um, mit dem Wissen, etwas sehr Wichtiges erfahren zu haben.