Kapitel 14
Destiny lag still wie ein Leichnam in einer Mulde, die so flach ausgehoben war, dass sie ein beredtes Zeugnis für ihren geschwächten Zustand ablegte. Nicolae hatte gewusst, dass sie schwer angeschlagen war, aber das volle Ausmaß ihrer Erschöpfung hatte sie vor ihm verheimlicht. Kein Jäger hätte sich auf diese Weise in die Erde gebettet - nicht mit dem Wissen, dass Vampire in der Nähe waren und der Ruheplatz nicht mehr sicher war.
Nicolae schob mit einer Handbewegung die dünne Erdschicht beiseite und schloss die Augen vor dem Anblick, der sich ihm bot. Zorn, in den sich Schmerz mischte, stieg in ihm auf. Destiny sah schrecklich jung und verletzlich aus, wie sie so dalag; ihre Haut wirkte durchscheinend, fast grau. Kleine Blutstropfen waren aus ihren Poren getreten, und in ihrer Erschöpfung hatte sie nicht die Kraft aufgebracht, ihren Körper vollständig zu heilen. Die chemische Bombe war entschärft worden, doch das Gift, das der Vampir injiziert hatte, war von Destinys bereits verunreinigtem Blut willig angenommen worden. Es sah so aus, als würde er sie verlieren.
Nicolae weckte sie nicht auf. Er wollte sie von diesem feuchten, engen Raum wegbringen, einem Ort des Todes, wo immer noch der Geruch von Blut und der Gestank des Vampirs in der Luft hingen. Als eine Erinnerung an den Angriff des Untoten war die verkohlte Hülle der Echse zusammen mit den verdorrten schwarzen Tentakeln zurückgeblieben. Destiny gehörte nicht an diesen Ort. Nicolae nahm sie in seine Arme. Sie schien leicht und schwerelos. Die Konfrontation mit dem Bösen hatte sie bis an die Grenzen ihrer Kraft geschwächt. Schützend zog er sie an seine breite Brust und sah ihr ins Gesicht. Unerwartet brannten Tränen hinter seinen Lidern.
Destiny hatte in ihrem Leben so viel mitgemacht. Als ihr Gefährte wollte er sie vor allem Unheil beschützen, sie vor allen Feinden abschirmen. Er war einer der alten Krieger. Seine Macht reichte sehr weit, doch er konnte sich trotzdem nicht dazu überwinden, Destiny zu zwingen, die Jagd auf die Untoten aufzugeben. Sie brauchte das Wissen, selbst stark genug zum Kämpfen zu sein, die Dinge in der Hand zu haben und die Welt von so vielen dieser grausamen Kreaturen befreien zu können, wie es ihr nur möglich war. Er wusste, dass Vikirnoff kein Verständnis dafür hatte. Vermutlich würde kaum ein Karpatianer, ob männlich oder weiblich, das verstehen. Aber Nicolae kannte Destiny. Erkannte ihr Herz und ihre Seele und jede ihrer inneren Narben. Die Wunden waren tief, und er konnte sie nicht heilen. Eigentlich wollte er es gar nicht mehr. Ihm war klar geworden, dass diese Erinnerungen und das grauenhafte Leben, das sie erduldet und überstanden hatte, aus ihr die mutige Frau gemacht hatten, die sie heute war. Destiny war durch die Hölle gegangen und hatte es überlebt; sie war zu einer mitfühlenden Frau geworden, die mit jedem Atemzug, den sie tat, diejenigen beschützen wollte, die ihrem Herzen nahestanden.
Er brachte sie aus der kleinen Höhle hinaus ins Freie, wo der Wind sanft über ihren Körper strich, ihr Haar und ihre Kleider zauste und sie mit einem frischen, reinen Duft überhauchte. Nicolae, dem Destinys Zustand fast das Herz zerriss, flog mit ihr über die Berge und begab sich dann mit ihr durch eine Reihe unterirdischer Kammern und Gänge in ihre Höhle mit den schimmernden Wasserbecken und glitzernden Edelsteinen. Mit einer Handbewegung ließ er das Licht in der steinernen Urne aufleuchten. Es tanzte und flackerte und warf weiche Schatten auf die Wände und das Wasser. Heilende Aromen erfüllten den Raum und schufen eine beruhigende Atmosphäre.
Nicolae zog Destiny und sich selbst aus und trug sie zu dem tiefsten, heißesten Becken. Während seine Lippen an ihre Haut gepresst waren, raunte er ihr leise Worte zu, um sie zu wecken. »Ich liebe dich, meine Schöne«, murmelte er. Er musste es ihr einfach sagen. Wenn sie in seinem Inneren suchte, würde sie die Liebe finden, die tief und unverrückbar in seinem Herzen war, aber er wollte es auch laut aussprechen.
Sie rührte sich. Ihr Herz schlug an seine Hand. Luft strömte durch ihre Lunge. Ihre Lider flatterten und hoben sich. Es war kaum zu glauben, doch sie lächelte ihn tatsächlich an. »Ich habe von dir geträumt.«
Nicolae küsste sie. Er konnte einfach nicht anders. Sein Mund verharrte auf ihrem und nahm ihr den Atem. »Das ist nicht möglich, meine Kleine. Der Schlaf unserer Art ist wie der Tod der Sterblichen. Es gibt keine Hirntätigkeit.«
»Trotzdem.« Sie sagte es freundlich, aber fest. Ihr Blick ruhte besitzergreifend auf seinem Gesicht. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.« Ihre Finger ertasteten die schwärzliche Risswunde an seiner Schulter. »Ich habe die Verletzung gefühlt. Tut es weh?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte mich gerade ins Wasser setzen. Es ist heiß, doch es wird dir gut tun. Ich muss dein Blut ersetzen.«
»Du hast keine Nahrung zu dir genommen.« Es war ein Tadel.
»Vikirnoff war der Meinung, dass ich Martin benutzen sollte, aber ich war überzeugt, dass du mir in diesem Fall gehörig die Leviten lesen würdest. Da ich so etwas noch nie erlebt habe, hielt ich es für besser, unser gemeinsames Leben nicht auf diese Art zu beginnen. Keine Sorge, mein Bruder wird mir geben, was ich brauche. Er ist gerade auf Nahrungssuche.«
Er ließ sich ins Wasser sinken und nahm sie mit sich; er hielt sie ganz fest, als Hitze die Eiseskälte aus ihren Adern vertrieb. Destiny schnappte unwillkürlich nach Luft, versteifte sich und rückte ein wenig von ihm ab, wehrte sich aber nicht. Das heiße Wasser brannte auf ihrer kühlen Haut, doch nach wenigen Minuten entspannte sie sich und schmiegte sich an Nicolae.
Das Wasser umspülte ihre Brüste, perlte von den Spitzen und entfernte schäumend und prickelnd alle Spuren von Blut und alle Reste des Giftes. Destiny schloss die Augen und ließ den Kopf zurücksinken; sie genoss ganz einfach den Luxus des warmen Beckens und Nicolaes starker Arme. »Vikirnoff verdient einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten«, murmelte sie, ohne die Lider zu heben. »Aber ich verzeihe ihm seine egoistische Arroganz, weil es in diesem Fall um dich ging. Du hättest wirklich etwas zu dir nehmen sollen.«
»Vikirnoff wird mir Nahrung geben. Er ist gerade auf der Jagd.«
»Ich möchte ihm so bald wie möglich das Bild der Frau zeigen, von der MaryAnn uns erzählt hat. Wir sollten auch Vater Mulligan und Velda und Inez fragen, ob sie die Frau vielleicht gesehen haben. Sie scheinen die Augen und Ohren des Viertels zu sein.«
Sie legte ihre Lippen an seinen Hals. Hunger stieg scharf und fordernd in ihr auf. Ihr Inneres brannte, als stünde es in Flammen. Das schäumende Wasser und Nicolaes Nähe schürten das Feuer in ihrem Inneren. Destiny atmete seinen reinen, männlichen Duft ganz tief in ihren Körper ein und hielt ihn dort fest. Sie war in einen Wirbelsturm geraten, in einen wilden Tornado, aber sie hatte es sicher nach Hause geschafft. Nicolae war ihr Zuhause, ihre einzige Zuflucht. Jetzt konnte sie es sich eingestehen, ohne sich beschämt und gedemütigt zu fühlen.
»Ich habe mein Möglichstes getan, um dich von mir fernzuhalten. Ich hätte energischer sein sollen, doch im Moment bin ich froh, dass ich es nicht war.« Ihre Lippen huschten über seinen Hals. Ihre Zunge tanzte über seine Pulsader. Ihr Po schmiegte sich in seinen Schoß, und sie konnte die starke Reaktion seines Körpers auf die kurze, erotische Berührung ihrer Zunge spüren. Er wurde hart und pulsierend vor Verlangen. Sie kostete das Gefühl aus und wollte es für immer in ihrem Gedächtnis bewahren.
Er strich mit einer Hand über ihr Haar und zog leicht an ihrem langen Zopf. »Ich hätte mich nicht abschütteln lassen. Ich bin sehr ausdauernd, wenn mir etwas wirklich wichtig ist.«
Sie lächelte an seiner Haut und küsste die kleine, stetig pochende Pulsader an seinem Hals. »So nennt man das also? Ich hätte gedacht, >stur< würde es eher treffen.«
»Du bist nicht unbedingt in der Verfassung, es auf einen Kampf ankommen zu lassen«, erinnerte er sie.
Sie gewann den Kampf ohne ein einziges Wort.
Sein Kopf fiel zurück, als sie nahm, was er anbot. Die Luft stürzte aus seiner Lunge, und ihm entschlüpfte ein leiser Laut der Ekstase, als der köstliche, brennende Schmerz durch seinen Körper schoss. Die Intensität seiner Liebe zu ihr erschütterte ihn. Seine Arme schlossen sich besitzergreifend um sie, als sie ihn mit Wärme und mit ihrem heißen Verlangen nach ihm überschüttete.
Hinter all dem spürte er ihren Kummer, den Schmerz, den Paters Worte bei ihr ausgelöst hatten. Sie würde nie glauben, dass die Karpatianer sie mitsamt ihrem unreinen Blut akzeptieren könnten. Wenn Nicolae den Heiler rief, würde Destiny ihn nicht in ihre Nähe kommen lassen. Sie würde weglaufen. Es gab keine Möglichkeit, den Schaden wiedergutzumachen, den der Vampir angerichtet hatte. Nicolae konnte alle Spuren des Virus beseitigen. Er konnte ihr neue Kraft geben und ihr seine bedingungslose Liebe schenken, aber diese Worte konnte er nicht auslöschen.
Weil seine Worte wahr sind, Ihre Hände fanden zu seinem Haar und vergruben sich in der seidigen Fülle. Sie wollte sich ganz ihrem Fühlen überlassen. Sie konnte Paters Worte nicht abstreiten, doch sie konnte sie irgendwo in den hintersten Winkel ihres Denkens verdrängen und sich auf das konzentrieren, was sie gerade völlig in Anspruch nahm; auf die Wasserperlen zum Beispiel, die über ihre nackte Haut liefen, und die seidigen, dunklen Haare, die durch ihre Finger glitten. Ich liebe dein Haar.
Eigentlich sollst du mich lieben. Und was Pater gesagt hat, ist nicht wahr. Vampire verdrehen die Wahrheit, bis man sie nicht mehr erkennen kann. Das solltest du eigentlich besser als jeder andere wissen, Destiny.
In diesem Fall ist sogar ein Körnchen Wahrheit zu viel. Sie fuhr mit ihrer Zunge über die kleinen Bisswunden, um sie mit ihrem heilenden Speichel zu schließen, hob den Kopf und hielt seinem eindringlichen Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Du kannst mich von ganzem Herzen lieben, mit Leib und Seele. Du kannst meine Rettung sein, wenn mich die Erinnerungen nicht mehr loslassen, Nicolae. Du kannst alles für mich sein, aber du kannst nicht ändern, was ich bin. Ein Vampir hat etwas Furchtbares tief in mich hineingepflanzt. Es ist dunkel und böse und gefährlich. Ich lebe schon fast mein ganzes Leben damit, und ich weiß, was ich sage. Du kannst mich trotz dieses schrecklichen Makels in meinem Inneren lieben, doch du kannst es nicht ändern. Ich auch nicht. Es wird nicht verschwinden, nur weil wir es uns wünschen. Ich erkenne Dunkelheit bei anderen. Andere werden sie in mir entdecken. Gleich und Gleich gesellt sich gern.«
Ihre Stimme war brüchig und dünn, ihr Gesicht von Erschöpfung gezeichnet. Nicolae konnte es nicht ertragen, wie sie ihn ansah, mit dieser Mischung aus Liebe und Bedauern. Seine Hände glitten zart über ihren Körper und wuschen die letzten Spuren von Blut und Gift von ihrer Haut. »Destiny, ich habe dich stur und eigenwillig erlebt, aber noch nie begriffsstutzig. Willst du absichtlich nicht verstehen, dass wir zwei Hälften eines Ganzen sind? Wir sind gleich. Gleich und Gleich gesellt sich gern, und ich bin da. Ich bin, was du bekommen hast.«
Sie saß warm und geborgen im Schutz seiner Arme, eng an ihn geschmiegt. Das Wasser schlug sanft an ihre Haut und strömte schäumend und prickelnd über jede wunde Stelle. Die Flammen tanzten und flackerten und verströmten einen Duft, der heilend und tröstlich wirkte. Destiny hob den Blick zu Nicolaes Gesicht und studierte seine markanten Züge. Ein langsames Lächeln fand zu ihrem Mund. »Dann bin ich wohl ein Glückspilz.«
Ihre Worte trafen ihn bis ins Herz. »Wie machst du das bloß, meine Kleine? Das verheißt nichts Gutes für unsere Zukunft. Einen Moment bin ich noch entschlossen, dich so streng zu tadeln, wie du es offensichtlich verdienst, und im nächsten denke ich nur noch daran, dich mit Küssen um den Verstand zu bringen.«
Destiny rahmte sein Gesicht mit ihren Händen ein. »Es ist eine Gabe. Das Küssen ist mir übrigens viel lieber.« Ihr Daumen strich über seine Kinnpartie. »Du hast so viele Schatten in deinem Bewusstsein. Du findest, es war falsch von mir, nicht nach dir zu mfen, doch das war es nicht. Wann glaubst du, du wärst mir weniger wichtig, würdest mir nicht so viel bedeuten wie ich dir? Glaubst du, du bist der Einzige, der Rechte hat? Ich will nicht um den Preis deines Lebens von dir beschützt werden. Du bist hier das Ziel, nicht ich. Ich bin lediglich der Köder, mit dem man dich herauslocken will. Zum Glück ist jedenfalls einer von uns imstande, in kritischen Situationen einen kühlen Kopf zu behalten.«
Nicolae gab einen gereizten Laut von sich. Als Destinys Mund sich zu einem Lächeln verzog, schüttelte er sie leicht. »Da gibt es nichts zu lachen, Destiny. Ich bin immer noch aus der Fassung, weil es dich auf der Straße und vorhin in der Höhle beinahe erwischt hätte.«
»Wusstest du, dass deine Augen sich zu einem wunderschönen Schwarz verdunkeln, wenn du dich über mich aufregst? Es erinnert mich an die Stunde um Mitternacht, die Zeit, wenn alles ganz still ist und die Sterne herauskommen und man den Nachthimmel sehen kann. So sind deine Augen.«
Nicolae seufzte betont. Seine Hände, die immer noch ihren Körper wuschen, verharrten auf ihren Kurven. »Meine Augen sollten dich erzittern lassen. Ich habe dich gerade mit einem äußerst strafenden Blick bedacht. Er sollte dich ängstigen und dich nicht an den Mitternachtshimmel erinnern.«
Ein Lachen entschlüpfte ihr, dieser kleine, unbeschwerte Laut, der bei ihr so selten war. »Ich kann nichts für dein Aussehen. Es ist nahezu unwiderstehlich, dich zu ärgern, nur um diese bestimmte Augenfarbe zu sehen.«
»Ich finde das nicht lustig.« Er versuchte, so ärgerlich zu klingen, wie er sich fühlte. Sie mochte ihn völlig aus dem Konzept bringen, aber er sah die ganze Zeit ihr von Schmerzen gezeichnetes Gesicht und ihren von dunklen Blutergüssen entstellten Körper vor sich. Er wusste, wie nahe er daran gewesen war, sie zu verlieren, und... es hätte nicht sein müssen.
Destiny wollte sich entschuldigen. Behutsam rührte sie an seine Erinnerungen, an den Moment, als ihm bewusst geworden war, dass sie in Gefahr war, aber nicht nach ihm rufen würde. Sie spürte das Entsetzen, das ihn bis ins Mark erschüttert hatte. Das ihm den Atem genommen hatte. Dann war da ein dunkler, schwelender Zorn, ein gefährlicher Dämon, der sich aufrichtete, streckte und seine Krallen zeigte, während er laut aufbrüllte.
Destiny sank wieder in seine Arme zurück und ließ das Wasser über ihr Gesicht laufen, um die Tränen zu verbergen, die in ihren Augen brannten. Nicolaes Zorn reichte tief, und er brodelte direkt unter der Oberfläche. Er hielt sie zärtlich in den Armen, wusch sie und raunte ihre dabei liebevolle Worte ins Ohr, doch der Zorn war trotzdem da. Sie hatte es geschafft, ihm Angst einzujagen. Und ihn zu verletzen. Sein seelischer Schmerz saß tief, und das war viel schwerer zu ertragen als sein Zorn.
»Ein bisschen Schmerz wird mich nicht umbringen, Destiny, und ist sicher nicht wert, dass du deshalb weinst.« Er hob sie hoch und zog ihren Kopf aus dem Wasser. »Deine Tränen tun mir weh. Hör auf.« Es war ein Befehl. Nicolae beugte sich vor, um Küsse auf ihre Augenlider zu hauchen.
Destinys Arme schlossen sich fest um seinen Hals. »Du bist eben nicht so hartgesotten, wie du glaubst.« Sie zwang sich zu einem kurzen Lächeln, um ihm eine Freude zu machen und ihm zu zeigen, wie viel er ihr bedeutete.
Er hob sie aus dem Becken und machte eine schnelle, ungeduldige Handbewegung, um den Boden zu öffnen. Dann kniete er sich nieder und bettete sie in das dunkle, reichhaltige Erdreich. Die Erde fühlte sich auf ihrer heißen Haut kühl und beruhigend an. Sofort spürte sie, wie sie so etwas wie inneren Frieden empfand. Ihre Wimpern senkten sich. »Sag mir, wie es kommt, dass du mit mir sprechen kannst, obwohl du nie mein Blut genommen hast.«
»Es ist nötig, um dich zu heilen.« Seine Stimme war sanft und einschmeichelnd.
»Ich weiß. Doch wie kommt es, dass wir so eine enge Verbindung haben?«
»Deine übernatürlichen Fähigkeiten sind viel stärker, als dir klar ist. Du bist extrem telepathisch veranlagt. Als Kind hast du nach mir gerufen und mich erreicht. Ich bin einer von den alten Karpatianern mit eigenen Fähigkeiten. Mein Bedürfnis, dir zu helfen, war stärker als alles andere, was ich je erlebt hatte. Sowie wir miteinander verbunden waren, war ich wie besessen von dir. Ich konnte nicht anders, als dich zu suchen.« Seine Fingerspitzen strichen ihr Haar zurück.
Sie hob einen Arm und hielt seine Hand fest. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Du kennst die Antwort.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen in der Höhle. Das schäumende Wasser im Becken schlug leise plätschernd an die Felsen und erzeugte eine eigenartige Musik.
»Wie kann jemand so viel Macht haben? Wie kannst du ohne die Bande des Blutes jemanden durch Zeit und Raum erreichen?«
»Ich habe schon immer besondere Gaben gehabt. Sowie du mit mir verbunden warst, warst du in mein Bewusstsein eingeprägt.« Und in mein Herz und meine Seele. Er beugte sich vor und küsste sie auf den Mundwinkel. »Mit jedem geistigen Kontakt wurde unsere Bindung stärker. Ich glaube, meine telepathischen Fähigkeiten reichen über die Blutsbande unseres Volkes hinaus.«
Ein kleiner Schauer lief ihr über den Rücken. »Woher soll ich wissen, dass du meine Gefühle für dich nicht verstärkst?
Ich muss wissen, dass meine Empfindungen für dich echt sind.«
Der Schmerz in ihrer Stimme rührte an sein Herz, aber seine Miene blieb ausdruckslos. »Das ist eine Sache, bei der ich dir nicht helfen kann, Destiny. Manche Dinge musst du selbst herausfinden. Glaubst du, ich habe so viel Macht, dass ich dich dazu bringen kann, mich zu begehren?«
Ihre blaugrünen Augen wanderten über sein Gesicht. Seine Muskeln waren steif und verkrampft vor Anspannung. Sie sah so zerbrechlich aus; ihre Haut war durchsichtig und ihr Körper zarter als sonst. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und sie vor jedem weiteren Schmerz bewahrt. Es machte ihn krank, sie so vor sich zu sehen, verletzt und erschöpft und am Ende ihrer Kraft. Sein Bruder hatte recht. Er hätte das Kommando übernehmen, sie wie ein Höhlenmensch über die Schulter werfen und in seine Heimat bringen sollen, ohne lange zu fragen.
Das winzige Lächeln, das um ihre Mundwinkel spielte, erregte sofort seine Aufmerksamkeit, Sein Daumen strich automatisch über ihre volle, samtweiche Unterlippe.
»Ich lese deine Gedanken, Nicolae. Es gibt ein Blutsband zwischen uns, schon vergessen. Zunächst einmal, hör bloß nie auf deinen idiotischen Bruder! Der Mann ist noch nicht mal aus der Höhle herausgekommen. Du machst deine Sache ganz gut.« Sie hätte ihn am liebsten auf der Stelle geküsst. Er hielt sich für so unbewegt, aber sie konnte den Hunger in seinen Augen sehen. Eine Intensität, die nicht geheuchelt war. Er mochte sehr mächtig sein und alle möglichen Fähigkeiten haben, unter anderem auch die, sie zu kontrollieren, doch sie konnte das inständige Verlangen und die aufrichtige Liebe in ihm sehen.
»Ich finde deinen Schmollmund sehr sexy.« Er neigte sich zu ihr und streifte ihren Mund zart, fast ehrfürchtig mit seinen Lippen.
Nicolae konnte mühelos Schmetterlinge in ihrem Magen tanzen lassen. »Du spinnst«, teilte sie ihm liebevoll mit und fuhr mit den Fingern durch sein Haar. »An mir ist gar nichts sexy.« Ihre Augen tanzten fröhlich. »Ich liege hier in der Erde, und du schaust mich an, als würdest du mich am liebsten aufessen. Ich glaube, du brauchst ein paar Sitzungen bei MaryAnn. Du bist ziemlich schräg, weißt du.« Aber er nahm ihr den Atem und erfüllte sie mit einem inneren Glühen, das nicht aufhören wollte. Er verstand es, ihr mitten in ihren schlimmsten Albträumen das Gefühl zu geben, schön und begehrenswert zu sein, obwohl sie wusste, dass es nicht stimmte. Er konnte sie vor Gewalt und Tod bewahren und in ein Paradies entführen, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte. Und vor allem war sie nie allein.
»Du bist offenbar krank und halluzinierst.« Wieder küsste er sie. Dabei bewies er große Zurückhaltung. Er küsste sie nicht besitzergreifend; er verschlang sie nicht mit Küssen und versagte es sich auch, sie hochzuheben und zu schütteln. In seinem Inneren tobte ein Sturm, der nie nachlassen würde. Nicolae konnte ihn beherrschen und verhindern, dass er ausbrach und die Erde erbeben ließ, doch er konnte ihn nicht verschwinden lassen.
Ihre Finger glitten wie von selbst aus seinen Haaren, und ihr Arm sank hinunter. »Dass ich krank bin, stimmt wohl. Ich schaffe es einfach nicht, meine Körpertemperatur zu regulieren. Erst war mir kalt, dann heiß, und jetzt friere ich wieder.«
»Ich werde mein Bestes geben, um dich zu heilen, Destiny; also bleib ganz still liegen und mach keinen Ärger. Ein Mann kann einiges verkraften, jedoch nicht alles.«
Seine Stimme war viel zu liebevoll, um sie einzuschüchtern. Sie lächelte, während ihr schon die Augen zufielen. »Ich wünschte, ich wäre ein Mensch, dann könnte ich die ganze Zeit von dir träumen.«
»Ich dachte, du hättest von mir geträumt.« Ihre schläfrige Stimme rührte an sein Herz. Er beugte sich vor und küsste sie noch einmal. »Schlaf jetzt, Destiny. Ich überlasse dich dem Schutz der Erde, sowie ich sicher bin, dass sämtliche Spuren des Vampirgifts beseitigt sind.«
Sie antwortete nicht. Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Ganz gleich, was er tat, nichts konnte den Makel in ihrem Inneren auslöschen. Sie hatte diese Tatsache akzeptiert, aber sie war sich nicht sicher, ob Nicolae es je können würde -ob er es überhaupt wollte. Destiny hatte keine Ahnung, wie dieses Problem gelöst werden könnte, und sie war viel zu müde, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie überließ sich dem Schlaf. Das leise Plätschern des Wassers und die Wärme, die sich in ihrem Körper ausbreitete, lullten sie ein, während Nicolae nach der Art seines Volkes den Heilungsprozess begann.
Nicolae arbeitete lange Zeit, um die Schäden zu reparieren, die die Mikroben angerichtet hatten, jedes innere Organ, jede einzelne Ader und Vene zu überprüfen und sich zu vergewissern, dass nirgendwo infizierte Zellen darauf lauerten, Destiny anzugreifen, wenn sie am verletzlichsten war. Trotz aller Sorgfalt wurde er das unbestimmte Gefühl nicht los, irgendetwas übersehen zu haben.
Er spürte es sofort, als Vikirnoff die Sicherheitsvorkehrungen aufhob und die Kammer betrat, und hörte gleich darauf, wie sein Bruder zusammen mit ihm den rituellen Heilungsgesang anstimmte. Wie immer war er dankbar für Vikirnoff mit seiner Stärke und Loyalität, der ihm Rückendeckung gab und stets zur Stelle war, wenn er Hilfe brauchte.
Nicolae verließ Destinys Körper taumelnd vor Müdigkeit. Er warf seinem Bruder einen schnellen Blick zu, hauptsächlich, um sich zu vergewissern, dass er im Kampf gegen ihre Feinde keinen Schaden genommen hatte.
»Wie geht es ihr?«, fragte Vikirnoff höflich. »Ist sie in Ordnung?«
»Sie ist stur und tollkühn. Einfach unmöglich«, erwiderte Nicolae kurz, während er Destiny in einen tiefen Schlaf versetzte. Erst jetzt ließ er zu, dass sein mühsam unterdrückter Zorn gefährlich nah an die Oberfläche kam. Der Boden unter ihren Füßen schwankte leicht, und das Wasser im Becken schäumte auf. »Sie hätte mich beim ersten Anzeichen von Gefahr sofort rufen müssen. Dann wäre nichts von dem hier passiert. Stattdessen war sie in Lebensgefahr, und ich hätte sie beinahe verloren.«
Vikirnoff zuckte lässig mit den Schultern. »Es hat keinen Sinn, wütend auf sie zu sein, nur weil sie dich nicht gerufen hat. Ich sehe keinen Grund für deinen Zorn.«
»Du hast mich von Anfang an zurechtgewiesen, weil ich ihr erlaube, auf die Jagd zu gehen, Vikirnoff. Und jetzt soll ich mich nicht aufregen, wenn sie sich Hals über Kopf in Gefahr begibt?«
»Destiny hatte niemanden, der sie leiten oder führen konnte. Mit sechs Jahren wurde sie ihrer Familie entrissen. Alles, was sie je gelernt hat, hat sie von dir gelernt. Du hast ihr beigebracht, zu jagen und sich nur auf sich selbst und ihr eigenes Urteilsvermögen zu verlassen. Du hättest in dieser Situation auch nicht daran gedacht, nach ihr zu rufen. Du hast nicht einmal nach mir gerufen. Sie hat keine Angst vor dem Tod, nur davor, in die Fänge der Untoten zu geraten, und du weißt, dass sie entschlossen ist, das um jeden Preis zu verhindern. Sie ist wie du. Unabhängig und mutig. Mach ihr diese Eigenschaften nicht zum Vorwurf. Sie sind bewundernswert. Du bist der Einzige, der Destiny Einhalt gebieten kann. Bring sie in unsere Heimat.«
Nicolae hätte seinem Bruder gern widersprochen und ihn darauf hingewiesen, dass er weit erfahrener, weit weniger verwundbar und viel mächtiger als Destiny war. Aber nichts davon änderte etwas daran, dass Vikirnoff recht hatte. Destiny verhielt sich genauso, wie sie es von ihm gelernt hatte. Sie hatte nicht nach ihm gerufen, weil sie gewöhnt war, allein zurechtzukommen. Sie hatte die unmittelbare Gefahr nicht gespürt, weil sie an Nicolae gedacht hatte. Er wusste, dass ein Gutteil seiner Reaktion schlicht und einfach Angst um Destiny war, doch ein anderer Teil basierte auf der irrigen Annahme, dass sie sich jetzt, da sie miteinander geschlafen hatten, in jeder gefährlichen Situation instinktiv an ihn wenden würde.
Seufzend fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar, sodass es strubbeliger denn je aussah. »Ich werde dir jetzt nicht recht geben, weil ich deine Schadenfreude nicht ertragen könnte.«
»Ich bin nicht schadenfroh«, widersprach Vikirnoff.
»Doch, bist du. Und ich kann nicht fassen, dass du nach all diesen Jahrhunderten auf einmal vernünftig klingst. Ehrlich, es ist erschreckend.«
»Es ist wohl eher so, dass du selbst überhaupt nicht mehr vernünftig bist, seit du deine Gefährtin gefunden hast. Ich hoffe, es geht nicht allen Männern so. Das wäre eine Schande.«
»Dein Sinn für Humor macht keine Fortschritte«, stellte Nicolae trocken fest.
»Ich habe keinen Sinn für Humor«, erwiderte Vikirnoff.
»Was du nicht sagst«, scherzte Nicolae. Sein Lächeln verblasste schnell wieder. »Sie hat sich gut geschlagen.«
Vikirnoff nickte. »Ja, sie ist eine ebenbürtige Gefährtin für dich. Ich hätte nicht geglaubt, das bei ihrem unreinen Blut und ihrer ungestümen Art jemals zu denken, aber sie hat sehr viel Mut. Vor nicht allzu langer Zeit wurde ein Ruf ausgesandt. Die Gefährtin eines unserer Männer erwartete ein Kind und lag im Sterben. Es wurde nach Heilem verlangt, und unser Volk wurde aufgerufen, sich zusammenzuschließen, um dabei zu helfen, das Heilungsritual zu vollziehen, sei es auch nur aus der Ferne.«
Nicolaes Herz machte vor freudiger Erregung einen Satz. »Das stimmt. Es war nicht weit von hier. Die Heiler müssten noch bei der Frau sein. Einer von ihnen war Gregori.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Vikirnoff war mit seinem Bruder bei ihren Kämpfen gegen die Untoten immer geistig verbunden, weil es auf diese Art leichter war, ihre Strategien aufeinander abzustimmen. Sie beide hatten die grausamen Worte gehört, die der Vampir Destiny einflüsterte. Er hatte ihr gesagt, dass der Prinz sie nicht akzeptieren würde. Dass Gregori sie jagen und niemand sie in der Nähe der anderen Frauen dulden würde. Beide hatten die Scham gespürt, mit der Destiny reagierte. Der Vampir hatte genau gewusst, was er sagen musste, um ihre Angst vor Demütigung zu schüren.
»Sie wird ihn ablehnen und weglaufen.«
Vikirnoff schüttelte den Kopf. »Dir bleibt nichts anderes übrig, als ihn zu rufen. Er wird bald in unsere Heimat zurückkehren. Nach allem, was der Vampir ihr eingeredet hat, wirst du sie nie dazu bringen, dorthin zu gehen. Sie glaubt, für sie gäbe es keine Heilung. Rufe den Heiler. Er vermag mehr als jeder andere. Du wirst sie irgendwie überreden müssen, seine Heilkraft zu akzeptieren.«
Nicolae dachte nach. Was Vikirnoff sagte, war durchaus vernünftig. »Möglicherweise gibt es tatsächlich keine Heilung«, wandte er ein.
Vikirnoff sah ihn an. »Es ist einen Versuch wert.«
Bevor er es sich anders überlegen konnte, sandte Nicolae einen Ruf auf dem allgemeinen Verbindungsweg der Karpatianer aus. Hör mich an, Heiler. Wir brauchen dich. Das Blut des Vampirs foltert meine Gefährtin bei jedem Erwachen. Ich will sie nicht verlieren. Ihr Blut wirkt auf die Untoten wie ein Fanal und verhindert unsere vollständige Vereinigung. Ich bitte dich zu kommen, wenn der Zustand der Frau, der du geholfen hast, nicht länger lebensbedrohlich ist.
Die Zeit verstrich. Das Wasser sprudelte im Becken, und die Flammen flackerten an den Wänden. Edelsteine funkelten einen Moment lang an der Decke und waren im nächsten verschwunden. Die Antwort kam. Es wurden keine Fragen gestellt. Niemand wollte wissen, wer Nicolae war oder wie seine Gefährtin in eine solche Verfassung hatte kommen können. Ich mache mich sofort auf den Weg. Wir brechen beim nächsten Erwachen auf. Es war ein typisches Beispiel für die selbstlose Hilfe der Karpatianer, und Nicolaes Herz war so voll, dass er nicht antworten konnte.
»Danke, Vikirnoff. Er kommt.« Nicolae langte in seine Hemdtasche und zog ein zerknittertes Foto heraus. »Ein Vampir hat MaryAnn in ihrem Büro besucht und ihr über einen geistigen Zwang befohlen, die Nummer auf seiner Geschäftskarte anzurufen, falls die Frau auf diesem Bild bei ihr Hilfe suchen sollte. Ich glaube, wir müssen sie finden und alles tun, um sie zu beschützen. Ich kann jetzt nicht von hier weg. Würdest du mit der Suche beginnen? Wir können Kopien der Aufnahme machen - MaryAnn hat das entsprechende Gerät - und unter unseren Leuten verteilen.«
Vikirnoff, der das Bild genommen und mit mäßigem Interesse betrachtet hatte, versteifte sich plötzlich und heftete seinen Blick erneut auf das Bild, um es sorgfältig zu studieren. »Wer ist diese Frau?«
»Er hat keinen Namen genannt. Es waren kaum Erinnerungen an das Gespräch und gar keine Erinnerungen an den Vampir selbst vorhanden. Ich konnte ihn nicht in MaryAnns Gedächtnis sehen. Warum? Kennst du sie?«
»Ist das ein Farbfoto, Nicolae?« Er sah seinen Bruder nicht an, sondern starrte weiter wie gebannt auf das Bild.
Nicolae beobachtete, wie Vikirnoff liebevoll mit der Daumenkuppe über das Hochglanzpapier strich. »Ja, ist es. Kennst du sie?«, fragte er noch einmal. Er hatte noch nie erlebt, dass Vikirnoff Interesse an einer Frau zeigte.
»Ich habe ihr Gesicht gesehen. Ihre Augen. Nicht in Wirklichkeit; es war in einem Traum. In einem Traum, Nicolae, vor langer Zeit. Ihr Haar war schwarz wie die Nacht, und ihre Augen waren so blau wie die See, wenn sie ruhig und spiegelglatt ist. Dieses tiefe Blau ihrer Augen ist die einzige Farbe, an die ich mich noch erinnern kann. Diese Erinnerung hat mich nie losgelassen. Sind ihre Augen blau? Sind ihre Augen auf dem Foto blau? Haben sie ein auffallendes, strahlendes Blau?«
Nicolaes Herz füllte sich mit leiser Hoffnung. »Ja, Vikirnoff. Ihre Augen sind blau, und ihr Haar ist tiefschwarz. Du hast mir nie von diesem Traum erzählt.«
Vikirnoff zuckte mit den Schultern, doch sein Blick hing an dem Foto. »Warum sollte ich? Es war nur ein Traum. Was weißt du von ihr?«
»Wir glauben, dass sie ein Mensch ist und übersinnliche Fähigkeiten besitzt. Der Vampir hat angedeutet, sie besäße die Gabe der Psychometrie. Das ist alles, was wir wissen. Er hat behauptet, von einem Forschungszentrum für parapsychologische Phänomene zu kommen, wo man ihr angeblich helfen will. Sie läuft vor irgendjemandem davon, wahrscheinlich vor dem Vampir. Ich halte es für besser, wenn unsere Leute sie vor ihm finden.«
»Das könnte Jahre dauern, Nicolae. Ich kann dich nicht verlassen, solange du von Vampiren umzingelt und mit einer Gefährtin belastet bist, die dich durchaus in Gefahr bringen könnte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ihr Blut ist unrein, und wir wissen nicht, ob man daran etwas ändern kann. Ich will dich nicht verlieren, Nicolae. Du weißt, wie nahe ich dem Ende bin. Sollte dir und deiner Gefährtin etwas zustoßen, wäre es auch mit mir aus. Hier kann ich dir helfen. Wenn ich diese geheimnisvolle Frau suche, kann ich nichts für dich tun.«
Nicolae wehrte den Protest mit einer Handbewegung ab. »Ich bin ein Jäger, ein Beschützer unseres Volkes, genau wie du. Wir können nichts anderes tun, als das, was von uns erwartet wird. Unsere Ehre verlangt es.«
»Ich werde in ein, zwei Tagen mit der Suche beginnen. Am besten wäre es, ihr Foto ein paar Leuten in der Stadt zu zeigen. Falls sie hier in der Gegend war oder erwartet wird, weiß vielleicht jemand etwas über sie. Das wäre immerhin ein Anhaltspunkt.«
»Es ist möglich, dass der Vampir zu MaryAnn ging, noch bevor die Frau nach Seattle gekommen ist«, überlegte Nicolae laut. »Velda ist die richtige Anlaufstelle. Inez und ihr entgeht nichts.«
Vikirnoff schauderte sichtlich. »Vielleicht solltest du mit ihnen sprechen. Ich bleibe lieber im Hintergrund.«
Nicolae zog die Augenbrauen hoch. Er erwiderte nichts, sah seinen Bruder aber mit unverhohlener Belustigung an.
»Ich sehe keinen Grund für deinen neuen, eigenartigen Humor, Nicolae. Es ist eine Frage der Logik. Die Frau kennt dich und wird dir Dinge erzählen, die sie mir gegenüber nie erwähnen würde.«
Nicolae schnaubte. »Du bist ein Feigling. Du hast Angst vor zwei reizenden alten Damen. Das hätte ich nie gedacht.«
»Mit reizenden alten Damen zu sprechen, kann einen Mann bis in die Grundfesten erschüttern«, erklärte Vikirnoff unbeirrt. »Sie rudern mit den Armen und kreischen wie Hühner. Tatsächlich hat es nicht das Geringste mit Angst zu tun, sondern nur mit der bedauerlichen Tatsache, dass die beiden mit Sicherheit unerwünschte Aufmerksamkeit auf mich lenken würden.«
Nicolae setzte sich abrupt auf einen Felsvorsprung. »Da ist was dran. Ich muss zugeben, dass ich eine Schwäche für Velda und Inez entwickelt habe, obwohl mir ein Rätsel ist, wie das passieren konnte. Ehrlich gesagt, mir machen die beiden auch Angst. Übrigens ist Velda ebenfalls übersinnlich veranlagt. Sie weiß Dinge, die ich gern näher untersuchen würde. Hast du vielleicht eine Ahnung, was die Menschen in diesem Viertel dazu bringt, sich völlig entgegengesetzt zu ihrer wahren Natur zu verhalten?«
Vikirnoff zuckte wieder mit den Schultern. »Ich kann keine Einflussnahme eines Vampirs entdecken. Das Ganze ist beunruhigend. Das Gift, das bei deiner Gefährtin verwendet wurde, ist in der Zusammensetzung viel komplizierter als jedes andere, das ich kenne. Mir gefällt nicht, dass es so etwas wie den Anschein einer Ordnung unter den Vampiren gibt und dass einer von ihnen Kriegspläne von einem noch nie da gewesenen Ausmaß schmiedet.«
»Möglicherweise weiß Gregori etwas darüber. Er steht an zweiter Stelle nach dem Prinzen und verfügt über sämtliche Informationen. Wenn eine solche Falle für mich aufgebaut werden konnte, kann dasselbe dem Prinzen passieren. Er sollte unbedingt vor dieser Möglichkeit gewarnt werden.«
Vikirnoff musterte Nicolaes blasses Gesicht. »Du sorgst nicht gut genug für dich selbst. Du musst im Vollbesitz deiner Kraft sein, um dem Lockruf von Destinys Blut zu widerstehen. Wir wissen nicht, was passiert, wenn du der Versuchung erliegst. Ich habe noch nie von einem derartigen Fall gehört, und wir können unmöglich wissen, was uns erwartet.« Was Vikirnoff in seiner üblichen unverblümten Art aussprach, war eindeutig ein Tadel.
Nicolae seufzte. »Du musst einfach immer den älteren Bruder herauskehren.«
»Wenn die Begegnung mit seiner Gefährtin einen Karpatianer dazu bringt, jede Vernunft über Bord zu werfen, bin ich mir nicht sicher, ob es eine gute Sache ist.« Noch während er sprach, strich sein Daumen fast unbewusst über das Gesicht der Frau auf dem Foto.
Nicolae streckte seine Hand aus. »Ich bringe die Fotografie in MaryAnns Büro und mache Kopien, die du Velda und Inez zeigen kannst.«
Vikirnoff zögerte, was für ihn eher untypisch war. Dann steckte er das Foto in sein Hemd. »Ich fertige die Kopien selbst an und gebe dir eine davon. Du kannst sie den Frauen zeigen.« Er ritzte sich mit den Zähnen das Handgelenk auf und streckte seinen Arm aus.
Nicolae neigte den Kopf über die lebenspendende Flüssigkeit. Das wird allmählich zu einer ständigen Gewohnheit.
»Das ist mir auch .schon aufgefallen. Ich werde noch in den Ruf der Völlerei kommen, weil ich ständig für uns beide Nahrung beschaffen muss«, bemerkte Vikirnoff trocken.
Das kräftige, heilende Blut der alten Karpatianer strömte durch Nicolaes Körper und versorgte Muskeln und Gewebe mit neuer Energie. Er nahm, was er brauchte, wobei er auch daran dachte, dass er beim nächsten Erwachen Destiny Blut geben musste. Sorgsam verschloss er die Wunde.
»Ich danke dir, dass du mein Bruder bist und immer zu mir stehst«, erklärte er förmlich.
Vikirnoff nickte kurz, ohne etwas zu erwidern. Schon begann seine Gestalt zu flirren und flimmern. Ich suche mir einen eigenen Ruheplatz, nahe genug, um zur Stelle zu sein, falls es nötig ist, doch weit genug entfernt, um eure Privatsphäre nicht zu verletzen.
Die Flammen in der Urne flackerten und erloschen, als wäre ein Windhauch durch die Kammer geweht. Eine Fülle heiltätiger Aromen erfüllte die Höhle und drang tief in Nicolaes Lunge. Er streckte sich und spürte, dass die Anspannung in seinem Körper allmählich nachließ. Noch immer schwelten bei der Vorstellung, was geschehen war und was hätte passieren können, leiser Zorn und Angst in ihm, aber Vikirnoff war es gelungen, den tosenden Sturm in ihm zu beschwichtigen.
Nicolae begann, an allen Eingängen in den Berg und in das Labyrinth unterirdischer Höhlen ein dichtes Netz an Sicherheitsvorkehrungen aufzubauen. Er wollte nicht feststellen, dass er seinen Ruheplatz mit einem Vampir teilte. Nachdem er die Senke im Boden vertief hatte, ließ er sich in die warme Erde gleiten.
Er beabsichtigte, beim nächsten Erwachen eine Möglichkeit zu finden, Destiny noch enger an sich zu binden und dazu zu bringen, die Heilkunst des Stellvertreters des Prinzen anzunehmen. Wie jeder Jäger konnte er absolut skrupellos sein, wenn es - wie jetzt - die Situation verlangte. Destiny würde Gregori sicher nicht freudig willkommen heißen oder Nicolae dafür dankbar sein, dass er den Heiler gerufen hatte.
Nicolae nahm Destiny in seine Arme und verschloss mit einer Handbewegung die Erde über ihnen. Das Erdreich war warm und tröstend. Er zog Destiny eng an sich, streifte ihren Scheitel mit seinen Lippen und ließ zu, dass sein Herz zu schlagen aufhörte.