Kapitel 16
Destiny fand die Schwestern an ihrem üblichen Platz auf dem Bürgersteig vor. Die Gartenstühle waren aufgestellt, und die Damen freuten sich über ihren Besuch. Sie umarmten sie wesentlich stürmischer, als ihr lieb war, zumal noch dazu Nicolaes Lachen in ihrem Hinterkopf echote. Destiny war der körperliche Kontakt nach wie vor nicht angenehm, aber Inez und Velda küssten und umarmten sie und tätschelten ihr die Schulter, als wäre sie ein Kind, das sie entzückend fanden.
Körperkontakt zu mir ist dir nicht unangenehm. Nicolae zog Destiny absichtlich auf, weil er wusste, wie sie reagieren würde; aber sie würde auch lachen und sich ein bisschen entspannen.
Ich möchte dir am liebsten immer noch einen Tritt geben, sagte Destiny und schloss ihn energisch aus ihrem Denken aus. Inez versuchte gerade, ihr einen Tanzschritt beizubringen, den sie eben von einem Video gelernt hatte.
»Kommen Sie, meine Liebe.« Inez nahm ihre Hand und gab sich alle Mühe, Destinys Hüften zu der metallischen Musik schwingen zu lassen, die aus der Lautsprecherbox neben ihren Gartenstühlen plärrte.
»Schwester, sie sollte Tango lernen, nicht diesen Schritt. Das ist nicht romantisch genug«, wandte Velda ein. »Ihr junger Mann mag Sie wirklich sehr, Destiny. Er will auf die gute alte Art um Sie werben, was heutzutage sehr selten ist.«
»Ich kann Ihnen gar nicht genug für die Tipps danken, die Sie ihm gegeben haben«, erwiderte Destiny. »Sie haben ihn auf die Idee mit den Rosen gebracht, hat er mir erzählt. Sie waren wunderschön.« Sie rückte behutsam ein Stück von Inez ab, lächelte jedoch dabei. »Ich kann nicht besonders gut tanzen, Inez, aber Sie bewegen sich wirklich fantastisch.«
Die Schwestern zwitscherten erfreut durcheinander, weil Nicolae sich ihren Rat zu Herzen genommen hatte. »Haben Sie auch Ihre Schokolade bekommen, meine Liebe?«, erkundigte sich Inez verschmitzt.
»Dieses Vergnügen steht mir noch bevor«, flunkerte Destiny und errötete, weil die beiden Frauen so schlimme Gedanken hatten.
Inez machte ein verträumtes Gesicht. »Das wird bestimmt eine unvergessliche Erfahrung«, erklärte sie.
»Eigentlich bin ich hier, um mehr über die merkwürdigen Vorfälle hier im Viertel zu erfahren. Nicolae hilft mir dabei, die Angelegenheit zu untersuchen, und ich dachte, Sie haben vielleicht noch mehr Informationen für uns«, sagte Destiny hastig. »Können Sie sich an ähnliche Ereignisse in der Vergangenheit erinnern?« Sie setzte sich auf den Sessel zwischen den beiden alten Damen. »Irgendetwas Ungewöhnliches? Jemand, der sich völlig konträr zu seinem Charakter verhalten hat?«
Inez dachte nach und schnalzte mit der Zunge. »Also, jetzt, da Sie danach fragen, fällt mir wirklich etwas ein! Schwester, du erinnerst dich doch an Blythe Madison. Sie ist jetzt im Krankenhaus, in der psychiatrischen Abteilung. Was für ein liebes Ding sie war!«
»Ach ja, Inez, ich hatte das arme Mädchen völlig vergessen. Wir haben sie ein [¡aarmal besucht, doch sie war nicht ansprechbar, und ihr Mann sagte uns, dass unsere Besuche sie nur aufregen würden. Wir hätten uns allerdings weiter nach ihr erkundigen sollen.«
»Wie schrecklich von uns!« Inez’ Hände flatterten an die Kehle. Sie sah sehr bestürzt aus. »Wir haben in letzter Zeit gar nicht nach ihr gefragt. Der arme Harry! Wahrscheinlich glaubt er, dass keiner mehr an sie denkt. Der bedauernswerte Kerl muss diese Last ganz allein tragen.«
»Blythe hat sonst keine Familie«, fuhr Velda fort. »Nur den armen Harry. Er war völlig durcheinander, als sie auf einmal durchdrehte.«
»Blythe war ein stilles kleines Ding«, fügte Inez hinzu. »Sie sprach kaum jemals, ohne um Erlaubnis zu bitten. Deshalb war es auch kaum zu glauben, als sie anfing, sich ganz seltsam zu benehmen. War es nicht furchtbar, Schwester? Sie ist doch wirklich mit einem Fleischermesser diese Straße hier heruntergerannt und hat jeden bedroht!«
Velda nickte, »Es war nicht der erste Vorfall, aber die Sache überzeugte Harry schließlich davon, dass sie eine Gefahr für sich selbst und andere darstellt. Ich muss sie unbedingt wieder besuchen.«
Destiny klopfte ihr auf den Arm. »Das wird Blythe sicher freuen, Velda, doch könnten Sie mir ein bisschen mehr erzählen? Wann hat sie sich zum ersten Mal auffällig verhalten?«
»Gleich nachdem sie so großen Erfolg mit der Eröffnung der Bar >Tavern< hatten«, berichtete Veldä. »Blythe hatte den Einfall, eine Bar mit kleinen Speisen zu eröffnen, in der Hoffnung, dass die Leute aus dem Viertel nach der Arbeit und am Abend dorthin gehen würden. Es war eine großartige Idee. Alle waren begeistert, und wir sind abends immer gern dort eingekehrt. Ihre Idee hat das ganze Geschäftsleben hier aufgewertet.«
»Sie mögen sie«, vermutete Destiny.
»Sehr«, gab Velda zu, während Inez lebhaft nickte. »Ein liebes, nettes Mädchen - sie würde ihr letztes Hemd hergeben. Ständig hat sie irgendwelche Tiere gerettet und kranken Leuten Suppe gebracht.«
»Ein reizendes Mädchen«, bemerkte Inez wehmütig. »Ruhig und vernünftig. Jeder mochte sie. Wir hätten nicht aufhören sollen, sie zu besuchen, Schwester.«
Destiny musste sich beherrschen, nicht die Geduld zu verlieren. »Können Sie sich erinnern, wie alles angefangen hat?«
»Wir waren in der >Tavern<, um Inez’ Geburtstag zu feiern«, sagte Velda. »Ich kann mich erinnern, weil wir Partyhüte trugen.«
»Es war mein fünfundsechzigster Geburtstag, ein echter Meilenstein«, warf Inez ein.
Velda verdrehte die Augen. »Es war dein siebzigster Geburtstag, Inez. Du bist fünf Jahre älter, als du den Leuten erzählst.«
»Also wirklich, Schwester! Ganz bestimmt nicht! Ich werde wohl noch wissen, wie alt ich bin.«
»Du bist zwei Jahre jünger als ich.«
Inez machte ein betroffenes Gesicht und fächelte sich Luft zu. »Du irrst dich ganz sicher, Schwester. Ich bin mindestens fünf Jahre jünger.«
Velda holte tief Luft und tätschelte ihre Schwester liebevoll. »Tatsächlich, ich glaube, du hast recht. Ich habe einen Moment lang etwas durcheinandergebracht, Liebes. Tut mir leid.«
»Sie waren gerade bei den Partyhüten«, bemerkte Destiny, um wieder zur Sache zu kommen, aber sie betrachtete Velda mit neuer Hochachtung. In den Augen der Frau lagen aufrichtige Zuneigung und Mitgefühl, als sie ihre Schwester ansah.
»Richtig«, nahm Velda den Faden wieder auf. »Ich hatte eine neue Dauerwelle ausprobiert, und mein Haar war total kraus und stand unter dem Hut in alle Richtungen ab. Ich schaute mich im Spiegel an und musste lachen. Blythe lachte mit mir. Wir zeigten im Spiegel aufeinander. Sie hatte auch eine Dauerwelle, doch ihr Haar war lange nicht so kraus wie meins. Es sah sehr hübsch aus. Hast du das nicht auch gefunden, Inez?« Sie bezog ihre Schwester absichtlich in das Gespräch ein, um sie von der irritierenden Frage ihres Alters abzulenken. »Hast du nicht auch gefunden, dass Blythe richtig hübsch mit ihrem lockigen Haar aussah?«
»O ja, Schwester. Sie sah so jung aus.«
»Aber der Spiegel zersplitterte, einfach so. Niemand hatte ihn angefasst. Ich schaute direkt hinein.« Velda runzelte die Stirn. »Überall lagen Glasscherben herum. Der Spiegel muss Blythe wirklich etwas bedeutet haben. Vielleicht war es ein Erbstück. Sie ging einfach auf den nächsten Mann los, schnappte sich einen Stuhl und knallte ihn auf seinen Rücken. Wer war es noch gleich, Schwester? Kannst du dich erinnern?«
»Dieser Freund von Harry. Er kommt kaum noch in die Gegend. Ich habe ihn seit damals höchstens ein, zwei Mal gesehen«, antwortete Inez. »Davis irgendwas.«
»Morgan Davis«, verkündete Velda, voller Stolz auf ihr gutes Gedächtnis. »Natürlich. Ich mochte ihn nicht. Viel zu kalt für meinen Geschmack, aber die jungen Mädchen waren sehr angetan von ihm.« Sie schaute Destiny an. »Mir gefiel seine Aura nicht. Sie war völlig farblos. Er arbeitete ein paar Monate lang gelegentlich bei Harry und verschwand dann aus der Stadt.«
»Stimmt genau. Dieser Davis ist sehr groß, und Blythe zog ihm einfach mit dem Stuhl eins über.« Inez grinste bei der Erinnerung. »Es war fast zum Lachen, dass so ein zartes Persönchen einen Stuhl zertrümmern konnte. Aber dann hob sie ein Stuhlbein auf und fing an, auf ihn einzuschlagen. Sie gab keinen Laut von sich und hörte überhaupt nicht mehr auf. Harry konnte sie irgendwie beruhigen, stimmt s, Schwester?«
»Am nächsten Tag konnte sie sich an rein gar nichts erinnern«, fuhr Velda fort. »Als wir sie danach fragten, stritt sie es ab und fing an zu weinen. Ich glaube, sie bildete sich ein, dass es so etwas wie eine Verschwörung gegen sie gab. Keiner von uns konnte sie davon überzeugen, dass sie Davis tatsächlich mit einem Stuhl eins übergezogen hatte. Nach einer Weile schien sie einfach aufzugeben. Sie zog sich von allen Leuten zurück, und irgendwann bekamen wir sie kaum noch zu sehen. Im Abstand von ungefähr einem Monat gab es dann vier weitere Vorfälle. Schließlich brachte Harry sie ins Krankenhaus. Seit damals hat keiner mehr richtig mit ihr gesprochen.« Veldas Hand zitterte, als sie nach dem Talisman langte, der um ihren Hals hing. »Ich war ihre Freundin. Ich hätte sie weiter besuchen müssen.« Sie starrte auf den Boden. »Ich habe sie fast vergessen.«
»Velda«, sagte Destiny tröstend, »Blythe weiß, dass Sie eine gute Freundin sind. Im Moment hat sie große Probleme, aber vielleicht stoßen wir auf Informationen, die ihr weiterhelfen.« Sie dachte gründlich über alles nach, was Velda erzählt hatte.
Damals ist ein Spiegel zersprungen, Nicolae. ln der Nacht, als John Paul sich so eigenartig verhielt, zersplitterten die Straßenlaternen. Es muss irgendeinen Zusammenhang geben. Es schien ihr ganz natürlich, sich an ihn zu wenden. An Nicolae, ihre andere Hälfte.
Wird auch langsam Zeit, dass du es einsiehst.
Seine Stimme klang für Destinys Geschmack viel zu selbstgefällig. Zugegeben, du bist meine andere Hälfte, jedoch eindeutig die schlechtere. Die blödsinnige, unüberlegte Hälfte, die ständig überwacht werden muss.
Ah, schon wieder dieses Wort. Spontan, rücksichtslos meinetwegen. Ein Liebhaber der Meisterklasse.
Destiny lachte laut auf. Wie kommst du denn darauf? Du träumst wohl! »Danke, dass Sie mir das erzählt haben, Velda. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, unerfreuliche Erinnerungen hervorzukramen. Sie sind immer so großzügig.« Destiny betrachtete die beiden exzentrischen Frauen. Die rosa und lila Haare. Die auffälligen Turnschuhe. Inez mit ihrem übertriebenen Make-up und Velda mit ihrem sauber geschrubbten Gesicht.
»Ihr seid beide außergewöhnliche Frauen.« Ja, das waren sie wirklich. Diese Frauen kümmerten sich um andere und nahmen Anteil am Leben der Menschen, die sie liebten. Manche mochten sie für aufdringlich, andere für albern halten, aber das waren Leute, die sich nicht die Zeit nahmen, die beiden richtig kennenzulernen und zu sehen, wer sie wirklich waren. »Ich empfinde es als Privileg, euch kennengelemt zu haben.«
»Wir sind keineswegs außergewöhnlich, liebes Kind«, wehrte Velda ab. »Wir führen ein ganz einfaches Leben ohne Angst vor Ablehnung. Andere müssen uns nicht unbedingt verstehen.« Als wäre ihr aufgefallen, dass sie damit ihren verborgenen Fälligkeiten bedrohlich nahe kamen, wechselte sie abrupt das Thema und tätschelte Destinys Hand, als lenkte sie das ab. »Ich habe gehört, was Sie für diesen kleinen Jungen getan haben. Vater Mulligan kam heute Morgen vorbei und erwähnte, dass Sie das Kind zu ihm gebracht haben. Inez und ich würden ihm gern ein Heim geben, aber wir sind zu alt.« Sie warf einen verstohlenen Blick auf ihre Schwester. »Das heißt, ich bin zu alt, und Inez muss sich schon um mich kümmern. Und damit hat sie alle Hände voll zu tun, nicht wahr, Schwester?«
»Du bist nie eine Last, Velda. Natürlich nehmen wir das Kind auf, wenn sich sonst niemand findet. Velda macht furchtbar viel Getue um Kinder und verwöhnt sie maßlos, aber ich würde dafür sorgen, dass der Kleine anständig isst und zur Schule geht. Sie wäre völlig nutzlos, würde ständig Ausflüge mit ihm unternehmen und ihn Junkfood essen lassen.«
»Vater Mulligan denkt an eine bestimmte Familie«, erzählte Velda. »Ein Ehepaar, das sich schon immer Kinder gewünscht hat und keine bekommen kann. Er hilft ihnen gerade dabei, die üblichen Formulare auszufüllen und mit den Sozialarbeitern zu reden. Ich glaube, er trifft sich mit Ihrem jungen Mann und nimmt ihn mit.«
So, so, das machst du also: den Weg ebnen. Hoffnung keimte in ihr auf, ein Gefühl, das sich nicht unterdrücken ließ, so sehr sie es auch versuchte. Sie hatte fast ihr ganzes Leben lang ohne Hoffnung existiert, ohne andere in ihr Leben hineinzulassen. Velda und Inez lebten ohne Angst vor Ablehnung. Sie kleideten sich, wie es ihnen gefiel, und sie waren entschlossen, Spaß zu haben. Vater Mulligan hatte ihr geraten, Mut zu haben. Allmählich wurde ihr klar, dass er damit den Mut meinte, ihr Leben auch zu genießen.
Plötzlich sehnte sie sich danach, bei Nicolae zu sein und von seinen Armen gehalten zu werden. Er hatte den Mut gehabt, ihr unreines Blut anzunehmen, damit sie sich nie wieder als Ausgestoßene und allein fühlte. Sie hatte Angst davor, ein derart großes Opfer mit Herz und Seele zu erfassen, weil sie befürchtete, sie könnte ihn zu sehr lieben.
Destiny schämte sich sofort. Nicolae hatte etwas Besseres verdient, als er nun bekam. Impulsiv beugte sie sich vor, um erst Velda und dann Inez einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Ich danke euch beiden. Ihr seid die Besten! Und jetzt muss ich mit MaryAnn reden. Habt ihr sie gesehen?«
»Ach, nein, meine Liebe. Heute ist Donnerstag. Donnerstags sitzt sie immer über ihren Abrechnungen und will am liebsten niemanden sehen.«
Destiny zog die Augenbrauen hoch. Das klang spannend. Sie hatte nie darauf geachtet, welcher Wochentag gerade war, aber ein Donnerstag mit MaryAnn könnte interessant sein.
Sie fand ihre Freundin in ihrem Büro vor, wo sie mit finsterer Miene über langen Zahlenkolonnen brütete. »Du scheinst im Moment nicht viel Spaß zu haben, meine Liebe«, begrüßte Destiny sie mit einem strahlenden Lächeln.
MaryAnn blickte Stirn runzelnd auf. »Ich hasse Buchhaltung! Ich stelle regelmäßig fest, dass ich viel mehr Geld für die Ausgaben brauche, als hereinkommt. Ich habe auf diese Seite gestarrt, bis ich zu schielen angefangen habe, doch an den Zahlen lässt sich einfach nichts ändern.«
Destiny betrachtete MaryAnns große, schokoladenbraune Augen. »Du schielst tatsächlich ein bisschen. Das geht nicht. Wie viel brauchst du?«
MaryAnn lachte und warf resigniert ihren Kugelschreiber auf den Tisch. »Sagen wir mal, ein Banküberfall könnte die Lösung sein.«
Destiny stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und legte ihr Kinn in die Hand. »Das ließe sich ohne Weiteres machen«, meinte sie seelenruhig. »Ist gewissermaßen eine Spezialität von mir. Ungesehen hineinschleichen, schnappen, was ich kriegen kann, und wieder hinaus. Und keiner hat’s gesehen. Türen sind für mich ebenso wenig ein Hindernis wie ein Safe. Was glaubst du, wo das Geld herkommt, das ich gespendet habe?« Sie machte große, unschuldige Augen.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Das Lächeln auf MaryAnns Gesicht verblasste und wich einer entsetzten Miene. »Du hast das Geld doch nicht etwa gestohlen, Destiny? Ich habe Geld von einem Bankraub für unsere Frauenhäuser genommen?« Ihre Stimme zitterte bedrohlich.
Destiny blinzelte hastig. MaryAnn knüllte ein Stück Papier zusammen und warf es nach ihr. »Du bist unmöglich! Wie komme ich bloß darauf, dass ich dich mag? Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen!«
»Schande über dich, dass du so etwas überhaupt denken kannst. Andererseits, wenn ich es mir recht überlege, sind die Möglichkeiten wirklich unbegrenzt.«
»Darüber darfst du nicht mal im Spaß reden! Das wäre wirklich das Ende für meine Projekte. Geld zu beschaffen ist wahnsinnig schwer, und bei all den Vorschriften muss ich peinlich genau darauf achten, dass meine Unterlagen in Ordnung sind.«
»Hast du wirklich Geldsorgen, MaryAnn?«, wollte Destiny wissen.
»Naja, wer hat die nicht? Die Frauenhäuser sind teuer im Unterhalt, und ich bemühe mich um Berufsförderung, damit jede Familie einen neuen Anfang machen kann. Eine Frau auf der Flucht kann man nur schwer verstecken, insbesondere wenn sie Kinder hat. Ich bekomme ein bisschen Unterstützung, aber es ist nicht leicht, die erforderlichen Gelder aufzutreiben. Subventionen decken nicht alles ab, und natürlich bemühen wir uns um Spenden, doch die Leute vergessen uns schnell, wenn wir nicht nachhaltig genug auf unser Anliegen aufmerksam machen. Und Aufmerksamkeit ist das Letzte, was man braucht, wenn man Frauen vor ihren gewalttätigen Ehemännern schützen will. Es ist ein ziemlich komplexes Problem.« MaryAnn seufzte leise. »Achte gar nicht auf mich, Destiny. Donnerstag ist mein Jammertag.«
Destiny grinste sie verschmitzt an. »Ehrlich gesagt, das wusste ich. Velda hat mir eingeschärft, dich heute Abend ja nicht zu stören.«
MaryAnn stöhnte und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. »Erzähl mir nicht, dass alle Welt weiß, wie kratzbürstig ich bin.«
»Nur am Donnerstag«, teilte Destiny ihr freundlich mit. »Komm, sei nicht so niedergeschlagen. Sag mir, wie viel Geld du brauchst, und ich beschaffe es.«
MaryAnn hob den Kopf und musterte Destiny argwöhnisch. »Du kannst keine Bank ausrauben! Ich schaffe es schon, die Rechnungen für diesen Monat zu bezahlen.«
»Eigentlich habe ich eher daran gedacht, den Drogendealer zu berauben, der sich ein paar Meilen von hier herumtreibt. Er ist ein widerwärtiger kleiner Kerl und hat viel mehr Geld, als ihm guttut. Ich mache mir von Zeit zu Zeit einen Spaß daraus, alle seine Drogen zu vernichten.«
MaryAnn setzte sich kerzengerade auf. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Diese Leute sind gefährlich.«
Destiny zuckte mit den Schultern. »Nicht für mich. Sie können mich nicht sehen. Ich verabscheue sie - widerliche Kreaturen, die das Leben anderer zerstören und sich einbilden, Macht zu haben. Warum sollte das Geld nicht an ein Frauenhaus gehen ? Es sollte für einen guten Zweck verwendet werden. Ich muss bloß darauf achten, keinen Drogenkrieg anzuzetteln, und verhindern, dass jemand anders in Verdacht gerät.«
MaryAnn starrte ihre Freundin, die förmlich feixte, fassungslos an. »Wie willst du das anstellen?«
Destinys boshaftes Grinsen vertiefte sich. »Ich pflanze Erinnerungen in seinen Kopf. Entweder hat er zu viel getrunken, oder er leidet an einem Anfall akuter Reue. Das ist mein persönlicher Favorit. Er glaubt, dass er das Geld weggegeben hat, kann sich aber nicht erinnern, an wen, oder er bildet sich ein, die Drogen zerstört zu haben.«
»Du machst das tatsächlich, oder? Weiß Nicolae davon?«
Destiny richtete sich abrupt auf. »Musst du ihn unbedingt aufs Tapet bringen? Er hat nichts damit zu tun. Ich gehe manchmal ins Kino, und dafür bitte ich ihn auch nicht um Erlaubnis.« Etwas wie Trotz schwang in ihrer Stimme mit und ließ sie fast ein wenig kindisch klingen. Das ärgerte sie. Sie war Nicolae keine Rechenschaft schuldig, und sie würde sich nicht für ihre Selbstständigkeit entschuldigen. Dennoch fühlte sie sich schuldbewusst und konnte sich den Grund dafür nicht erklären.
Die Wärme, die ihren Körper überflutete, machte sie nur noch gereizter. Sie wusste, dass er sich insgeheim über sie amüsierte. Schlimmer noch, es gelang ihm immer, ihr eine Reaktion zu entlocken, sei es eine körperliche oder eine emotionale. Ich war absolut vernünftig, bevor du mich in die Finger bekommen hast.
»Heimlich ins Kino zu gehen ist kaum dasselbe. Das eine ist gefährlich, das andere nicht«, sagte MaryAnn streng.
Kommt vielleicht ein Liebesfilm im Kino? Dann gehe ich gern mit dir hin. Wir könnten in einem dunklen Winkel in der hintersten Reihe interessante Erfahrungen machen. Seine Stimme war leise und verführerisch und streichelte ihre Haut wie zärtliche Finger. Es wäre mir ein Vergnügen, dich von Ärger fernzuhalten.
Obwohl sie entschlossen war, hart zu bleiben, schmolz sie dahin. Sie war glücklich. Destiny hatte im Grunde noch nie erlebt, was es bedeutete, wirklich glücklich zu sein. Das klingt für mich eindeutig nach Ärger. Aber eigentlich würde sie gern mit ihm ins Kino gehen. Es würde Spaß machen, ein ganz normales, verliebtes Pärchen zu spielen, das ein paar gestohlene Augenblicke in einer dunklen Ecke genoss. Doch ich gehe trotzdem mit dir hin.
Ich denke, Velda und Inez liegen völlig richtig. Vielleicht sollten wir den Vorschlag mit der Schokolade tatsächlich aufgreifen.
Sie liebte das leise Lachen in seiner Stimme. Ich lasse mich von dir überraschen. Sie liebte es, ihm jederzeit nahe sein zu können.
»Hörst du mir eigentlich zu, Destiny? Drogendealer sind gefährliche Kriminelle. Sie schrecken nicht davor zurück, andere zu töten. Du kannst dich nicht mit solchen Leuten anlegen, nicht einmal für einen guten Zweck.«
Destiny wandte sich wieder ihrer Freundin zu. Freundin. Sie kostete das Wort aus. Als sie MaryAnn zum ersten Mal begegnet war, hätte sie sich nie träumen lassen, dass sie eines Tages in ihrem Büro am Schreibtisch lehnen und mit ihr scherzen würde. »Lass mal sehen, wie viel du brauchst. Spendengelder aufzutreiben ist meine spezielle Stärke.« Sie langte nachlässig über den Tisch, griff nach dem lästigen Hauptbuch und überflog die aufgeschlagenen Seiten, bevor MaryAnn es ihr wieder entriss.
»Nein, das wirst du nicht tun! Du bist unmöglich! Gehst du wirklich gern ins Kino?«
»Unheimlich gern«, gestand Destiny. »Ich war in jedem Vampirfilm, der je gedreht worden ist. Die alten sind echt cool. Ich habe sie in einem kleinen Kino entdeckt, in dem anscheinend nur Kultfilme laufen. Es wurde so etwas wie eine Sucht. Ich habe in sämtlichen Zeitungen nachgeschaut, was gerade gespielt wurde. Manche Filme habe ich mir gleich zweimal hintereinander angeschaut.«
»Hast du daher deine Angst vor Knoblauch und Kirchen?«, zog MaryAnn sie auf. Sie freute sich, dass sie einmal an der Reihe war, die Freundin auf den Arm zu nehmen.
»Da wir gerade beim Thema sind: Warum hast du so leicht akzeptiert, was ich bin: ein Vampir... na schön, eine Karpatianerin ...?«, wollte Destiny wissen. »Es stört mich wirklich, dass du überhaupt keinen Sinn für Selbstschutz hast.«
MaryAnn warf den Kopf zurück und lachte. »Leicht? Du glaubst, ich habe die Existenz von Vampiren einfach so akzeptiert? Du hast vergessen, dass ich die Kirche nicht verlassen konnte. Ich habe die ganze Nacht dort gesessen, gebetet, geschrien und geweint. Und ich habe mir gewünscht, ich könnte irgendwohin laufen und mich verstecken. Letzten Endes ist mir klar geworden, dass du einfach ... anders bist.«
»Ich verstehe trotzdem nicht, wie du mich akzeptieren konntest«, beharrte Destiny. »Du hättest mich verdammen und dich vor mir verstecken müssen.«
MaryAnn zuckte mit den Schultern. »Ich kannte dich bereits. Ich hatte in deine Augen geschaut. Wenn du mir etwas hättest antun wollen, hättest du es schon längst getan. Deine Augen waren ...«, sie brach ab und suchte nach dem richtigen Wort, »... gehetzt. In ihnen lag ein gehetzter Ausdruck, und ich wollte mich nicht von dir abwenden, ganz gleich, was du warst.«
»Darüber bin ich sehr froh. Danke, MaryAnn.« Die Wahrheit machte Destiny demütig. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass MaryAnn irgendjemanden im Stich lassen würde.
Noch während sie einander anlächelten, stahl sich der dunkle Schatten von Gewalt in Destinys Bewusstsein. Mit einem Seufzer ließ sie sich von der Schreibtischkante gleiten und drehte sich zur Tür um. Ein Mann kam auf das Büro zugeeilt. »Bleib hinter mir, MaryAnn.« Ihr Tonfall hatte sich völlig verändert, war fest und autoritär.
Bevor ihre Freundin etwas erwidern konnte, wurde die Tür so heftig aufgestoßen, dass sie an die Wand krachte und der Türrahmen splitterte. John Paul stand in der Tür. Er atmete schwer, seine Augen blickten wild, und seine gewaltigen Hände waren zu Fäusten geballt.
»John Paul«, sagte MaryAnn ruhig, »was kann ich für dich tun? Das Büro ist eigentlich schon geschlossen, und meine Freundin und ich wollten gerade gehen.«
John Paul schaute nicht einmal in Destinys Richtung. Sein glasiger Blick fixierte MaryAnn, während er schwerfällig näher kam. »Wo ist Helena? Ich brauche sie, MaryAnn. Gib sie mir zurück.«
Destiny drang in sein Bewusstsein ein. Es wurde von dem unerschütterlichen Entschluss beherrscht, an Helena heranzukommen. Er hatte keinen festen Plan, keine Vorstellung, was er tun würde, wenn er sie fand, nur das übermächtige Verlangen, bei ihr zu sein. Destiny konnte die Gewalt fühlen, die tief in seinem Innern verankert war, aber keinen Hinweis auf den Vampir.
»Helena ist gut aufgehoben. Das weißt du, John Paul. Du wolltest doch selbst, dass sie geht, erinnerst du dich noch? Du wolltest sie in Sicherheit wissen.« MaryAnn sprach entschlossen, aber trotzdem freundlich.
John Paul schüttelte energisch den Kopf. »Gib sie mir zurück.« Er schob einen schweren Polstersessel beiseite und trat näher. Noch immer schaute er Destiny nicht an; er schien nicht einmal zu bemerken, dass noch jemand im Raum war.
John Paul ging so dicht an ihr vorbei, dass seine Jacke Destinys Schulter streifte. Sie räusperte sich probeweise, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, aber er War völlig auf MaryAnn fixiert.
»Ich habe dir Helena nicht weggenommen, John Paul. Sie braucht etwas Zeit für sich, um über alles nachzudenken. Weißt du nicht mehr, wie du mit ihr in dieses Büro gekommen bist? Ihr habt beide geweint. Du hast mich gebeten, mich um sie zu kümmern, und diese Bitte habe ich erfüllt.«
Ohne Vorwarnung ließ John Paul seine schwere Faust auf den Schreibtisch sausen und fegte Papiere und eine Lampe herunter. Die Lampe flog quer durchs Zimmer, prallte an die Wand und zerbrach. Winzige Glassplitter fielen wie Regentropfen auf den Teppich. John Pauls Aufmerksamkeit wurde sofort auf die glitzernden Scherben gelenkt.
»MaryAnn, geh bitte ganz langsam ins Nebenzimmer«, sagte Destiny leise. »Er steht unter einer Art Zwang, und irgendetwas an den Glasscherben scheint der Auslöser zu sein.« Sie konnte in ihm nichts anderes als das jähe Verlangen nach Gewalt entdecken, das Bedürfnis, alles und jeden in seiner Nähe zu packen und an die Wand zu schleudern, und dazu ein stetiges Rauschen in seinem Kopf. Das laute Geräusch war zunächst alles, was sie ausmachen konnte, als er nach ihr ausholte, doch Destiny wich seinen schwingenden Fäusten mit atemberaubender Geschwindigkeit aus und konzentrierte sich auf die Laute in seinem Bewusstsein.
John Paul hieb mit einer Faust in die Wand und riss ein großes Loch hinein. Feine Risse zogen sich vom Boden bis zur Decke und rund um die Öffnung herum.
MaryAnn stöhnte. »Reparaturen! O nein, Reparaturen sind so teuer!«
John Pauls Kopf fuhr herum, als er MaryAnns Stimme hörte; er zog die Augenbrauen zusammen und schwang erneut die Fäuste.
Destiny tippte auf seinen breiten Rücken, um ihn von MaryAnn abzulenken. »He, Freundchen, ich dachte, du wolltest mit mir tanzen. Ich bin der eifersüchtige Typ.«
Hör auf, deine Spielchen mit ihm zu treiben, Destiny. Wenn dieser Vollidiot noch einmal Hand an dich legt, reiße ich ihn in kleine Stücke. Ich finde das ganz und gar nicht amüsant, und ich mache keine Scherze.
Trotz Nicolaes grimmiger Stimme hätte Destiny beinahe gelacht. Armer Kerl! Ich will doch nicht eng mit ihm tanzen. Kein Grund zur Eifersucht! Sie duckte sich vor John Pauls Faust und schlüpfte aus seiner Reichweite, blieb aber nah genug, um ihn von ihrer Freundin abzulenken.
»Was soll ich tun? Soll ich die Polizei rufen?«, fragte MaryAnn nervös und fuhr erschrocken zusammen, als John Paul wieder versuchte, bei Destiny einen Treffer zu landen.
»Nein. Und sag jetzt nichts. Er soll sich nur auf mich konzentrieren.« Destiny war damit beschäftigt, den Kode in John Pauls Kopf zu entziffern. Für einen Mann von seiner Statur war er sehr schnell, aber sie war viel schneller und befürchtete nicht, von ihm getroffen zu werden. Das Lärmen in seinem Kopf war beinahe unerträglich: lautes Brüllen und Knurren, schrille Pfiffe und Schreie. Ein Summen wie von einem Bienenschwarm. Destiny trennte die Geräusche und filterte sie, während sie knapp außerhalb der Reichweite John Pauls durch das kleine Büro flitzte.
Irgendetwas hat diese Geräusche in seinen Kopf gesetzt, und es hat keine natürliche Ursache. Wie immer wandte sie sich an Nicolae.
Nicht etwas, sondern jemand. Er ist programmiert worden wie ein Zeitzünder. Wenn splitterndes Glas der Auslöser ist, was ist das Ziel? Welches Motiv steht hinter dieser Gewalttätigkeit?
Jetzt konnte sie es hören, eine leise Stimme, die unablässig etwas murmelte. Es klang, als wäre sie auf Schnelllauf gestellt und gäbe einen Befehl. Verwirrt gab sie die Stimme mit höherer Lautstärke an Nicolae weiter. John Paul nahm den Befehl nicht wahr, er nahm nicht einmal die Stimme wahr. Sie war lediglich Teil des furchtbaren Dröhnens in seinem Kopf.
Destiny schwenkte ihre Hand und ließ die Stimme und das Rauschen verstummen. John Paul stand mitten im Raum und blinzelte sie aus trüben Augen an. Er wirkte völlig durcheinander. Seine breiten Schultern bebten, und Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus. Er hob den Kopf und schaute an Destiny vorbei zu MaryAnn.
Destiny trübte sein Sehvermögen, um sicherzugehen, dass er keinen Blick auf die Glasscherben erhaschte. »John Paul.« Ihre Stimme war weich und melodisch und mit einem unhörbaren Zwang unterlegt. »Du musst nach Hause gehen und dort bleiben. Du willst schlafen und weder Musik hören noch telefonieren. Du willst einfach nur schlafen gehen.«
Ich durchsuche jetzt sein Haus, Destiny. Es muss irgendetwas geben, das ihn in Bewegung setzt. Ich werde es finden. Vikirnoff ist auf dem Weg zu MaryAnns Büro, um das Foto der jungen Frau zu kopieren, die von dem Vampir verfolgt wird.
John Paul murmelte etwas und rieb sich die Augen. Er sah verwirrter denn je aus. Als Destiny in seinem Bewusstsein forschte, hatte sie Mitleid mit ihm. Er war völlig durcheinander und hatte keine Ahnung, wie er in MaryAnns Büro gekommen war oder was ihn hergeführt hatte.
»MaryAnn?« Er klang wie ein kleines Kind, das getröstet werden will. »Ich glaube, ich verliere den Verstand. Ich bin so schläfrig und weiß überhaupt nicht, was los ist.« Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und schaute sich um. »War ich das? Habe ich dein Büro verwüstet?«
Destiny tätschelte seinen Arm, eine Geste, die stark an Velda erinnerte. »Geh heim, und leg dich ins Bett, John Paul. Alles wird gut.«
MaryAnn sah ihm mit sorgenvoller Miene nach. »Wird wirklich alles wieder gut, Destiny? Hat das hier etwas mit einem Vampir zu tun? Hast du irgendeine Ahnung, was vorgeht? Diese Gewalt muss endlich ein Ende haben. Sie ruiniert Leben.«
»Velda hat mir von einer Frau erzählt, einer Blythe Madison, die vor einer Weile ähnliche Probleme hatte. Sie wurde von ihrem Mann in ein Krankenhaus gebracht.«
»Harrys Frau. Sie ist ein wundervoller Mensch. Ich besuche sie zweimal im Monat. Sie erinnert sich an keinen ihrer Ausfälle, bleibt aber freiwillig im Krankenhaus. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dass ihr Zusammenbruch etwas Ähnliches sein könnte wie das, was mit John Paul und Martin passiert ist. Wie könnten diese Ereignisse Zusammenhängen?« MaryAnn kauerte sich auf den Boden und begann vorsichtig, die Stücke der zerbrochenen Lampe aufzuheben und die Scherben in den Papierkorb zu werfen.
Destiny konnte sehen, dass MaryAnns Hände zitterten. Tränen schimmerten in ihren Augen. Ihre Reaktion erschütterte Destiny mehr als alles andere. MaryAnn hing aufrichtig an diesen Menschen, und es tat ihr sehr weh, dass sie solche Schwierigkeiten hatten.
»Wir sind der Wahrheit ein ganzes Stück näher gekommen«, versicherte Destiny ihr. »Ich weiß nicht, wer dahintersteckt, aber John Paul stand unter irgendeinem Befehl.«
MaryAnn blickte auf und blinzelte ihre Tränen weg. »Als stünde er unter Hypnose?« Ihre Stimme klang auf einmal sehr nachdenklich.
»Beschäftigt sich irgendjemand hier mit Hypnose?«
»In der Klinik gibt es einen Arzt. Er kommt zweimal im Monat. Er glaubt, dass Hypnose in der Schmerztherapie oder bei der Raucherentwöhnung und ähnlichen Fällen helfen kann. Ich war einmal bei ihm, konnte mich aber ganz und gar nicht mit seinen Schlafzimmerallüren anfreunden. Er ist ein Verwandter von Harry, ein Cousin oder so; deshalb lässt er sich überhaupt herab, in unser bescheidenes, kleines Viertel zu kommen. Er hat in der Innenstadt eine Praxis und arbeitet auch im Krankenhaus.«
Destiny runzelte die Stirn, während sie versuchte, diese neue Information zu verarbeiten. »Ich verstehe nicht ganz, was du mit >Schlafzimmerallüren< meinst.«
Tief im Inneren hörte sie, wie Nicolae ein unfeines Schnauben von sich gab.
Naja, ich weiß es wirklich nicht, verteidigte sie sich.
Wahrscheinlich hat er sie angemacht, während er sie untersuchte.
Er ist Arzt!
Destiny, Vampire sind nicht die einzigen Monster auf der Welt. Es gibt auch viele unter den Menschen.
Destiny hockte sich abrupt neben MaryAnn. »War dieser Arzt ungehörig dir gegenüber? Hat er dich ...?«
»Unsittlich berührt? Ja. Und er ist ein schleimiger kleiner Wurm mit einem charmanten Lächeln und einem hübschen Gesicht. Anscheinend haben einige Frauen seine Annäherungsversuche begeistert aufgenommen und Ja gesagt. Ich war nicht begeistert und habe auch keinen Hehl daraus gemacht. Er war der Meinung, dass mir Hypnose helfen würde, und empfahl mir, es damit zu versuchen. Was für ein Widerling!«
»Hast du ihn denn nicht angezeigt?«
MaryAnn senkte den Kopf. »Außer uns war niemand im Raum. Diese Art Anschuldigung gegen einen Arzt mit seinem Ruf und seinem Geld zu erheben ist riskant. Ich wollte meine Arbeit hier nicht gefährden. Ich bin einfach nie wieder zu ihm gegangen.«
»Ich frage mich, ob John Paul ihn schon mal konsultiert hat. Oder Martin. Und vor ihnen Blythe Madison.«
»Wenn Harry sein Cousin ist, wäre es doch ganz natürlich, dass er ihn bittet, sich seine Frau einmal anzuschauen, oder?«, überlegte MaryAnn laut.
Destiny neigte immer noch eher zu der Annahme, dass ein Vampir der Schuldige war. Die ganze Zeit waren ihre Überlegungen in diese Richtung gegangen. Die Legionen von Untoten mussten etwas damit zu tun haben. Wer es auch sein mochte - für Destiny war derjenige, der hinter diesen bizarren Charakterabweichungen steckte, jemand, der Menschen zum Vergnügen und völlig bewusst quälte und verletzte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch zu solchen Untaten fähig war. Dämonen waren Vampire, keine Menschen.
Nicolae war sofort bei ihr, Er spürte, dass ihre Überlegungen an den Fundamenten ihres Weltbildes rüttelten. Seine Arme hielten sie fest, sein Körper schirmte sie ab, sein Bewusstsein war mit ihrem verbunden. Nicolae, ihr Halt. Er war immer bei ihr. Sie konnte stets auf ihn zählen, trotz der Dunkelheit, die in seinem Inneren lauerte und die er fast sein ganzes Leben lang bekämpft hatte. Trotz des schlechten Blutes, das jetzt in seinen Adern floss, war Nicolae gut.
Nicolae. Sie hauchte seinen Namen in einem jähen Aufwallen von Liebe. Er gab ihr langsam ihr Leben zurück, Stück für Stück. Und die ganze Zeit war er bei ihr, um sie zu trösten und zu stärken. So war es schon immer gewesen.
»Destiny?« MaryAnns Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Wenn der Doktor etwas damit zu tun hat... wenn er wirklich irgendetwas Schlimmes mit Helena und John Paul, Martin und Tim und Vater Mulligan angestellt hat ... und die arme Blythe jetzt in einem Krankenhaus lebt und davon überzeugt ist, den Verstand verloren zu haben ... Ich hätte es verhindern können. Ich hätte ihn anzeigen müssen. Was ist, wenn ich ihn hätte aufhalten können?« Sie kauerte auf dem Boden und sah völlig verloren aus.
»Nein! Was denkst du denn da, MaryAnn?« Destiny zog ihre Freundin an sich und umarmte sie stürmisch. »Du solltest es besser wissen, statt so einen Unsinn zu reden. Wie kannst du für etwas verantwortlich sein, das sich irgendein Irrer einfallen lässt? Wir wissen nicht einmal, ob der Doktor irgendetwas mit diesen Vorfällen zu tun hat. Wir haben noch längst nicht alle Fakten beisammen, aber selbst wenn er mit einem Zauberstab wedelt und das ganze Viertel verhext, kannst du nichts dafür.«
»Du klingst genauso wie ich. Das ist in der Theorie alles gut und schön; wenn ich ihn angezeigt hätte, wäre er vielleicht nicht in der Lage gewesen, meine Freunde zu manipulieren.«
»Oder, was viel wahrscheinlicher ist, er hätte seine Tätigkeit in eine andere Gegend verlagert, wo niemand einen Unterschied bei den Leuten bemerkt hätte. Verstehst du, MaryAnn ? In diesem Viertel stehen sich die Leute so nahe, dass sie nicht ohne Weiteres akzeptieren, wenn jemand wie John Paul, der Helena so sehr hebt, auf einmal auf sie losgeht und sie zusammenschlägt. Sie dulden es nicht, dass Martin Vater Mulligan überfällt. Alle haben begonnen, einander zu beobachten, und versucht, eine Erklärung für diese Vorfälle zu finden.«
»Du musst herausfinden, wer dafür verantwortlich ist, und es beenden, hörst du?«, bat MaryAnn sie.
Destiny umarmte sie noch einmal. »Genau das habe ich vor.«