Kapitel 4
Destinys Magen zog sich vor Angst krampfhaft zusammen, und ihr erster Instinkt war, aufzuspringen und zu kämpfen, aber der Druck seiner Finger auf ihrem Nacken war eine deutliche Warnung, sich nicht zu rühren. Ohne seinen strengen Blick von MaryAnn zu wenden, beugte sich Nicolae zu Destiny vor, bis sein Atem warm über ihre Haut wehte und seine Lippen ihr Ohrläppchen streiften. Es war nur der Hauch einer Berührung, doch ihr Herz schlug sofort schneller, und Hitze strömte durch ihre Adern. »Du kannst an einem Ort wie diesem nicht die Aufmerksamkeit auf unsere Art lenken, Destiny. Das ist das Letzte, was du wünschen würdest.«
Sein Haar streichelte ihre Haut wie Rohseide, und Destiny erschauerte bis in die Zehenspitzen. Sein männlicher Duft hüllte sie ein, lockte und verführte sie. Sein Arm, der so beiläufig auf ihrer Schulter ruhte, war hart von Muskeln und Sehnen und fühlte sich durch den dünnen Stoff ihrer Bluse heiß an. Destiny nahm Nicolae so intensiv als Mann wahr, dass sie nicht klar denken konnte. Ihre Welt reduzierte sich, bis es nur noch sie und ihn gab. Ein eigenartiges Rauschen dröhnte in ihren Ohren. Ihr Körper schien bleischwer und doch lebendig zu sein, und jeder Nerv in ihr schrie auf - ob vor Angst oder vor Verlangen, wusste sie selbst nicht zu sagen. Und es kümmerte sie nicht.
Destiny hatte fast ihr ganzes Leben allein verbracht und war kaum jemals mit Menschen in Berührung gekommen, außer um Nahrung zu sich zu nehmen; und sie hatte so gut wie nie mit jemandem gesprochen. Aber hier in diesem Lokal war sie umringt von Leuten und überwältigt von dem Geräusch von Herzschlägen und dem Geruch nach Blut, Alkohol und Parfüm. Die Musik hämmerte in einem primitiven Rhythmus. Der Lärm war ohrenbetäubend, die Gerüche erstickend. Das alles war zu viel für sie. Sie hätte nie zulassen dürfen, dass die Tür zu ihrer Vergangenheit auch nur einen Spaltbreit aufgestoßen wurde. Und dann war noch Nicolae hier, in einem Moment, in dem sie sich völlig verloren fühlte. Auf ihre ungewöhnliche körperliche Reaktion auf ihn war sie nicht vorbereitet gewesen.
»Wie in aller Welt kommen Sie auf die Idee, ich könnte Destiny etwas antun ?« MaryAnn wirkte eher schockiert als verängstigt. »So etwas würde mir im Traum nicht einfallen. Destiny ist verstört, und zwar mit Recht, aber nicht meinetwegen. Sind Sie ein Freund von ihr ?«
Destiny ließ langsam ihren Atem heraus und versuchte, sich unter diesen starken Fingern, die ihren Nacken massierten, zu entspannen. MaryAnns Stimme brachte sie schlagartig in die Wirklichkeit zurück. So tun, als ob. Sie beherrschte die Kunst der Täuschung meisterhaft, wenn es sein musste. Sein Daumen strich über die Pulsader an ihrer Kehle, die so hektisch pochte, hin und her, sanft und beruhigend. Nicolae konnte spüren, wie sie zitterte - wie hätte es anders sein können? Er konnte ihr Herz laut schlagen hören, und dieser verräterische Puls sagte ihm weit mehr, als ihr lieb war. Aber sie konnte einfach nicht aufhören zu zittern. Sie, die immer so diszipliniert war, konnte unter der Liebkosung seiner Finger ihren eigenen Puls nicht kontrollieren.
»Vielleicht habe ich die Situation missverstanden. Ich konnte quer durch den Raum spüren, wie durcheinander Destiny war, und dachte, Sie würden sie so aus der Fassungbringen.« Nicolae lächelte die Frau charmant an und verbeugte sich leicht. Seine makellosen weißen Zähne blitzten, und der Ausdruck auf seinem sinnlichen Gesicht war freundlich und liebenswürdig. Er wirkte wie ein Adliger aus der Alten Welt, wie ein Schlossherr, der seine Gäste begrüßt. Er beugte sich weiter nach vorn und hauchte einen Kuss auf Destinys dunkles Haar. Einige Strähnen verfingen sich einen Moment lang in den Bartstoppeln an seinem Kinn und verbanden sie miteinander. »Ich kann es nicht ertragen, wenn sie verstört ist. Verzeihen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe. Mein Name ist Nicolae von Shrieder.«
»MaryAnn Delaney.« MaryAnn konnte den Blick nicht von Destinys blassem Gesicht wenden. Einen Moment lang glaubte sie, winzige Blutstropfen auf Destinys Stirn zu sehen, aber Nicolae beugte sich über die junge Frau, sodass er MaryAnn mit Kopf und Schultern die Sicht versperrte, und küsste sie zart auf die Stelle. Als er sich aufrichtete, waren die kleinen Tropfen nicht mehr zu sehen, und MaryAnn war überzeugt, sich das Ganze nur eingebildet zu haben.
Nicolaes Zunge flüchtig über ihre Haut huschen zu fühlen, war mehr, als Destiny ertragen konnte. Noch eine Minute, und sie würde völlig die Beherrschung verlieren. Sie hatte keine Ahnung, wozu sie imstande wäre, wenn sie hysterisch wurde, doch Selbstbeherrschung bedeutete ihr alles, und sie war fest entschlossen, sich nicht gehen zu lassen. Destiny stemmte ihre Hände gegen den Tisch, stieß mit ihrem Stuhl absichtlich an Nicolae und sprang auf, in der sicheren Annahme, ihn zu überrumpeln.
Als hätte er ihre Bewegungen dirigiert, drehte Nicolae sie genau in seine Arme und zog sie an sich. »Entschuldigen Sie uns«, bat er MaryAnn und wirbelte Destiny elegant auf die Tanzfläche.
»Was machst du denn?« Zu ihrem Entsetzen bebte ihre Stimme. Ihr Hunger wurde zu Gier, zu einem schrecklichen, unerbittlichen Verlangen, das sie nicht ignorieren konnte. Ihr Gesicht schmiegte sich in die Wärme seiner Schulterbeuge. Sie erinnerte sich daran, wie er geschmeckt hatte. Mit seinem Blut auf ihrer Zunge war der unersättliche Hunger zum ersten Mal gelindert worden, und die ständige Qual in ihrem Inneren hatte nachgelassen. Nie zuvor hatte sie sich so gesättigt gefühlt.
»Ich tanze mit dir«, antwortete er leichthin und zog sie noch enger an sich.
Ihre Körper waren dicht aneinandergepresst, ihre Kleidungsstücke die einzige Barriere. Bei jedem wiegenden Schritt drückten sich Destinys Brüste an seinen Oberkörper, und ihre Spitzen rieben sich an seinem Hemd. Seine Muskeln fühlten sich straff und gut definiert an, als er mit ihr über die Tanzfläche glitt. Mehr als alles andere nahm sie die harte Ausbuchtung wahr, die sich an ihren Bauch presste, als sie sich miteinander bewegten - miteinander schwebten. Es machte ihr Angst, aber es faszinierte sie auch. Ihr eigenes Blut schien zäher zu fließen, und in ihrem Inneren pochte und brannte ein unbekanntes Verlangen.
Ihre Füße berührten kaum den Boden. Sie hatte noch nie im Leben getanzt, doch ihr Körper passte sich mühelos seinen Schritten an, als wäre sie dazu bestimmt, seine Partnerin zu sein.
»Schließ die Augen, und überlass dich ganz der Musik.« Und mir. Er wisperte es in ihr Ohr, während seine Hand an ihrem Rücken hinunterglitt. Du hast nichts zu dir genommen, Destiny. Wie kannst du so hungrig an so einen Ort kommen? Willst du dich selbst bestrafen?
Es kam der Wahrheit zu nahe. Sie war gekommen, um MaryAnns Erinnerungen zu löschen, um das Vertrauen einer Frau zu enttäuschen, die von Grund auf gut war.
Du bist nicht schlecht. Er raunte die Worte an ihrer Haut, aber sie erklangen auch in ihrem Inneren. Seine Zunge strich über ihre Pulsader und kostete genießerisch ihre Haut. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich. Du gehörst zu den Karpatianern, einer Rasse, die in Harmonie mit der Natur lebt. Wir sind Beschützer der Menschheit. Du tötest nicht leichtfertig.
Er tötete sie. Mit Hoffnung und Träumen. Mit Dingen, die ihr unerreichbar schienen. Vertrauen würde sie einem von seiner Art nie schenken können. Er weckte Gefühle in ihr, die sie nicht wollte, das Verlangen nach Dingen, die sie nicht haben konnte. Alles, was sie an Selbsterhaltungstrieb besaß, ermahnte sie, sich aus seinen Armen zu winden und um ihr Leben zu laufen. Stattdessen kuschelte sie sich fast wie von selbst enger an ihn und fand seinen verlockenden Pulsschlag mit ihrem Mund.
Ich könnte dich töten, hauchte sie. Dir gleich hier das Blut aus dem Körper saugen. Er sollte wissen, dass sie sich noch nicht entschieden hatte. Dass sein Schicksal noch nicht feststand und es nichts bedeutete, wenn sich ihre Finger in die Seide seines Hemdes schlangen. Dass es nichts zu sagen hatte, wenn sich ihr Körper an seinen schmiegte. Sie hatte die Kontrolle, sie hatte Macht. Seine Stimme war reine Magie. Sie umfing sie und legte sich um ihr Herz und ihre Seele, aber das war bedeutungslos. Und so würde es immer sein.
Ja, das könntest du. Die Worte klangen wie ein Schnurren, eine Mischung aus Hitze und Rauch. Nimm, was du brauchst. Ich gebe es dir gern. Wieder fuhr er mit seinen Lippen über ihr Haar, und sein Atem streifte warm ihre Wange, als er normal weitersprach. »Bei jedem Erwachen spüre ich deine Schmerzen am eigenen Leib. Ich wache mit deinen Qualen in meiner Seele auf.« Seine Hände griffen in ihr seidiges Haar. »Es ist mein Recht, für dich zu sorgen und dich zu trösten. Wenn du meinen Tod willst, meine Kleine, wenn es das ist, was du zum Überleben brauchst, dann soll es so sein. Ich würde ohne Zögern mein Leben für dich geben.« Ich bin bereit, dir mein Leben zu geben. Ein Ausdruck von Zärtlichkeit schwang in seiner Stimme mit. Und Aufrichtigkeit.
Ihre Augen brannten, so sehr strengte sie sich an, ihn nicht zu sehen, ihn nicht zu hören und ihm nicht zu vertrauen. Ihn nicht zu brauchen. Verführerische Hitze lockte sie. Ihre Zunge fuhr leicht über seine Pulsader. Sie spürte seine Reaktion. Es war nicht Angst, sondern Hunger, scharf und eindringlich. Ein erotischer Hunger, der so groß war, dass sein muskulöser Körper erschauerte, hart wurde und noch heißer. Sein Atem ging schneller.
Nicolae zog sie in den Schatten, weg von neugierigen Blicken, und ließ ihre Erscheinungen verschwimmen, sodass ein feiner Dunstschleier zwischen dem Paar und den anderen Leuten im Lokal zu hängen schien. Endlich war sie in seinen Armen, dort, wo sie hingehörte! Er zwang sie, das tiefe Verlangen zu spüren, das sie beide empfanden. Er wusste, was für einen furchtbaren inneren Kampf sie ausfocht. Sie hatte das Grauen ihrer Kindheit überwunden, indem sie sich für die Einsamkeit entschieden hatte. Indem sie nie einem anderen vertraute. Er wusste, was er von ihr verlangte.
Vertrauen. So einfach und doch so schwer zugleich. Wie konnte er das von Destiny verlangen? Sie hatte gelernt, niemals jemandem zu trauen. Ihr Leben, ihre Seele selbst, hatten davon abgehangen.
Nicolae senkte die Wimpern und legte sein Kinn auf ihren Kopf. Sein Herz zerbrach in tausend Stücke. Er kannte seine Macht, seine ungeheure Stärke. Aber er konnte und würde Destiny nie zu etwas zwingen. Wenn sie jemals zusammenkamen, dann nur mit ihrem vollen Einverständnis. Anders war es nicht möglich. Ein grauenhaftes Monster hatte sie erniedrigt und beschmutzt und gewaltsam zu furchtbaren Dingen gezwungen, zu Jahren unvorstellbarer Qualen. Nicolae konnte unmöglich eine Beziehung zu ihr erzwingen. Wie könnte er etwas tun, das auch nur im Entferntesten an die Untaten der abartigen Kreatur erinnerte, die ihr ihre Kindheit gestohlen hatte, ihre Familie und ihre Unschuld?
Destiny bewegte sich unruhig in Nicolaes Armen. Du solltest mich nicht in Versuchung führen, Nicolae. Sie hatte seinen schönen Namen nicht aussprechen wollen. Sie wollte keinerlei Vertrautheit zwischen ihnen, und sein Name war viel zu weich und melodisch. Und wenn sie ihn aussprach, wenn auch nur im Geist, hatte dieser Name einen ganz falschen Klang: rauchig, intim, sehnsüchtig. Sie hauchte seinen Namen an seinen Puls, während ihr Körper brannte und pulsierte und Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten. Hilflos legte sie ihren Mund an seine Haut, quälte ihn und sich selbst.
»Destiny.« Seine Stimme klang gepresst.
Sie gab einen kleinen Schreckenslaut von sich und löste sich von ihm. Nicolae sah die Verwirrung und die Furcht in ihren Augen. »Lass mich in Ruhe!«, befahl sie und wich einen Schritt zurück. Sie hatte Angst vor ihm. Angst um ihn.
Aus dem Augenwinkel erhaschte er eine Bewegung auf der anderen Seite des Raumes. MaryAnn war aufgestanden und schaute beunruhigt zu ihnen. Sie ging ein paar Schritte auf sie zu, blieb aber stehen, als Destiny warnend die Hand hob. Dann war Destiny verschwunden, so schnell, dass nur ein Flirren in der Luft zu bemerken war. Nicolae blieb auf der Tanzfläche zurück. Sein Körper war hart wie Stein, und sein Herz sehnte sich schmerzhaft nach seiner Gefährtin.
MaryAnn kam zu ihm. »Sagen Sie mir, wie ich ihr helfen kann.« Sie tippte an seinen Arm. »Wenn ich den Kummer in Destinys Augen sehe, bricht es mir das Herz. Ich weiß, dass ich ihr helfen kann.«
Nicolae starrte die Frau an; er sah das Mitgefühl und die Entschlossenheit in ihrem Gesicht. Obwohl er nie Destinys Blut genommen und so das Band zwischen ihnen verstärkt hatte, ging er schon seit Jahren in ihrem Bewusstsein ein und aus. Ihre starken übersinnlichen Fähigkeiten hatten ihr in dem Augenblick, als sie die grausamsten Qualen ihres Lebens gelitten hatte, ermöglicht, sich geistig vollständig mit Nicolae zu verbinden. Obwohl Destiny versucht hatte, MaryAnn vor ihm verborgen zu halten, hatte er sie oft in Destinys Bewusstsein gesehen. Diese Frau wusste mehr, als irgendein Mensch wissen sollte. Sie wusste Dinge, die ihr Tod sein könnten.
»Ich bin keine Bedrohung für Sie«, versicherte MaryAnn leise. Nicolaes Gesicht glich einer undurchdringlichen Maske. Schön und anziehend. Gefährlich. Sie wusste instinktiv, dass er genau wie Destiny nicht ganz Mensch war. »Ich möchte ihr helfen. Sie hat mir zweimal das Leben gerettet.«
»Sie hat Dinge überlebt, die so grauenhaft waren, wie Sie es sich nicht einmal annähernd vorstellen können. Wie kommen Sie darauf, dass Sie ihr helfen können?«
Obwohl seine Worte mit tiefer, klangvoller Stimme gesprochen wurden, schwang etwas in dem klaren Tonfall mit, das sie erschauern ließ. Sie redete mit einem mächtigen Wesen, einem Wesen, über das sie nichts wusste. Mit jemandem, der jeden Tag seines Lebens Entscheidungen über Leben und Tod traf. MaryAnn spürte die Eindringlichkeit jedes einzelnen Wortes. Sie hob ihr Kinn. »Weil sie mich ausgesucht hat.«
Nicolae betrachtete lange Zeit ihr Gesicht. Sie hatte das Gefühl, dass er mehr als nur ihr Äußeres studierte. Einen schrecklichen Moment lang spürte sie, wie er in ihr Bewusstsein eindrang. Er machte sich nicht die Mühe, es vor ihr zu verheimlichen, sondern zeigte ihr absichtlich seine Macht. Es war eine nicht übermäßig subtile Drohung, eine Warnung.
Was er auch gefunden hatte, es schien ihn zufriedenzustellen, denn er zog sich aus ihrem Geist zurück, ohne ihre Erinnerungen anzutasten.
»Haben Sie eine Ahnung, worauf Sie sich einlassen?«, fragte Nicolae mit leiser, eindringlicher Stimme. »Sie müssen sich ganz sicher sein, dass Sie es wirklich wollen. Sie wissen, was ich bin. Sie wissen, was sie ist. Und Sie haben eine ungefähre Vorstellung von dem Dämon, den wir jagen. Einer ist hier in der Stadt - mindestens einer, wenn nicht mehr. Er ist jetzt irgendwo da draußen und tötet unschuldige Menschen. Vielleicht ein kleines Mädchen mit den gleichen erstaunlichen Gaben, die Destiny auszeichnen. Dass Sie von unserer Existenz wissen, stellt eine große Gefahr für alle Unsterblichen dar, ob sie nun Vampire sind oder Jäger. Es ist nur in seltenen Fällen erlaubt.«
MaryAnn folgte Nicolae zu einem Tisch in einer Ecke, weit weg von der Menge. Was sie jetzt auch sagte, es würde für ihr Schicksal entscheidend sein, das wusste sie. Sie dachte an Destinys Augen, die so unglücklich und gehetzt wirkten. »Ich kann sie nicht weiter so leiden lassen. Sie wird den Weg zurück nicht finden, Nicolae. Das weiß ich. Sie glauben, Sie können Sie erreichen. Und bis zu einem gewissen Grad schaffen Sie es vielleicht, aber das ist nicht genug. Sie hat ein furchtbares Trauma erlitten. Es wird nicht einfach verschwinden, nur weil Sie es erzwingen wollen.«
»Sie setzen Ihr Leben aufs Spiel.« Er wollte, dass sie die Wahrheit erfuhr. »Destiny würde das nicht wollen.« Er zog einen Stuhl zurück und wartete höflich, bis MaryAnn Platz genommen hatte. Dann setzte er sich und winkte ab, als eine Kellnerin fragend in ihre Richtung schaute. »Denken Sie gut nach, ehe Sie weitersprechen. Ich kann all das aus Ihrem Gedächtnis tilgen. Jede Erinnerung an Destiny und mich und die Kreatur, die Sie töten wollte. Alles. Sie werden sich nie mehr Sorgen um Destiny machen, weil Sie sich nicht mehr erinnern werden, dass es sie überhaupt gibt.«
»Das will ich nicht.« MaryAnn schüttelte energisch den Kopf. »Sie ist mir wichtig, und ich glaube, ich bin ihr auch wichtig.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Ich komme damit zurecht, ganz bestimmt. Ich habe Angst. Es wäre dumm von mir, keine Angst zu haben, aber Sie wissen nicht, was sie für mich getan hat. Zwei Mal. Sie hat mir zweimal das Leben gerettet. Sie hat dem Frauenhaus viel Geld gegeben, Geld, das wir dringend brauchten, um zu expandieren und dafür zu sorgen, dass die Frauen therapeutische Hilfe und bessere Chancen auf einen Job bekommen. Das hat Destiny getan. Sie verdient auch eine Chance.«
»MaryAnn ...« Seine Stimme hüllte sie ein, sanft und bezwingend. »Ich werde mich um Destiny kümmern. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
»Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, dass sie es schaffen wird. Ich glaube, sie wird es versuchen, aber Sie werden ihr nicht helfen können, das zu bewältigen, was sie durchgemacht hat.«
»Ich habe es mit ihr zusammen durchgemacht.«
»Ich weiß«, entgegnete sie ruhig. »Ich sehe in Ihren Augen dasselbe wie in Destinys Augen.«
»Ich verstehe sie, verstehe, was sie braucht. Und es ist uns bestimmt, zusammen zu sein. Wir sind zwei Hälften desselben Ganzen.«
»Destiny ist nicht ganz, Nicolae; sie ist gebrochen und verstört. So kann sie unmöglich eine Beziehung eingehen. Ich glaube, das wissen Sie, sonst würden Sie nicht mit mir reden. Sie hätten meine Erinnerungen längst gelöscht.«
»Wenn ich Sie mit diesem Wissen zurücklasse, muss ich in der Lage sein, Sie jederzeit überwachen zu können. Ich bin für die Sicherheit meines Volkes verantwortlich. Ich muss wissen, dass Sie imstande sind, unser Geheimnis zu bewahren, und ich muss dafür sorgen, dass die Untoten Sie nicht dazu benutzen, um an Destiny heranzukommen.«
MaryAnn schluckte ihre Angst hinunter. »Das scheint mir gerechtfertigt zu sein.«
»Es bedeutet, dass ich Ihr Blut nehmen muss, MaryAnn. Ich will Sie nicht umwandeln, sondern nur eine kleine Menge von Ihrem Blut nehmen, um jederzeit geistig mit Ihnen in Verbindung treten zu können. Es wird nicht wehtun, und Sie sind dabei keiner Gefahr ausgesetzt, aber die Vorstellung ist für Menschen äußerst unangenehm.«
MaryAnn stützte ihr Kinn auf ihre Hand und studierte schweigend sein Gesicht. »Destiny hatte keine Wahl, oder?«
Nicolae schüttelte den Kopf. »Das bösartigste aller Geschöpfe hat sie umgewandelt. Der Untote. Ein Vampir lebt für die Schmerzen anderer. Er hat sie jahrelang leiden lassen. Er hat sie jeder Demütigung ausgesetzt, die ihm einfiel. Er hat vor ihren Augen Männer, Frauen und Kinder ermordet und sie gezwungen, ihr Blut zu trinken. Er hat sie körperlich jahrelang auf die schlimmste Art und Weise gepeinigt, obwohl sie ein unschuldiges Kind war.«
MaryAnn fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Und Sie finden, ich soll sie aufgeben, weil ich vielleicht ein, zwei unangenehme Augenblicke über mich ergehen lassen muss? Ich schulde ihr mehr als das. Nehmen Sie mein Blut, wenn Sie es für erforderlich halten, Nicolae. Versuchen wir, eine Möglichkeit zu finden, ihr zu helfen.«
Destiny stürzte in die Nacht hinaus und sog in tiefen Zügen Luft in ihre Lunge. Es war demütigend, wie ein kleines Kind zu zittern, nur weil sie in der Nähe so vieler Menschen war. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass ihre Unruhe andere Gründe haben könnte. Wie konnte sie sich wünschen, die Haut eines Mannes zu berühren? In seinen Armen zu liegen? Ihn in ihren Körper einzuatmen?
Sie wusste Bescheid über Männer, darüber, was sie taten, was sie von einer Frau wollten ... von einem Mädchen ... einem Kind. Ein Schrei entrang sich ihr aus tiefster Seele, Ausdruck des Entsetzens eines Kindes, das einem Monster ausgeliefert war. Sie hielt den Aufschrei mit der Hand zurück, als wollte sie ihn in ihre Kehle zurückschieben und das Entsetzen dort begraben, wo sie es nie wieder sehen konnte.
Die Nacht ist so schön, Destiny. Klar und kühl und frisch. Schau zu den Sternen hinauf. Seine Stimme war wie Magie, sanft und beruhigend. Wie aus dem Nichts war sie auf einmal da und verscheuchte die Erinnerungen an harte, verletzende Hände, an Ströme von Blut, an die Gesichter der Verdammten. Nichts ist so schön wie die Nacht. Sogar die Blätter schimmern silbrig. Daran erinnere ich mich gar nicht. Ist dir die Farbe aufgefallen ? Heute Abend ist es wie Silber und Gold. Der Wind flüstert uns etwas zu. Hörst du? Hör ihm einfach zu, meine Kleine. Er erzählt uns von den Geheimnissen der Erde.
Sie schloss die Augen, lauschte seiner Stimme, konnte wieder atmen und wusste, dass sie am Leben war. Wusste, dass sie es eine weitere Minute schaffen konnte. Eine weitere Stunde. Sogar eine weitere Nacht. In diesem Augenblick erkannte Destiny die Wahrheit; sie erkannte und akzeptierte sie. Wenn sie überleben wollte, musste auch Nicolae am Leben bleiben. Die Albträume, die sie quälten, waren viel zu schlimm, als dass sie allein damit fertig werden könnte. Vielleicht würde sie durchhalten und jeden anderen Kampf gewinnen, nicht aber den um ihre Seele. Das war Nicolaes Kampf.
Sie holte tief Luft und hob den Blick zum Himmel, zu den Sternen, die wie Edelsteine über ihrem Kopf funkelten. Langsam wich die Anspannung aus ihrem Körper, aber der Hunger blieb. Ein Hunger, dem sie nie entkommen konnte.
Dein Hunger ist ebenso natürlich wie das Bedürfnis zu atmen, Destiny. Wir entstammen der Erde. Wir essen nicht das Fleisch anderer Lebewesen. Ist das, wovon wir uns ernähren, so schrecklich? Wir schaden niemandem. Wir beschützen Menschen. Wir leben unter ihnen, machen Geschäfte mit ihnen. Genauso, wie du gelernt hast, dich um die Menschen zu kümmern, die in diesen Häusern leben, wirst du lernen, für unser eigenes Volk zu sorgen.
Ihre erste Reaktion war Ablehnung. Noch mehr von ihnen? Vampire? Sie schüttelte den Kopf und zwang sich, über seine Worte nachzudenken. Karpatianer. Eine Rasse von Wesen, der sie jetzt angehörte. Wesen mit besonderen Fähigkeiten. Wesen, die Kirchen betreten und unter Knoblauchsträngen stehen konnten. Plötzlich lachte sie, und der Klang wehte die Straße hinunter wie Musik. Sie hatte ein Spiegelbild. Sie wusste, wie sie aussah.
Ihre innere Anspannung begann sich zu lösen. Destiny atmete tief ein, froh, allein zu sein. Plötzlich erregte eine Bewegung ein Stück weiter unten auf der Straße ihre Aufmerksamkeit, und sie wandte den Blick in diese Richtung.
»Kommen Sie, Mädchen!« Velda Hantz winkte ihr gebieterisch über die Straße zu.
Destiny hatte vergessen, sich für menschliche Augen unsichtbar zu machen. Velda rief erneut nach ihr und schwenkte so lebhaft den Arm, dass sie beinahe vom Sessel gefallen wäre. Destiny, die es nicht übers Herz brachte, die alte Dame zu enttäuschen, lief den Bürgersteig hinunter, bis sie bei den beiden Schwestern war. Sie lächelten sie offen und freundlich an.
»Endlich! Ich habe Sie schon ein paarmal gesehen«, stellte Velda befriedigt fest. »Stimmt’s, Schwester? Habe ich nicht zu dir gesagt, dass eine so hübsche junge Frau spätabends nicht allein unterwegs sein sollte? Sie brauchen einen jungen Mann. Keine Sorge, Inez und ich haben gründlich darüber nachgedacht und wissen genau, was für ein Typ Mann es sein sollte.«
Destinys Augenbrauen fuhren in die Höhe, und sie blinzelte mehrmals, während sie verdaute, was Velda da sagte. Wollten die beiden Frauen sie etwa mit irgendeinem Mann verkuppeln? »Sie kennen mich doch gar nicht. Ich könnte eine ganz schreckliche Person sein. Sie wollen mich sicher nicht irgendeinem armen, ahnungslosen Mann anhängen, oder?«
Velda und Inez wechselten einen Blick und strahlten sie dann an. »Nein, Schätzchen, Sie sind ein nettes kleines Ding. Sie brauchen einen Mann und eine Bleibe. Wir haben schon an die kleine Wohnung gleich gegenüber gedacht. Wäre genau das Richtige für Sie. Ich bin Velda Hantz, und das ist meine Schwester Inez. Fragen Sie, wen Sie wollen - wir haben einen guten Ruf als Ehevermittlerinnen.«
Destiny hatte sich selbst noch nie als »kleines Ding« gesehen. Ein zögerndes Lächeln fand kurz zu ihren Augen.
»Na bitte, Schätzchen, es ist doch viel besser, wenn Sie lächeln.« Veldas Haar mit den rosa Spitzen wippte, als sie lebhaft nickte. »Ich habe das zweite Gesicht, wissen Sie. Ich sehe einen jungen Mann für Sie. Ein hübscher Kerl mit guten Manieren.«
»Und reich, meine Liebe«, ergänzte Inez. »Velda hat mir erzählt, dass er hübsch und reich ist.« Sie lächelte, und ihr violett getöntes Haar strahlte in der Dunkelheit. »Das müsste Sie doch freuen. Lassen Sie sich häuslich nieder, Schätzchen, und bekommen Sie zwei, drei Kinder. Sie werden bestimmt glücklich. Ich wollte zehn Kinder, aber Velda hat mir meinen Verehrer direkt vor der Nase weggeschnappt.«
Destiny starrte die beiden Frauen sprachlos an, als sie einladend auf einen leeren Gartenstuhl klopften. Sie erwarteten offensichtlich, dass sie sich zu ihnen setzte. Da sie nicht wusste, wie sie ablehnen sollte, ohne unhöflich zu wirken, ließ sie sich vorsichtig nieder. Ihr war bewusst, wie sich Nicolae in diesem Moment über die Zwickmühle amüsierte, in der sie steckte; sie fühlte sein Lachen wie den zarten Hauch von Schmetterlingsflügeln in ihrem Inneren. Indem sie ihre Aufmerksamkeit den zwei Schwestern zuwandte, ignorierte sie ihn bewusst, fragte sich aber flüchtig, wie es möglich war, dass sie so eng miteinander verbunden waren. Wie konnte er an ihren Geist rühren, obwohl er nie ihr Blut genommen hatte?
Velda schnaubte und tätschelte Destinys Arm. Ihr schien nicht aufzufallen, dass Destiny leicht zusammenzuckte und ein Stück zurückwich. »Inez war eine richtige Schönheit. Alle Männer waren verrückt nach ihr. Aber sie konnte sich nie für einen entscheiden. Es machte ihr Spaß, ihnen allen den Kopf zu verdrehen. Dass ich ihr einen Verehrer ausgespannt habe, hat sie sich bloß ausgedacht. Ich bin eine richtige alte Jungfer. Ich wollte nie einen Mann, und sie wollte ganz bestimmt nie zehn Kinder! Stimmt doch, Inez, oder? Du wolltest in einer Bar singen.«
»Ich habe in einer Bar gesungen«, gab Inez hochmütig zurück. Sie klopfte Destiny aufs Knie, ohne zu bemerken, dass diese ihrer Berührung auswich. »Ich war eine Wucht, meine Liebe, ein bisschen so wie Sie. Aber ich hatte eine richtige Figur. Ich war nicht so eine Bohnenstange wie ihr Mädchen von heute. Und ich hatte eine Stimme wie ein Engel. Stimmt’s, Schwester?«
»Wie ein Engel«, bestätigte Velda. Sie lehnte sich zu Destiny vor. »Schauen Sie nicht mich an, Schätzchen. Tun Sie so, als wären Sie an der Wohnung über dem Kleiderladen da drüben interessiert.« Sie hob lässig die Hand, und Destiny folgte der Richtung, in die ihr Finger zeigte. Sofort senkte Velda ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Wir haben uns überlegt, ob wir einen Privatdetektiv engagieren sollen. Gerade eben haben wir darüber gesprochen. Ich finde, wir brauchen einen hartgesottenen Burschen wie Mike Hammer, aber Inez glaubt, ein Intellektueller wie Perry Mason wäre besser. Was meinen Sie?«
Destiny starrte sie mit offenem Mund an. Sie hatte keine Ahnung, wovon die Schwestern sprachen. »Und warum glauben Sie, dass Sie einen Privatdetektiv brauchen?« Das war das Einzige, was ihr einfiel. Sie hatte keine Ahnung, was diese exzentrischen Damen von ihr wollten. Die Vorstellung, zwei Siebzigjährige könnten einen »hartgesottenen« Detektiv brauchen, war lachhaft. Destiny beobachtete die Frauen seit einigen Monaten. Sie waren offen und ehrlich und so sehr Teil dieses Viertels, dass sie sich die Straßen ohne sie gar nicht vorstellen konnte.
Velda schaute sich vorsichtig um. Inez tat dasselbe. Gleichzeitig rückten sie näher an Destiny heran. »Hier gehen merkwürdige Dinge vor«, raunte Velda ihr zu.
Inez nickte feierlich. »Das stimmt. Erzähls ihr, Schwester. Hören Sie sich das an, Liebes - es ist mojo. Schlimmes, schlimmes mojo.«
Destiny stieg ein Lachen in die Kehle, doch sie zwinkerte hastig und bemühte sich, ernst zu bleiben. Die beiden Frauen verdienten Respekt. Sie waren Klatschbasen, aber sehr aufgeweckt. Destiny lehnte sich in ihren Sessel zurück. »Ich heiße übrigens Destiny.« Sie hatte das Gefühl, ihnen ihren Namen nennen zu müssen, weil die beiden sie oft genug auf den Straßen gesehen hatten, um sie wiederzuerkennen. Wenn Velda und Inez sie bei ihren kurzen Streifzügen durch das nächtliche Viertel entdeckt hatten, waren ihre Augen genauso scharf wie ihr Verstand. Ebenso wie die anderen Bewohner hatten sie Destinys Leben einen Anschein von Normalität gegeben. »Erzählen Sie mir bitte, was los ist.«
»Niemand hört uns zu«, klagte Inez. »Die anderen glauben, bei uns wäre eine Schraube locker.« Sie strich über ihr grelles Haar, und Destiny fiel auf, dass ihre Nägel in derselben auffallenden Violettschattierung lackiert waren. Auch ihre Tennisschuhe passten dazu. Die Schnürsenkel waren zu Spiralen gedreht und metalliclila.
»Das bezweifle ich«, widersprach Destiny energisch. »Sie werden von allen hier respektiert. Wenn Sie sagen, dass irgendetwas vorgeht, stimmt es vermutlich. Ich würde allerdings gern Näheres hören, bevor wir beschließen, welche Art Detektiv Sie brauchen.«
Die Schwestern wechselten einen langen, zufriedenen Blick. Es war Velda, die zur Sache kam. »Es fing vor einem Monat oder so an. Uns fielen ein paar Kleinigkeiten auf, aber zuerst konnten wir sie nicht miteinander in Verbindung bringen.«
Inez nickte weise. »Wirklich Kleinigkeiten, wissen Sie«, wiederholte sie feierlich. Ihr Haar schimmerte im eigenartigen Licht der Straßenlaterne rot und violett.
Velda sah sie streng an. »Lass mich reden, Schwester.«
»Ich bestätige nur deine Aussage. Eine Aussage muss bestätigt werden, sonst nimmt niemand sie ernst. Nicht wahr, meine Liebe, das stimmt doch? Zwei Augenzeugen sind besser als einer, oder?«
Destiny wusste nicht, ob sie selbst die Verbindung zu Nicolae suchte, ob er schon im Hintergrund ihres Bewusstseins oder sie in seinem war. Mit Sicherheit konnte sie nur sagen, dass sie jemanden an der ungewöhnlichen Beziehung teilhaben lassen wollte, die diese wundervollen Frauen hatten. Die beiden verkörperten alles, was sie sich immer von einer Großmutter gewünscht hätte. Sie brachten sie innerlich zum Lächeln und erleichterten die Last, die sie ständig trug.
Nicolaes Reaktion machte sie glücklich. Was er ihr vermittelte, waren Wärme und Erheiterung, aber kein spöttisches Lachen. Er sah die Schwestern genauso, wie sie die beiden sah. Es war das erste Mal, dass sie sich erinnern konnte, Spaß und Freude mit einem anderen zu teilen, eine Nähe, die Wärme schuf, nicht Schmerzen und Erniedrigung. Sie wusste, dass sich dieser Augenblick ihrem Gedächtnis für immer einprägen würde.
Destiny nahm jedes Detail an den beiden Frauen in sich auf - ihre offenen, ehrlichen Gesichter, ihre exzentrischen Frisuren, ihre auffallende Kleidung, sogar die grün-weiß gestreiften Gartenstühle. Den Wind, der die Blätter an den Büschen rascheln ließ und ein bisschen Staub und Abfall durch die Straßen wehte. Näher als jetzt war sie einem Gefühl von Glück nie gekommen.
»Destiny?«, hakte Inez nach. »Was Velda sagt, stimmt. Sie hat das zweite Gesicht.«
»Wirklich, Velda?«, fragte Destiny interessiert. Sie war noch nie einer anderen Person begegnet, die über besondere Fähigkeiten verfügte.
Velda nickte weise. »Ich weiß so manches über Leute«, wisperte sie. »Deshalb kann ich auch so gut Pärchen zusammenbringen. Und deshalb weiß ich, dass etwas nicht stimmt.« Das Flüstern klang ein wenig melodramatisch, und Destiny überprüfte kurz das Denken der beiden Schwestern, auch wenn sie damit wissentlich ihre Privatsphäre verletzte. Velda und ihre Schwester machten sich tatsächlich Sorgen. Sie waren überzeugt, dass sich irgendetwas Böses in ihr Wohnviertel eingeschlichen hatte, aber niemand auf sie hören würde. Im Grunde rechneten sie damit, dass Destiny sie auslachen würde.
»Ich weiß auch manches über andere«, gestand sie, um die Schwestern zu beruhigen. »Es kann beängstigend sein, Informationen zu haben und nicht zu wissen, wie man sie anderen vermitteln soll. Erzählen Sie mir bitte, was Sie beobachtet haben, Velda.«
Die alte Dame tätschelte ihren Arm. Inez streichelte ihr Knie. Keine von ihnen schien zu merken, dass sie sich innerlich vor Unbehagen wand, aber Destiny kannte die beiden jetzt. Sie verstanden sich gut darauf, in anderen zu lesen; sie wussten, dass sie nicht gern angefasst wurde, doch sie waren entschlossen, den Schutzwall zu durchbrechen, den sie um sich errichtet hatte.
»Sie sind ein gutes Mädchen, Destiny«, erklärte Velda beifällig. »Du hattest recht, Schwester - sie ist diejenige, die uns zuhören wird.«
Destiny wurde allmählich nervös. Konnten die zwei nicht endlich zur Sache kommen? Die ungewohnte Nähe zu Menschen zerrte an ihren Nerven. In ihrem Kopf hämmerte es so laut, dass sie Angst hatte, er könnte platzen.
Das Lachen eines Mannes echote leise in ihrem Hinterkopf, ein wenig spöttisch, aber sehr liebevoll und so typisch für Nicolae, der sich über die Klemme, in der sie steckte, zwar amüsierte, aber dabei nicht boshaft war. Warum geriet ihre Meinung über ihn ins Wanken? Warum entdeckte sie liebenswürdige kleine Züge an ihm? Vampire waren Blender, gewandte und sehr gerissene Blender.
Ich mag es gar nicht, dass du mich für einen Untoten hältst. Mein Herz ist durchaus lebendig und liegt ganz und gar in deinen Händen. Pass auf, dass du es nicht kaputtmachst.
Du kannst von Glück sagen, dass es nicht tatsächlich in meinen Händen ist. Sie antwortete ihm sofort auf seine Worte, die sie völlig entwaffneten. Das Einzige, was ich mit Herzen mache, ist, sie in Brand zu stecken!
Autsch! Sein Lachen wehte durch ihr Inneres und vermischte sich mit der Hitze in ihrem Blut und ließ sie auf diesem albernen Liegestuhl schmelzen wie Butter in der Sonne. Sein Lachen sollte gesetzlich verboten werden. Das hatte sie sich im Lauf der Jahre mehr als einmal gedacht.
»Angefangen hat alles mit Helena«, vertraute Velda ihr mit gesenkter Stimme an. Destinys Aufmerksamkeit konzentrierte sich sofort ausschließlich auf sie. »Haben Sie die kleine Helena schon mal gesehen? Ein nettes junges Ding mit einer richtigen Figur, nicht diese ausgehungerten Gestelle, die man heutzutage so oft sieht.«
Inez nickte. »Sie hat eine Figur wie eine echte Frau, mit Fleisch auf den Rippen, damit sich ein Mann so richtig ankuscheln kann. Und sie weiß, was sie wert ist.«
»Stimmt, Schwester, Helena weiß es. Sie hatte immer genug Selbstvertrauen, um auf den Richtigen zu warten«, pflichtete Velda ihr bei.
»Auf den Richtigen«, wiederholte Inez und nickte bekräftigend mit ihrem violetten Kopf.
Destiny kannte »das junge Ding«, von dem sie sprachen. Helena war Ende dreißig oder Anfang vierzig und immer ein bunter Farbtupfer auf der Straße, wenn sie über den Bürgersteig eilte und allen und jedem ein »Hallo« zurief. Sie hatte mahagonibraune Haut und glattes, tiefschwarzes Haar. Ihre Augen waren wie dunkle Schokolade, und sie lachte fast immer. Ihr Gang war sehr selbstbewusst, und sie wirkte ausgesprochen anziehend auf Männer.
»Ich weiß, wer sie ist«, gab Destiny zu.
»Sie hat einen Freund, einen ganz lieben Kerl. John Paul. Ein Bär von einem Mann.«
»Ein Schmusebär«, ergänzte Inez.
Destiny hatte die beiden zusammen gesehen - Helena, eine eher kleine Frau mit einer üppigen, kurvenreichen Figur, und John Paul, ein großer, kräftiger Mann, der den Eindruck machte, als wäre Helena für ihn Sonne und Mond und alles, was dazwischenlag. Sie hielten Händchen, wann immer sie zusammen unterwegs waren, und John Paul berührte Helena ständig, streichelte gern zärtlich ihr Haar, ihre Schultern oder ihren Arm. John Paul schien der sprichwörtliche gutmütige Riese zu sein und war offensichtlich sehr stolz darauf, dass es ihm gelungen war, Helenas Interesse zu fesseln.
»Sie sind schon seit Jahren zusammen«, fuhr Velda fort. »Immer harmonisch, eine perfekte Beziehung. Helena flirtet allerdings gern«, fügte sie hinzu.
»Schrecklich gern«, bekräftigte Inez.
»Aber sie geht nie mit anderen Männern aus. Sie redet und lacht mit ihnen, doch es gibt nur John Paul für sie. Sie vergöttert ihn, wirklich. Und er ist verrückt nach ihr.«
Destiny wusste, dass die Schwestern die Wahrheit sagten. Sie beobachtete die Bewohner dieses Viertels schon seit Monaten und nahm heimlich an ihrem Leben teil. John Paul lebte für Helena. Jeder seiner Gedanken galt ihr.
»Vor ein paar Wochen lief Helena weinend durch die Straßen. Als sie bei uns vorbeikam, sahen wir, dass ihr Gesicht blaue Flecken und Blutergüsse hatte. John Paul hatte sie geschlagen. Sie sagte, so etwas hätte er noch nie getan. Er kam von der Arbeit nach Hause und war ganz anders als sonst.«
Destinys Nackenhaare stellten sich unvermittelt auf. Ein Schatten kroch aus der Dunkelheit auf sie zu, und ein jäher Windstoß wirbelte dunkle Wolken auf, die die Sterne verdeckten.
»John Paul ist nicht imstande, Helena wehzutun.« Es war eine Feststellung. Destiny kannte die Gedanken dieses Mannes ebenso wie sein sanftmütiges Wesen, und sie wusste, wie sehr er Helena liebte. Er würde nie seine Beziehung mit ihr aufs Spiel setzen. Und Helena war nicht der Typ Frau, der es stillschweigend hinnahm, von einem Mann Prügel zu beziehen. »Sind Sie sicher?«
Velda nickte. »Helena glaubt, er ist krank. Sie wollte ihn bitten, zu einem Arzt zu gehen. Sie dachte, dass er vielleicht einen Gehirntumor oder so was hat. Sein Verhalten war so untypisch für ihn! Als sie ihn am nächsten Tag zur Rede stellte, schien er sich an nichts mehr erinnern zu können.«
»Kein bisschen«, bestätigte Inez. »Er war entsetzt, als er Helenas Verletzungen sah. John Paul wusste nicht mehr, dass er sie angebrüllt hatte und geschlagen und ...« Sie verstummte und sah ihre Schwester an.
Vergewaltigt. Das hässliche Wort blieb unausgesprochen, doch es ging ihnen allen durch den Kopf. Destinys Magen rebellierte. Helena liebte John Paul. Und er war zu so einer Untat völlig unfähig. Was könnte der Grund für ein so abwegiges Verhalten sein? Mit angehaltenem Atem wartete sie auf die Antwort; sie wartete darauf, dass Nicolae ihre schlimmsten Vermutungen bestätigte.
Zieh keine voreiligen Schlüsse. Wir sind in Gedanken immer bei den Untoten, aber nicht alle Verbrechen werden von Vampiren begangen. Auch Menschen sind imstande, furchtbare Dinge zu tun.
Daran wollte sie nicht erinnert werden. Destiny wollte glauben, dass ein Vampir dahintersteckte. Wie konnte ein Mensch dafür verantwortlich sein, dass sich John Pauls ganze Persönlichkeit veränderte? Das ergab für sie keinen Sinn.
»Wie geht es Helena?«
»Sie verlässt kaum noch das Haus, und wenn sie ausgeht, ist sie still und bedrückt, gar nicht wie sonst. Und John Paul ist völlig durcheinander und hat Angst, sie zu verlieren. Er hat mir gesagt, dass er sich wirklich nicht mehr an diesen Tag erinnern kann. Es ist sehr traurig«, meinte Velda. »Und das ist noch längst nicht alles.«
Die Tür der Bar öffnete sich, und Licht, laute Musik und Gelächter fluteten auf die Straße. Als die drei Frauen sich umdrehten, sahen sie MaryAnn mit einem Mann herauskommen. Er hielt ihren Ellbogen umfasst. Keiner der beiden beachtete die Frauen. Stattdessen bogen sie in die kleine Gasse, die hinter die Bar führte.
Destinys Herz blieb einen Moment lang fast stehen, bevor es angstvoll zu klopfen begann.