Kapitel 12

Sich seiner Obhut anvertrauen. Es war so leicht gesagt, und Nicolae sprach es mit solcher Ruhe und Überzeugung aus. Destiny raste über den Himmel, obwohl sie kein Ziel hatte, nur den Wunsch, hoch und schnell und weit weg zu fliegen.

Ich wollte das nie.

Destiny hasste es zu jammern. Sie hasste es, sich selbst zu bemitleiden. Sie hasste es, Angst zu haben. Vor ihren Kämpfen mit den Untoten fürchtete sie sich nicht. Wenn sie dabei ums Leben kam, würden die Qualen, die ihr unreines Blut hervorriefen, ein Ende haben. Wenn sie siegte, war die Welt von einem weiteren Monster befreit. Jetzt hatte sie Angst, die einzige andere Person zu vernichten, die ihr etwas bedeutete, der es gelungen war, den Weg zu ihrer Seele zu finden: Nicolae.

Ich will dich mit Herz und Seele. Mit jedem Atemzug.

Er ließ nicht locker. Plötzlich begriff sie etwas. Er hatte sie in all den Jahren unermüdlich gesucht, aber nicht aus den Gründen, die sie vermutet hatte, sondern um ein tiefes Verlangen, einen Hunger und eine Sehnsucht zu stillen, dieselbe Sehnsucht, die sie jetzt empfand. Eine Sehnsucht, die niemals aufhören würde. Sie hatte nicht die Kraft, sie beide von dieser gefährlichen Beziehung zu befreien.

»Wo bist du, Gott?« Destiny schrie es in den Himmel hinaus, wie sie es schon so oft getan hatte.

Der Wind brachte die Antwort. Er strich zart über ihre Haut und zerzauste liebevoll ihr Haar. Der Wind hüllte sie inmitten der Schönheit des nächtlichen Himmels zärtlich ein. Die Wolken verschoben sich, um sie hindurch zulassen. Ein feiner Nebel zog hinter ihr her und bestäubte ihre Haut mit kühlem Dunst. Falls es Spuren von Tränen gab, waren sie nicht zu erkennen.

Komm zu mir zurück, Destiny. Seine Stimme bot Trost. Sie bot ihr das Paradies an, alles.

Warum willst du mich ? Weil ich das Licht bin, das so hell leuchtet, dass du nicht in Gefahr bist, auf die dunkle Seite überzugehen? Ist das alles, was uns verbindet? Das und die Anziehungskraft, die zwischen uns besteht? Ich kenne dich doch gar nicht!

Der Wind raunte ihr leise etwas zu, das wie ein sanftes Wiegenlied klang. Sie konnte fühlen, wie die Wildheit in ihrem Inneren nachließ und ihr Herz und ihre Lunge wieder mühelos arbeiteten. Ein kaum hörbarer Laut, schwach und weit entfernt, weckte ihre Aufmerksamkeit, und fast ohne sich dessen bewusst zu sein, wechselte sie die Richtung und kehrte zur Stadt zurück.

Du musst nur in mich hineinschauen, Destiny, um zu erfahren, was du wissen willst. Um wirklich zu lieben, musst du dich für Nähe entscheiden, dafür, deinen Gefährten intim kennenzulernen. Diese Wahl hast du noch nicht getroffen.

Ich war mit dir intim! Der Vorwurf, dass sie etwas vor ihm zurückhielt, machte sie zornig. Es war ihr nicht leichtgefallen, ihm körperlich so nahe zu kommen. Wie konnte er so etwas auch nur denken!

Nähe ist viel mehr als körperliche Intimität, meine Kleine.

Die Lichter der Stadt, die wie Tausende Sterne funkelten, zogen sie zurück zu den Menschen und zurück zu Nicolae. Sie wusste, dass er wartete und sie beobachtete. Wie viel Macht hatte er tatsächlich? Hatte er ihre Gefühle zu ihm irgendwie beeinflusst, Sie auf eine Art und Weise verstärkt, die sie nicht durchschauen konnte? Destiny kannte die Antwort. Sie war ihm verfallen, vollständig und gänzlich verfallen.

Destiny landete leichtfüßig auf dem Boden und nahm ihre menschliche Gestalt an. Schon bewegte sie sich, überprüfte die Umgebung und eilte aus der abgelegenen Gasse auf die Straße hinaus. Irgendwo aus der Nähe kam das leise Geräusch, das sie beim Fliegen abgelenkt hatte. Es war das gedämpfte Weinen eines Kindes, das an ihr Herz rührte. Sie ging schneller, mit lautlosen Schritten und selbstbewusster Haltung.

So spät am Abend waren kaum noch Menschen unterwegs. Destiny forschte in den verschiedenen Wohnhäusern nach dem Aufenthaltsort des Kindes. Die meisten Gebäude waren dunkel und ruhig. Aus einigen Wohnungen drang das Plärren von Fernsehapparaten, in anderen wurde Musik gespielt. Das Kind strahlte spürbare Wellen von Kummer aus. Destiny bog zielsicher in eine Seitenstraße, wo die Wohnblocks kleinen, eng beieinanderstehenden Einfamilienhäusern wichen. Morsche Zäune trennten die Grundstücke voneinander; die Farbe an den dünnen Außenmauem war brüchig und verwittert; Türen und Gartentore hingen schief in den Angeln.

Destiny setzte mühelos über einen niedrigen Zaun und ging zur Hinterseite eines der Häuser. Pappkartons und zusammengeschnürte Zeitungen stapelten sich zu wahren Türmen und nahmen den meisten Platz in dem winzigen Garten ein. Sie sollte Weggehen, die Stadt verlassen und sich so weit wie möglich von Nicolae entfernen. Aber schon konzentrierte sich ihr ganzes Sein wieder auf ihn, und sie brauchte seine Nähe.

Waren es wirklich die rituellen Worte, die sie aneinander gebunden hatten, oder hatte ihr Verlangen, ihm nahe zu sein, schon vor langer Zeit begonnen? Bei jedem Erwachen hatte sie ihn gesucht. Seine Ruhe, seine Anwesenheit in dieser Welt waren ihr einziger Halt gewesen. Jahrelang hatte sie ihn benutzt, indem sie ihn gezwungen hatte, an ihren körperlichen und seelischen Schmerzen teilzuhaben. Sie hatte ihn zu einem Leben im Schatten verurteilt, zu einer unablässigen Suche nach ihr. Sie hatte ihn mit ihrem Schweigen bestraft und ihn gleichzeitig an jedem Aspekt der Misshandlungen und Foltern des Vampirs teilhaben lassen.

Ich war bereits im Schatten, Destiny. Du hast mich ins Licht geholt.

Da war sie wieder: seine Stimme, seine wunderschöne Stimme, die sie ins Reich der Träume entführen konnte. Die Märchen erzählen und Hoffnung bringen konnte. Und die sie von jeder Schuld freisprechen konnte. Destiny blieb neben der morschen Hintertreppe stehen und senkte die Lider. All die Schuldgefühle, die ständig auf ihr lasteten - würde sie sich je von ihnen freimachen können?

Ein verzweifeltes Schluchzen riss sie aus ihrem eigenen Elend. Ein Kind sollte ein so herzzerreißendes Gefühl nie erfahren müssen. Destiny konnte die Schwingungen von Gewalt fühlen, die immer noch in der Luft hingen. Und sie roch Blut. Sie kauerte sich auf die Fersen und spähte unter die wackeligen Stufen. Der Junge konnte nicht älter als neun oder zehn sein. Er war furchtbar dünn, und seine Sachen waren viel zu weit, obwohl seine mageren Handgelenke und Knöchel hervorschauten. Er trug keine Socken, und seine Schuhe hatten Löcher. Seine Tränen zogen helle, verschmierte Bahnen in seinem schmutzigen Gesicht. Er rieb sich ständig die Augen, konnte aber die Schluchzer, die seinen jungen Körper erschütterten, nicht unterdrücken. Auf seiner Kleidung waren frische Blutflecke, doch sie konnte keine offenen Wunden an ihm entdecken.

»He, du da«, sagte sie mit ihrer sanftesten Stimme, um ihn nicht zu erschrecken. Diese leisen, silbrigen Töne hatte sie von Nicolae gelernt. Immer wieder lief alles auf Nicolae hinaus. »Ist da unten noch Platz für mich?« Der unterschwellige Druck in ihrer Stimme, der kleine »Schubs«, machte es dem Jungen leichter, ihre Anwesenheit zu akzeptieren.

Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet, und er sah völlig verängstigt aus, aber er rückte gehorsam ein Stück zur Seite, damit sie genug Platz hatte, sich zu ihm unter die Treppe zu zwängen. Destiny hockte sich im Schneidersitz auf den Boden und wärmte das Kind mit der Nähe ihres Körpers.

»Hast du eine schlimme Nacht?«

Der Junge nickte stumm. Destiny konnte die Narben auf seinem Handrücken und den Unterarmen sehen. Sie erkannte sofort, was sie vor sich hatte: Wundmale der Verteidigung. »Mein Name ist Destiny. Und wie heißt du?« Sie streckte ihre Arme aus, sodass er ihre Narben sehen konnte. Dieselben Male der Abwehr. »Schau. Genau wie bei dir.«

Er beugte sich in der Dunkelheit vor, um ihre Narben zu begutachten. »Du hast mehr.«

»Aber sie sind verheilt«, erwiderte sie nüchtern, »und sie tun nicht mehr weh. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinne, also physisch, außen. Was ist mit deinen?«

»Tun auch nicht mehr weh.« Er sah sie an. »Na ja, außen vielleicht ein bisschen. Ich heiße Sam.«

»Aber innen tun sie ganz schön weh, stimmt’s, Sam?« Sie strich mit ihrer Daumenkuppe über die schlimmsten Narben und hinterließ ein Gefühl wie von linderndem Balsam. »Erzähl mir was darüber. Das ist nicht heute Abend passiert. Erzähl mir, was los ist.«

Er schüttelte den Kopf, weil ihn der Kodex der Straße zum Schweigen verpflichtete, aber dem sanften Druck ihrer Stimme hatte er nichts entgegenzusetzen. Seine Unterlippe bebte, doch er straffte die schmalen Schultern. »Ich hab das Geschirr nicht abgewaschen. Ich wusste, dass er sauer auf sie sein würde, wenn ich nicht abwasche, aber Tommy wollte mit mir Basketball spielen. Die anderen haben auch alle gespielt, und ich wollte nur ein paar Minuten wegbleiben.« Seine Wimpern waren feucht und von Tränen verklebt, und das Gewicht in seiner Brust legte sich wie ein Stein auf Destinys Herz.

Destiny wusste Bescheid. Das Grauen sickerte durch die morschen Bodenbretter und schwängerte die Luft unter der Treppe. Nicolae! Sie rief nach ihm, wie sie es immer tat, schon seit Jahren. Und er war da. Wie stets. Er gab ihr Wärme und Mut, hielt sie mit starken Armen fest und schenkte ihr eine Zuflucht, wenn das Leid auf dieser Welt zu viel für sie wurde.

Ich bringe ihn zu Vater Mulligan, aber die Polizei muss an diesen Ort des Todes kommen. Sie wusste, dass Nicolae die Trauer in ihrer Stimme hören und in ihrem Herzen fühlen konnte. Und er würde ihr einen Teil der Last abnehmen.

»Es war meine Schuld.« Die schmalen Schultern zuckten, und der Junge vergrub sein Gesicht in den Händen. »Sie kam von der Arbeit nach Hause, und sie war müde. Ich hörte, wie sie mir zurief, dass ich mich beeilen soll, und ich rannte los, aber ich war einen Block weiter unten, und es war zu spät. Ich sah ihn reingehen. Ich wusste, was er mit ihr machen würde. Er war immer so böse. Er wollte Geld für seine Drogen und nahm es ihr aus der Tasche. Sie weinte, weil wir es für etwas zum Essen brauchten. Und dann sah er das schmutzige Geschirr.«

»Sam, du brauchst nicht hierzubleiben. Ich kann dich zu einem Freund von mir bringen«, schlug Destiny sanft vor.

Sam schüttelte den Kopf. »Ich kann sie nicht allein lassen. Er war so sauer wegen des Geschirrs. Er schlug sie immer wieder und warf Teller auf den Boden. Ich wollte ihn aufhalten, aber er schubste mich weg, und dann warf sie die Kaffeekanne nach ihm und sagte ihm, dass er mich nicht anrühren soll, weil sie sonst die Polizei rufen würde. Und da hat er das Messer genommen.«

Destiny zog ihn an sich und wiegte ihn liebevoll in den Armen, während er weitersprach.

»Wenn ich das Geschirr abgewaschen hätte, wäre das Messer nicht im Spülbecken gewesen. Es wäre in der Schublade gewesen. Er hätte es nicht aufgehoben. Ich hätte einfach abwaschen sollen, statt Basketball zu spielen.«

»Es war nicht deine Schuld, Sam. Er ist krank, und er ist dafür verantwortlich, was mit deiner Mutter passiert ist, nicht du. Wir vernachlässigen alle mal unsere Pflichten. Jeder von uns tut das. Nachlässigkeit macht einen Menschen nicht zum Mörder. Er hat es getan, nicht du. Deine Mutter würde nicht wollen, dass du das denkst. Komm, ich bringe dich jetzt zu Vater Mulligan. Er wird auf dich aufpassen. Die Polizei kommt bald und kümmert sich um alles.«

»Die werden mich einsperren. Er hat gesagt, dass die Polizei mich einsperrt, weil ich niemanden sonst habe.«

»Vater Mulligan wird nicht zulassen, dass dir etwas Schlimmes passiert. Und Polizeibeamte sperren nicht Kinder ein, die keine Eltern haben, Sam. Sie helfen ihnen. Sie finden für sie ein Heim mit Leuten, die sich um sie kümmern. Komm jetzt!« Sie wollte ihn von dem Haus wegschaffen, von dem Mann, der jeden Moment auftauchen könnte. Sam sollte nicht noch mehr Gewalt sehen. Er sollte sich nicht für die Dinge verantwortlich fühlen, die Erwachsene einander antaten.

Sie zog den Jungen unter der durchhängenden Stiege hervor und schob ihn rasch vom Haus weg. Schon nahm sie so etwas wie eine Bewegung wahr, als sie den schmalen Pfad an der Seite des Hauses hinuntereilten. Im Vorgarten blieb der Junge abrupt stehen. Destiny spürte das Zittern, das seinen schmächtigen Körper durchlief. Als sie den Kopf wandte, sah sie den Mann, der auf der Veranda an einem Stützpfeiler lehnte.

Ihre Hand schloss sich fester um die Schulter des Jungen, und sie hielt einen Finger an ihre Lippen, um ihm zu bedeuten, still zu sein. Es war nicht schwer, das Bewusstsein des Jungen zu beeinflussen und vor neuerlichen Ängsten abzuschirmen. Der Mann war offensichtlich völlig benommen. Sein Kopf rollte hin und her, und sein Mund stand weit offen. Kleidung und Arme waren mit Blut bespritzt.

Ein zorniges Zischen drang aus ihrem Mund, als sie beobachtete, wie der Mann hin und her schwankte und seine Hände zu Fäusten ballte und wieder öffnete. Sie war so auf den Mörder fixiert, dass sie den Nebel und die Nähe einer unsichtbaren Kraft erst bemerkte, als Nicolae neben ihr feste Gestalt annahm.

»Nimm das Kind und geh, Destiny!«, forderte Nicolae sie grimmig auf. Seine Hand strich über ihren Hinterkopf, ganz kurz nur, aber die Berührung gab ihr den Trost, den sie brauchte.

Destiny zog das Kind enger an sich. »So etwas dürfte einfach nicht passieren! Ein Kind sollte nicht gezwungen sein, so etwas mitzuerleben. Sam glaubt, dass er daran schuld ist, Nicolae.«

Ihre schönen, großen Augen flehten ihn an, etwas zu tun. In ihnen lag grenzenloses Vertrauten darauf, dass er etwas unternehmen würde. Ihm drehte sich das Herz um. Am liebsten hätte er Destiny in die Arme genommen und ihr gesagt, dass auch sie als Kind sich für Dinge verantwortlich gefühlt hatte, auf die sie keinen Einfluss hatte, aber er wusste, dass sie selbst zu dieser Erkenntnis kommen musste. Dieses Wissen durfte sie nicht nur mit dem Verstand erfassen, sondern musste es mit ihrem Herzen und ihrer Seele aufnehmen, denn dort waren die psychischen Narben.

»Bring ihn von hier weg. Vater Mulligan erwartet dich schon, und die Polizei ist unterwegs. Sie werden mich nicht hier antreffen.« Seine Stimme war sehr sanft.

Destiny fing seinen Blick ein, und etwas von ihrer Anspannung wich. »Danke, Nicolae. Ich bin froh, dass du hier bist.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, ganz kurz nur, um seine liebevolle Geste zu erwidern, aber als sie sich umdrehte, schwoll ihr vor Freude das Herz. Sie konnte nichts an den Empfindungen ändern, die sie jedes Mal überkamen, wenn sie ihn ansah: Stolz und Zuversicht und Glück. Noch immer wehrte sich etwas in ihr dagegen zuzugeben, wie tief er sich in ihr Herz gestohlen hatte, aber sich selbst konnte sie eingestehen, dass er einen Großteil dessen ausmachte, was in ihrem Leben gut war.

Destiny hob den Jungen hoch. Der Kleine legte vertrauensvoll seine Arme um ihren Hals und kuschelte sich schutzsuchend an sie. Die kindliche Geste des Vertrauens entwaffnete sie. Schützend schloss sie ihn in ihre Arme und stieg zum Himmel auf. Sie wollte dem Jungen etwas geben, um die schreckliche Erinnerung an den Tod seiner Mutter zu mildem. Während sie ihn in eine Art Trance versetzte, flog sie durch die Wolken und gab ihre Freude am Fliegen an den kleinen Jungen weiter. Diesen Traum würde er mitnehmen und immer das Gefühl kennen, wie es war, schwerelos über den Nachthimmel zu schweben.

Mehr konnte sie ihm kaum geben, und das bedrückte sie. Sie wünschte, sie könnte ihn von der schrecklichen Last seiner Schuldgefühle befreien, ihm irgendwie begreiflich machen, dass er ein Opfer war, ein Überlebender, und dass sein Leben wieder aufgebaut werden konnte. Als sie am Turm der kleinen Kirche vorbeiglitt, fragte sie sich, wie ihr Leben an diesem Punkt hatte anlangen können. Noch vor kurzer Zeit hatte sie nur für sich gelebt, und jetzt spielten so viele Menschen in ihrem Leben eine Rolle.

Vater Mulligan wartete im Garten auf sie. Er lächelte freundlich, als Destiny den Jungen aus seiner Trance weckte. Der Priester strahlte eine Wärme aus, die nicht einmal dem verstörten Kind entgehen konnte.

»Das ist Sam. Sam, das ist mein Freund Vater Mulligan.« Sie kauerte sich neben den Jungen. Seine Finger bohrten sich in ihren Arm und klammerten sich hilfesuchend an ihr fest.

Sam gab einen erstickten Laut von sich, als der Priester ihn begrüßte, und schob sich näher an Destiny heran. »Nicolae hat alles erklärt?«, fragte sie Vater Mulligan.

Der Priester nickte. »Hier bist du gut aufgehoben, Sam. Ein Freund von Destiny hat mit der Sozialarbeiterin gesprochen, und sie ist damit einverstanden, dass du einstweilen hier bei mir und den anderen Priestern im Pfarrhaus bleibst. Es gibt hier einen Priester, mit dem du dich bestimmt gut verstehen wirst. Er wartet schon auf dich. Dann sind noch zwei Polizeibeamte da, die mit dir über das, was passiert ist, reden müssen. Sag ihnen einfach die Wahrheit. Wenn du willst, bleibe ich bei dir, bis du ihnen alles erzählt hast.«

Sam straffte seine schmalen Schultern und nickte, aber sein Blick ruhte flehend auf Destiny. Sie lächelte ihn ermutigend an. »Vater Mulligan ist Priester, Sam. Er lügt nicht, und er ist sehr geachtet. Er wird dafür sorgen, dass du gut untergebracht wirst.«

»Was ist, wenn Jerome mich findet?«, fragte Sam ängstlich.

»Ist Jerome dein Vater?«, wollte Vater Mulligan wissen.

Sam schüttelte entschieden den Kopf. »Er ist vor ein paar Jahren bei uns eingezogen. Ich habe keinen Vater. Es gibt nur mich und Mom.«

Destiny war betroffen; sie selbst hatte einen Vater und eine Mutter gehabt. Sie erinnerte sich an das Gesicht ihrer Mutter, an ihr Lächeln und ihren Duft. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater sie in die Luft geworfen hatte, bis sie gequiekt, gelacht und um mehr gebettelt hatte. Die Erinnerung war sehr lebhaft und rüttelte an den sorgfältig verschlossenen Türen in ihrem Unterbewusstsein.

Wie ist das möglich? Ich habe das alles weggeschoben. Sie wandte sich instinktiv an Nicolae, die einzige Person, an die sie glaubte.

Wie könntest du dich nicht mit diesem Kind identifizieren ? Sam hatte ein normales Leben mit seiner Mutter, bis ein Monster bei ihnen auftauchte. Es tut nichts zur Sache, dass dieses Monster ein Mensch war. Das Monster fand die beiden, und das Kind konnte nichts tun, um das Resultat dieser Begegnung zu verhindern. Der Junge gibt sich die Schuld an Dingen, auf die er keinen Einfluss hatte. Wenn du ihn anschaust, siehst du dich selbst.

Die Ruhe in seiner Stimme reichte aus, um ihr Halt zu geben. Und sie konnte nicht leugnen, dass an seinen Worten viel Wahres war. »Alles wird gut, Sam. Vater Mulligan kümmert sich um dich, und ich komme dich oft besuchen. Sprich bitte mit dem Priester, der auf dich wartet, und sag den Polizeibeamten genau, was passiert ist.« Im Geist gab sie Sam noch einen kleinen Anstoß, der ihm helfen sollte, die Fürsorge des Priesters anzunehmen.

Sam hob tapfer das Kinn. Destiny fuhr ihm durchs Haar. »Ich komme wieder, Sam, versprochen. Heute Nacht habe ich noch etwas zu erledigen. Ich möchte, dass du ein bisschen Schlaf bekommst, wenn du mit der Polizei gesprochen hast.« Am liebsten hätte sie die Zeit zurückgestellt und Sam die Jahre erspart, in denen er um sein Überleben hatte kämpfen müssen, in einer Welt, die ein Ungeheuer auf den Kopf gestellt hatte. »Ich komme wieder«, wisperte sie noch einmal.

»Ich werde gut auf ihn aufpassen«, versicherte Vater Mulligan. »Es gibt keinen Grand zur Sorge, meine Liebe.«

Destiny nickte und biss sich auf die Lippe, als sie sich zum Gehen wandte. Sam sah ihr nach. Sie lächelte ihm noch einmal über die Schulter zu und hob eine Hand. Schon spürte sie, wie sich ihr Denken wieder auf Nicolae konzentrierte, wie es jetzt alle paar Minuten zu passieren schien. Ihr Bedürfnis, wissen zu wollen, ob er am Leben und unversehrt war, empfand sie als weiteres Ärgernis. Sie schätzte ihre Unabhängigkeit sehr, und es passte ihr gar nicht, dass sie ständig seine geistige Nähe suchte.

Sie beschloss, zu Fuß zu gehen, da sie das Gefühl hatte, die Normalität einer menschlichen Betätigung zu brauchen. Die Zeit beim Gehen konnte sie nutzen, um ihre Gedanken zu sammeln. Sie hatte Velda, Inez und Helena versprochen, John Paul zu helfen. Sie musste weitere Nachforschungen anstellen. Aber es fiel ihr schwer, ihre Gedanken von Sam loszureißen. Im Grunde hatte sie nie wahrhaben wollen, dass auch Menschen wahre Monster sein konnten. Sie hatte sich so ausschließlich auf Vampire konzentriert, dass ihr jede andere Form von Bedrohung entgangen war.

Destiny war so tief in Gedanken versunken, dass es ihr kaum auffiel, als der Wind umschlug, in eine andere Richtung wehte und Abfall auf den Straßen aufwirbelte. Eine Straßenlaterne blinkte und flackerte, bevor sie abrupt mit einem sprühenden Funkenregen erlosch. Destiny hob den Kopf und schaute sich prüfend um. John Paul war unterwegs und offensichtlich im Begriff, die Bar »Tavern« zu betreten. Sein gesenkter Kopf und sein schlurfender Gang verrieten, wie niedergeschlagen er war. Ein Stück weiter die Straße hinunter zerbarst eine zweite Straßenlaterne, als wäre sie von einem Stein getroffen worden. Glas splitterte und fiel auf den Boden.

John Paul, der gerade die Tür zur Bar öffnen wollte, zögerte und blickte mit leicht gerunzelter Stirn zu der Laterne. Als die zweite Laterne nicht weit von Destiny zerbrach, schaute er die Straße hinunter, ließ die Tür zur Bar wieder zufallen und kam auf Destiny zu. Er schaute nicht sie, sondern die Glassplitter an. Die Bruchstücke der großen Lampe schienen ihn magisch anzuziehen.

Destiny ließ ihn nicht aus den Augen. John Pauls Miene war ausdruckslos, seine Augen leicht glasig. Als er bei den Scherben stehen blieb, bebten seine massigen Schultern, und seine Brust hob und senkte sich, als wäre er ein Rennen gelaufen. Seine riesigen Hände öffneten sich und ballten sich dann zu straffen Fäusten.

Destiny suchte den Himmel ab. Er verdunkelte sich zusehends, und graue Dunstschleier zogen sich zu großen, Unheil verkündenden Wolken zusammen. Kleine Ballen von Staub wirbelten über die Straße und lösten sich auf, wenn Autos vorbeirasten. Nebelschwaden begannen über den Asphalt zu kriechen und schwebten einen halben Meter über dem Boden in der Luft, anfänglich in dünnen Fetzen, die sich allerdings bald zu einer trüben Masse verdichteten.

John Paul starrte immer noch mit zusammengekniffenen Augen auf das Glas und studierte die scharfkantigen Scherben, als übten sie eine geheime Faszination auf ihn aus. Destiny schob sich näher an ihn heran und überprüfte dabei ihre Umgebung; diesen Turm von Mann behielt sie aber scharf im Auge. Etwas stimmte nicht, doch sie konnte keine erhöhten Schwingungen von Kraft feststellen. Das Unwetter war ein wenig zu schnell aufgezogen, um ein normales Tief zu sein, und die in sich wirbelnden, düsteren Nebelschleier verharrten regungslos in der Luft. Die Sterne verschwanden hinter der Gewitterwand. Schwarze Wolken schoben sich vor den Mond und verhüllten ihn wie ein dunkler Spitzenschal.

»John Paul!«, rief Destiny leise. Sie sah ihn gar nicht gern so exponiert auf der Straße. Er gab ein viel zu großes Ziel ab.

John Paul fuhr herum, schweigend und bedrohlich und unglaublich schnell für einen Mann seiner Statur. Destiny war nur wenige Sekunden überrumpelt, aber länger brauchte er nicht, um sich auf sie zu stürzen. Mit der Wucht eines angreifenden Nashorns rammte er sie und stieß sie zu Boden. Als sie auf den Bürgersteig knallte, blieb ihr die Luft weg. Ein Teil von ihr hätte beinahe gelacht, als John Paul auf ihr landete und ihren Körper auf den Boden drückte.

Destiny kämpfte gegen Vampire, Wesen mit ungeheuren Kräften. Die Vorstellung, dass ein Mensch es geschafft hatte, sie zu Boden zu werfen, war absurd. Der Nebel wirbelte in dichten Schleiern um sie herum, als wäre er plötzlich zum Leben erwacht, und seine grauen Schwaden schlangen sich wie Lianen um ihre Gliedmaßen.

John Paul saß auf ihrem Bauch, seine gewaltigen Hände hatte er um ihre Kehle gelegt. Mit grimmig entschlossener Miene fing er an zuzudrücken. Seine Finger bohrten sich in ihre Luftröhre, schnitten ihr die Luft ab und quetschten ihren Kehlkopf.

Destiny versetzte ihm mit der Handkante einen heftigen Schlag, und zwar absichtlich auf die Schulter, um ihm ernsthafte Verletzungen zu ersparen, aber ihre ungeheure Kraft katapultierte ihn trotzdem nach hinten. »Runter da, du Hornochse ! Hau ab! Du wiegst eine Tonne.« Sie sprang auf, landete leichtfüßig und hob beide Hände. Ihre Augen glitzerten drohend. »Zurück, John Paul! Weißt du überhaupt, was du tust?«

John Paul war auf den Rücken gefallen. Benommen setzte er sich auf und schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. Destiny, die erkannte, dass er nicht er selbst war, ließ ihn nicht aus den Augen. Sie sah in ihm nur das Verlangen nach Gewalt, einer Gewalt, die sich gegen sie richtete. Destiny war sich nicht sicher, ob sie das ursprüngliche Ziel gewesen war, aber nun wirkte er wie eine Marionette, die von jemand anders geführt wurde. In seinem Bewusstsein wiesen keine leeren Flecken auf einen Vampir hin, doch sie war überzeugt, dass John Paul nicht wusste, was er tat.

Ein Nebelfetzen legte sich um ihren Hals, schlängelte sich zu ihren Knöcheln hinunter und biss wie mit kleinen scharfen Zähnen zu. Ein brennender Schmerz schoss durch ihr Bein. Als sie hinunterschaute, sah sie winzige scharlachrote Blutstropfen. Ihr stockte der Atem, als sie versuchte, sich in feinen Dunst aufzulösen, aber von dem Nebel daran gehindert wurde. Die geheimnisvollen Rauchschwaden hielten ihr Bein fest wie eine stählerne Zwinge.

Ihr Herz begann unruhig zu klopfen, doch sie schloss Angst und Schmerzen aus und konzentrierte sich auf ihren gefangenen Knöchel, wo sich die weißen Dunstschleier zu winzigen Drähten mit gezackten Kanten verfestigten, die sich immer tiefer in ihr Fleisch bohrten. Ihr Fuß und ihr Knöchel verformten sich und wurden so schmal, dass die Fesseln abfielen.

Sie blickte im selben Moment auf, als John Paul erneut angriff, indem er sie mit der Gewalt einer Dampflok zu Boden stieß. Destiny empfand ihn als lästiges Ärgernis, mehr nicht. Mit John Paul konnte sie fertigwerden, aber ihr unsichtbarer Feind war eine andere Sache. Der Nebel zerfloss zu kleinen, wurmartigen Gebilden, die sich mit gebleckten Zähnen und brodelnd vor Hass auf sie stürzten. Wieder versuchte Destiny, sich aufzulösen, aber der Bann, in dem sie gefangen war, ließ sich nicht brechen.

Die Würmer beachteten John Paul nicht, sondern fielen über sie her; sie gierten nach ihrem Blut. Als würde ihr Blut sie anziehen! Die Erkenntnis traf Destiny wie ein Schock. Wieder einmal verriet ihr unreines Blut sie. Noch dazu erinnerten die Würmer sie an die mikroskopisch kleinen Gebilde, auf die sie in ihrem Blut gelegentlich einen flüchtigen Blick erhaschte.

Diese Kreaturen machten sie krank! Destiny zischte ihre Feinde böse an und errichtete hastig eine Barriere zwischen ihrem Körper und den zuckenden Würmern. Einige von ihnen waren bereits bei ihr und bissen sie bösartig in Arme und Beine.

John Paul holte mit seiner gewaltigen Faust aus. Bevor er ihr Gesicht treffen konnte, wurde er zurückgerissen und sein riesiger Körper durch die Luft geschleudert, als wöge er nicht mehr als ein Kind. Nicolae starrte Destiny mit grimmiger Miene an.

»Sieht so aus, als könntest du Hilfe gebrauchen.« Er half ihr auf die Beine, ohne die Würmer zu beachten, die sich um sie herumschlängelten.

»Bilde dir bloß nichts ein, Supermann«, brauste sie auf, während sie eine der Kreaturen packte und von sich schleuderte. Ein weiterer Wurm wurde weggekickt, als er versuchte, an ihrem Bein hinaufzuklettern. »Ich komme bestens allein zurecht.«

»Hm, ja, das sehe ich«, bemerkte er trocken und hob eine Hand gen Himmel. Sofort zuckten grelle Blitze durch die düsteren Wolken, die über ihren Köpfen wirbelten. »Schlechte Laune?«

»Du wärst auch sauer, wenn diese Dinger ihre Zähne in dich schlagen würden.« Tatsächlich drehte sich Destiny bei diesen abstoßenden Kreaturen der Magen um. Schaudernd riss sie zwei weitere von ihnen aus ihrem Fleisch und schleuderte sie durch die Luft. Der Nebel waberte um das Kraftfeld, das sie errichtet hatte, und die Würmer rasten vor Wut bei dem Versuch, an Destiny heranzukommen. »Sie sind widerlich.« Die weißen Würmer quollen aus dem Nebel hervor und warfen sich, zuckend vor Wut und mit gebleckten Zähnen, an die unsichtbare Mauer.

»Frauen.« Nicolae hob lässig einen Arm, um die Blitze auf den Nebel zu lenken. Die wirbelnden Schwaden zerbarsten zu schwarzer Asche, und ein fauliger Geruch tränkte die Luft. Destiny hielt sich angewidert die Nase zu.

Nicolae konnte sie nicht anschauen. Sie kochte vor Wut -kein Wunder nach einem derartigen Angriff. Sie hatte nicht nach ihm gerufen. Sein Herz hatte sich von dem Schock immer noch nicht erholt. Sie so zu sehen, mit winzigen blutenden Bisswunden übersät, machte ihn krank. Er konnte fühlen, wie der Dämon in ihm darum rang, freigelassen zu werden und die Oberhand zu gewinnen, weil es für ihn ein Grundbedürfnis war, Destiny zu beschützen und alles zu zerstören, was ihre Sicherheit gefährden könnte. Er wandte bewusst das Gesicht von ihr ab, da er wusste, dass seine Augen seinen inneren Kampf verraten würden.

Sie war seine Gefährtin, und ihr Wohlergehen, ihr Glück und ihre Sicherheit bedeuteten ihm mehr als alles andere. Aber sie glücklich zu machen und sie gleichzeitig zu beschützen, schien miteinander unvereinbar zu sein.

Destiny suchte die Umgebung nach ihrem Feind ab. »Feigling!«, spie sie in den Wind. »Eine Frau schlägt dich, und du versteckst dich. Du hast kein Format. Verschwinde! Du bist es nicht einmal wert, gejagt zu werden.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, eine Geste des Widerwillens und der Verachtung. Dann ließ sie den Wind über die Stadt wehen; sie wollte ihn in jedes Loch und jeden Friedhof schicken, an jeden Ort, wo sich der Untote versteckt halten könnte.

Nicolae reagierte sofort, indem er den Wind erstarren ließ und den Nebel beruhigte. Sein glitzernder Blick fing ihren ein, und sie konnte die lodernden Flammen sehen, die in seinen Augen brannten und das Ausmaß seiner Verstimmung verrieten. »Genug! Du wirst diesen Vampir nicht herausfordem, Destiny.«

Sie reckte kampflustig ihr Kinn. »Ich bin Jägerin. Ich spüre Vampire auf und vernichte sie. Du hast mir das beigebracht, Nicolae.«

Sie blutete aus unzähligen Wunden, winzigen Schnitten und Bissen von messerscharfen Zähnen. Um ihre Mundwinkel hatten sich harte Linien eingegraben. Ihre Augen waren eher wachsam als zornig. Sie legte den Kopf zur Seite, sodass ihr schwerer, langer Zopf über ihre Schulter fiel, und musterte Nicolaes entschlossene Miene.

Er sah beängstigend, ja erbarmungslos aus. Und sie hatte recht mit ihrer Vermutung, dass er viel mächtiger war, als er je zu erkennen gegeben hatte. Ein Zittern begann irgendwo tief in ihrem Inneren. Sogar ihr Mund wurde trocken. Sie fürchtete ihn im Augenblick mehr als den Vampir, den sie jagte. Nicolae konnte sie SO leicht verletzen; er vermochte sie mit einem falschen Wort zu vernichten.

»Lass das!« Er klang schroff, und seine Stimme, die sonst immer so sanft und liebevoll war, war kaum wiederzuerkennen. »Ich will deine dürftigen Ausreden nicht hören. Du warst dir der Gefahr nicht bewusst. Wenn du die Untoten jagst, musst du ganz bei der Sache sein. Ich habe dir mit Sicherheit nicht beigebracht, achtlos oder zerstreut zu sein, geschweige denn dumm. Du hast Fähigkeiten, und du hast ein Gehirn. Ich habe mich darauf verlassen, dass du beides gebrauchst.«

Ihre Finger ballten sich bei seinem Tadel zu Fäusten, und rote Flecken brannten auf ihren Wangen. »Ich wäre damit fertiggeworden. Ich habe dich weder um Hilfe gebeten noch deine Hilfe gebraucht.«

»Du klingst wie ein trotziges Kind. Dabei bist du eine erwachsene Frau und eine erfahrene Jägerin.« Er wandte sich von ihr ab und ging zu John Paul, mit schnellen, fließenden Schritten, die von dem Zorn zeugten, der immer noch in ihm brodelte. Als er zu ihr sah, waren seine Züge abweisend. »Du hättest mich sofort rufen müssen. Das weißt du genau. Du warst wütend, weil sich herausgestellt hat, dass dein Gefährte, den du für ebenbürtig gehalten hast, mehr Macht hat, als du je angenommen hast. Das ist jedoch kein Grund, unser Leben in Gefahr zu bringen;«

Nicolae bückte sich, zog John Paul am Hemdkragen hoch und erstickte mit einer achtlosen Handbewegung jeden etwaigen Protest.

Destiny stand auf der Straße und schaute sich prüfend um. »Ich hielt es nicht für notwendig, dich zu rufen, Nicolae. Nach meiner Einschätzung der Lage war es nicht nötig.«

Sein funkelnder Blick traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. »Bist du so dumm zu glauben, dass diese Kreaturen den eigentlichen Angriff auf dich darstellten? Warum sollte ein Vampir seine Energie auf diese Weise verschwenden?«

Der Zorn in seiner Stimme trieb ihr Tränen in die Augen. »Natürlich habe ich das nicht geglaubt. Ich wusste, dass er mich schwächen wollte. Er hat einen Bann benutzt, um mich dort festzuhalten. Aber er hätte sich gezeigt, wenn du nicht aufgetaucht wärst.« Nicolae hatte sie und ihre Fähigkeiten immer respektiert. Seine Worte schmerzten mehr als die Zähne, die sich in ihr Fleisch gebohrt hatten.

»Er hat dich vergiftet, Destiny.« Er spie die Worte förmlich aus. Der Wind brauste auf und fegte durch die Straße. »Du hast dich von ihm vergiften lassen.«

Ihr Herzschlag geriet ins Stocken. »Mein Blut ist schon unrein, Nicolae. Es ist egal, was er damit macht.« Ein seltsames Murmeln drang an ihre Ohren, Worte, die sie nicht verstehen konnte, ihr Inneres aber wie scharfe Krallen aufschlitzten.

Nicolae riss John Paul herum, sah tief in seine Gedanken und sein Gedächtnis hinein und schüttelte ihn vor Erbitterung. »Er hat keine Erinnerung daran, wie es zu diesem Vorfall kommen konnte. Geh nach Hause, Mann, und schlaf dich aus. Ich kümmere mich später um dich.« Viel später, dachte er. Einstweilen beschäftigte ihn ein ganz anderes Problem.

John Paul sah keinen von ihnen an, sondern trottete gehorsam nach Hause, ohne nach links oder rechts zu schauen; er wirkte völlig desinteressiert an allem, was ringsum geschah.

Nicolae überprüfte sorgfältig die Umgebung. Die Wolken türmten sich über ihnen zu dichten, dunklen Ballen, aber es ging kein Wind. Er glitt lautlos und ungeheuer schnell zu Destiny und schloss seine Finger um ihren Arm. »Wir müssen jetzt gehen.«

»Ich will nicht, dass der Vampir einem der Leute hier etwas antut, nicht einmal John Paul, nur weil er wütend ist, dass der Anschlag auf mich misslungen ist.« Destiny versuchte, ihre Worte nicht wie eine Bitte klingen zu lassen. Das Summen in ihrem Kopf wurde stärker. Es schien von Millionen von Bienen herzurühren, die sie von innen stachen. Es kostete sie große Mühe, sich nicht die Ohren zuzuhalten oder an ihrem Kopf zu reißen, um das Geräusch abzuschütteln.

Die langen Finger schlossen sich mit einem eisernen Griff um ihren Arm. »Destiny, der Anschlag des Vampirs ist nicht misslungen. Sein Gift ist in deinem Blutkreislauf und zerstört deine Zellen schon in diesem Moment, während wir Zeit mit Reden vergeuden. Wir müssen uns ein Versteck suchen, einen Ort, den wir verteidigen können.«

Die Eindringlichkeit in seiner Stimme sagte ihr mehr noch als das betäubende Rauschen in ihrem Kopf, dass sie sich beeilen mussten. Indem sie Nicolaes Bewusstsein das Bild einer Eule entnahm, versuchte sie, ihre Gestalt zu verändern. Aber es funktionierte nicht. Ihr Körper flimmerte, doch sonst geschah nichts. »Verschwinde von hier, Nicolae!« Sie stieß mit der Handfläche hart an seine Brust. »Er benutzt mich als Köder, um dich zu erwischen. Geh weg!«

Nicolae fluchte in der uralten Sprache der Karpatianer. »Was dir passiert, passiert auch mir. Wir bleiben zusammen.«

Wieder stieß sie ihn von sich, diesmal fest genug, um ihn taumeln zu lassen. »Genau das will er doch! Ich bin eine Belastung für dich, ein Klotz am Bein. Mach, dass du wegkommst! Wenn ich dir irgendetwas bedeute, lässt du mich jetzt allein.« Die Auswirkungen der Wurmbisse wurden immer schlimmer und waren jetzt nicht nur in ihrem Kopf spürbar, sondern breiteten sich in ihrem ganzen Körper aus, bis sie glaubte, verrückt zu werden. Sie konnte weder die Lautstärke des Summens noch die Schmerzen kontrollieren.

Mehr als die wahnsinnigen Schmerzen aber beherrschte sie der Wunsch, Nicolae zu schützen. Sie wusste, dass sie recht hatte. Dem Vampir war bewusst, dass Nicolae sein mächtigster Feind war. Im Gegensatz zu ihr selbst hatte der Untote das Ausmaß von Nicolaes Macht erkannt. Er wusste, dass er es mit einem der uralten Karpatianer zu tun hatte und vor allem Nicolae vernichten musste, wenn er seine Pläne erfolgreich ausführen wollte.

Nicolae ignorierte ihre Einwände, indem er seine Ohren einfach vor den Tränen in ihrer Stimme verschloss. Gefühle konnte er sich jetzt nicht leisten. Er nahm sie in seine Arme und hob ab. Destiny, die seine unerschütterliche Entschlossenheit spürte, wusste, dass es sinnlos war, sich dagegen zu wehren, und verhielt sich ganz still. Andernfalls würde er ihr Nachgeben erzwingen, und ein solches Vorgehen könnte sie nur als gewalttätigen Akt empfinden.

Sie legte ihre Arme um seinen Hals und verwandte ihre ganze Kraft darauf, ihnen beiden Rückendeckung zu geben; sie versuchte trotz der schrillen Stimmen in ihrem Kopf und den brennenden Schmerzen in ihrem Körper, sich irgendwie nützlich zu machen. Sie würde den Kampf nicht Nicolae überlassen, egal, wie schwer es ihr fiel, sich zu konzentrieren.

Ihre Schmerzen waren entsetzlich. Nicolae fühlte, wie sie Destiny in Wogen überspülten; sie hörte die abstoßende Stimme des Vampirs in ihrem Kopf. Ihr Herz schlug viel zu schnell. Es raste vor Anstrengung, die Wirkung des Giftes und die unzähligen Bisse abzuwehren, die sie von innen heraus attackierten. Sie rang um ihren letzten Rest an innerer Kraft, um den Vampir, der ihnen folgte, mit Bannsprüchen und unsichtbaren Hindernissen aufzuhalten. Um Nicolae mehr Zeit zu verschaffen.

Nicolae vergrub sein Gesicht kurz an ihrem Hals, um ihren Duft einzuatmen und ihr leise Worte zuzuraunen.

Ohne Vorwarnung wurde es plötzlich dunkel um Destiny, und nur noch winzige Flecken Licht flackerten hinter ihren Lidern auf. Dann erlosch jede Helligkeit, jedes Empfinden. Die Stimme in ihrem Kopf brach abrupt ab, und die Welt ringsum versank.