Kapitel 3
Destiny öffnete die Augen und wartete auf die furchtbaren Schmerzen. Die Qualen, die sie bei jedem Erwachen litt, schnürten ihr die Luft ab und brachten sie beinahe um den Verstand, bis sie es irgendwie schaffte, wieder durchzuatmen und zu funktionieren. Immer in diesen Augenblicken war Nicolae mit ihr in Verbindung getreten, als zögen Destinys Schmerzen ihn an, als ermöglichten sie ihm, zu ihr zu finden. Heute war es anders. Der Schmerz war da, ein scharfes Brennen, das in ihrem Blut und ihren Knochen pulsierte, aber es waren nicht mehr die unerträglichen Qualen, die in den letzten Jahren eine solche Folter gewesen waren. Indem er ihr sein uraltes Blut eingeflößt hatte, hatte Nicolae ihr eine gewisse Erleichterung verschafft.
Obwohl sie heute weniger stark sind, kann ich deine Schmerzen immer noch fühlen. Komm zu mir! Mein Blut fließt in deinen Adern, es wird dir leichtfallen, mich zu finden. Komm zu mir, damit ich tun kann, was in meiner Macht steht, um dich zu heilen. Es war ein leises Raunen, verführerisch und nahezu unwiderstehlich.
Destiny starrte den Nachthimmel an; sie war wie verzaubert von seiner natürlichen Schönheit. Über ihrem Kopf wiegten sich sanft die Äste der Bäume, deren Laub in einem unwirklichen silbrigen Ton schimmerte. Nicolaes schöne, melodische Stimme schlug Destiny in ihren Bann. Es war nicht nur so, dass sie sich einfach wünschte, ihm zuzuhören, sie brauchte es, dass er mit ihr sprach. Sie konnte nicht zählen, wie oft sie sich in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins verkrochen hatte, um dem Grauen ihres Daseins zu entfliehen, und ihn dort vorgefunden hatte, wie oft sie einfach der Magie seiner unglaublichen Stimme gelauscht hatte. Die Intensität ihres Verlangens nach ihm schien stärker zu werden, je älter sie wurde.
Wenn du schon dabei bist, Gründe zu finden, mich zu fürchten, solltest du dich vielleicht daran erinnern, dass ich in der Lage gewesen wäre, dein Blut zu nehmen und dich für immer an mich zu binden, es aber nicht getan habe. Ich möchte, dass du freiwillig zu mir kommst. Wenn ich vorhätte, dich gegen deinen Willen an mich zu fesseln, hätte ich dein Blut genommen und dir nicht meines gegeben. Jetzt hast du Macht über mich. Du weißt, dass ich die Wahrheit sage.
Destiny hob trotzig das Kinn. Er brauchte ihr nicht zu sagen, was offenkundig auf der Hand lag. Damit muss ich mich allein auseinandersetzen, Nicolae. Dein Rat ist weder nötig noch erwünscht.
Er lachte leise, ein Lachen reiner Freude, das sich in ihr Inneres stahl und unerwartet an ihr Herz rührte. Destiny sog scharf den Atem ein, und ihre Augen weiteten sich im Schock, als ihr eine jähe Erkenntnis kam. Ein Teil von ihr wollte, dass er ihr nahe war. Sie war in der Erwartung, ja, mit der Hoffnung aufgewacht, seine Stimme zu hören und die geistige Verbindung zwischen ihnen zu spüren.
Tiefe Röte kroch an ihrem Nacken hoch und stieg ihr ins Gesicht, als sie sich von ihrem Ruheplatz erhob. Sie empfand sich selbst als äußerst diszipliniert und war stolz darauf, aber jetzt konnte sie spüren, wie beim Klang seiner Stimme Schmetterlinge durch ihr Inneres schwebten und sich eine verräterische Wärme in ihrem Körper ausbreitete. Und das nur, weil sie wusste, dass er in der Nähe war.
Ich will dich nicht hier haben! Ihre Worte klangen hitzig, weil sie schockiert über sich selbst war, über das, was sie für ihn empfand.
Sein Lachen, das von purer männlicher Erheiterung zeugte, ging ihr unter die Haut. Er war schon viel zu oft in ihrem Bewusstsein gewesen, um es nicht zu erkennen, wenn sie durcheinander und verwirrt war. Destiny ließ zischend ihren Atem entweichen. Gefühle können einen verraten, Nicolae - diese Lektion habe ich von einem Meister seines Fachs gelernt. Es ist eine Wahrheit, die ich akzeptiere. Gefühle hatten Nicolae ermöglicht, sie zu finden. Wenn Destiny nicht zufällig gehört hätte, wie MaryAnn mit einer ihrer Klientinnen gesprochen hatte, wenn ihre Worte nicht genau das gewesen wären, wonach Destiny gehungert hatte, hätte sie ihr unstetes Herumziehen von einem Ort zum anderen fortgeführt, und Nicolae hätte sie nie gefunden.
Ich hätte dich gefunden. Unerschütterliche Überzeugung lag in seiner beunruhigend schönen Stimme. Du weißt, dass ich dich immer finden werde.
Dann wird es zwischen uns zum Kampf kommen.
Jetzt klang sein Lachen ein wenig rauchig. Zwischen uns hat es nie Krieg gegeben, und es wird auch nie einen geben. Wir sind zwei Hälften eines Ganzen.
Destiny wand sich innerlich bei seinen Worten. In ihren Ohren klangen sie wie eine Anschuldigung. Sie hatte ihn beim Töten erlebt, sie hatte das dunkle Tier gesehen, das tief in seinem Inneren auf der Lauer lag. Sosehr sie sich auch wünschte, es wäre anders - sie war immer noch das, was ein Monster aus ihr gemacht hatte. Einen Moment lang presste sie ihre Fingerspitzen an die Schläfen und schloss die Augen, um die Schönheit der Nacht auszuschließen, die Schönheit seiner Stimme und den Zauber der Dinge, die sie wahrzunehmen gelernt hatte.
Die Gestalt zu verändern, über Wolken zu gleiten, auf allen vieren zu laufen wie eine gut geölte Maschine, die Sterne am Himmel wie einen Diamantenschauer zu erleben - all das war Teil der Macht, die sie besaß. Destiny gelang es nicht, ihr Dasein zu hassen, und diese Erkenntnis verstärkte ihre Schuldgefühle. Sie hatte immer eine Wahl gehabt, und sie hatte sich entschieden zu leben. Entschieden, in MaryAnn Delaneys Nähe zu bleiben. Und irgendwann einmal hatte sie sich entschieden, auf ein perverses Monster zu hören. Es hatte ihre Familie ermordet und ihre Kindheit zu einer Hölle auf Erden gemacht.
Hör auf!, sagte Nicolae scharf. Es war der Befehl von jemandem, der absoluten Gehorsam gewöhnt war. Du warst ein Kind, ein kleines Mädchen, und hattest keine Ahnung, dass es so bösartige Geschöpfe gibt. Du hättest unmöglich verhindern können, was dieser Vampir deiner Familie angetan hat, und du bist auch nicht dafür verantwortlich. Du verfügst über seltene Gaben. Es gibt andere wie dich auf der Welt, andere junge Frauen, vielleicht auch junge Männer, die durch ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten unabsichtlich die Aufmerksamkeit der Vampire auf sich lenken. Sie sind in keiner Weise für das, was diese Monster tun, verantwortlich zu machen. Ein Vampir hat sich bewusst für diese Form von Existenz entschieden. Früher einmal bewegte er sich im Licht und genoss Ehre und Ansehen. An irgendeinem Punkt seines Lebens wusste er, dass er seine Seele in Gefahr bringen würde, wenn er weiter existierte. Er wusste, was er zu tun hatte, entschied sich aber stattdessen dafür, ein Untoter zu werden. Schau in meine Erinnerungen; ich erlaube es dir gem. Du kannst nicht glauben, dass dich die Schuld trifft.
Destiny schwieg einen Moment lang. Sie wollte ihm glauben, sehnte sich nach Absolution, wollte sich von der Magie seiner Stimme einlullen lassen und allem, was ihr jemals zugestoßen war, entfliehen. Deine Stimme ist eine Waffe. Destiny sprach die Worte laut aus und ebenso in ihrem Bewusstsein. Sie musste den Klang ihrer Stimme hören, um es zu glauben.
Du hast Angst. Es ist normal, das zu fürchten, was man nicht kennt, meine Kleine. Seine Stimme war so liebevoll, dass sie beinahe geweint hätte. Sie sehnte sich danach, bei ihm zu sein und von ihm im Arm gehalten zu werden. Ihre Reaktion war so stark und ihrem Wesen so fremd, dass sie erschrak und noch mehr Angst bekam. Destiny fühlte sich aus dem Gleichgewicht gebracht und unentschlossen, und das gefiel ihr nicht. Er hatte schon lange nicht mehr »meine Kleine« zu ihr gesagt. Sie versuchte, sich einzureden, dass der Kosename sie aus der Bahn geworfen hatte, aber sie wusste es besser.
Sie mochte Angst haben, doch sie war kein Feigling. Zumindest sich selbst gegenüber konnte sie ehrlich sein ... und ihm gegenüber auch. Destiny hob das Kinn und straffte die Schultern. Ja, ich habe Angst. Ich weiß nicht mehr, wie ich anderen vertrauen soll. Ich weiß nicht einmal, ob ich mir selbst trauen kann. Ich habe der Schönheit einer Stimme getraut und bin getäuscht ivorden.
Du warst ein Kind. Seine liebevolle Stimme rührte direkt an ihr Herz.
Ist das eine Entschädigung?
Du hast nichts Unrechtes getan. Trotzdem machst du dir Vorwürfe, weil du am Leben geblieben bist. Es war dir bestimmt, zu überleben. Lass dir von mir helfen.
Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, sodass es sich wie eine dunkle Wolke um ihr Gesicht bauschte. Nagender Hunger brannte in ihrem Inneren. Destiny versuchte, ihn zu ignorieren und die Erkenntnis zu unterdrücken, dass ihr ihre Art von Nahrungsaufnahme nicht mehr so abstoßend vorkam wie früher. Genauso, wie sie zu ignorieren versuchte, wie leicht es ihr fiel, ihre Beute zu kontrollieren. Sie zuckte zusammen. Beute. Hast du mich gehört? Ich habe an sie als Beute gedacht, nicht als Menschen. Das ist aus mir geworden. Das hat er aus mir gemacht. Wie kannst du mir helfen? Wie kann ich dir vertrauen? Ich weiß, was du bist. Du hast mir geholfen, ihn zu töten. Du hast mich gelehrt, das zu werden, was ich bin. Ich sehe die Dunkelheit in dir. Leugnest du das?
Natürlich nicht. Das Tier ist Teil von mir. Es ist ebenso sehr meine Stärke wie meine Schwäche. Aber ich bin viel mehr als eine stumme Kreatur, die sich am Tod und an den Qualen anderer weidet. Genauso, wie du viel mehr bist, als er aus dir zu machen versucht hat.
In mir ist Dunkelheit. Sie würde ihn nicht belügen. Nicht ihn. Und auch sich selbst nicht mehr.
Mein Liebes. Er sprach ganz leise. Sein Blut fließt in deinen Adern . Es quält dich und spricht zu dir, aber es ist seine Dunkelheit, die du fühlst, nicht deine eigene. Karpatianer sind große Heiler. Die Erde hier ist gut, aber die Erde unserer Heimat ist unvergleichlich. Sein verunreinigtes Blut kann entfernt werden. Unsere Heilerund unsere Heimaterde können dich von seinem Schatten in deinem Inneren befreien.
Wie kann ich irgendetwas von dem glauben, was du sagst? Sie fragte es fast verzweifelt und wünschte sich, er könnte ihr geben, was sie brauchte. Zuversicht. Sie brauchte Zuversicht, aber sie wagte nicht, je wieder an etwas zu glauben.
Das ist etwas, das nur du beantworten kannst. In seiner Stimme war keine Ungeduld zu hören, kein Zorn, nur eine liebevolle Wärme, die ihr das Herz zu zerreißen drohte. Die Antwort darauf musst du selbst finden. Wenn du wirklich keinen Unterschied zwischen mir und diesem verabscheuungswürdigen Monster erkennst, das dich aus der Geborgenheit deiner Familie gerissen und dich -uns beide-seinen grausamen Foltern unterworfen hat, dann gibt es nichts, womit ich mich verteidigen könnte. Du musst in mein Herz und meine Seele blicken, über das Tier hinaus, und den Mann sehen. Sehen, was du für mich bist. Mein Herz und meine Seele. Alles, was mich ausmacht. Wenn du mich siehst, alles von mir, nicht nur Bruchstücke, dann hast du deine Antwort.
Sie hasste ihn für die Worte, die er in ihr Bewusstsein hauchte, für die Versuchung, in die er sie führte. Seine geistige Berührung war kaum zu spüren, und seine Worte streiften mit äußerster Behutsamkeit ihre grauenhaften Erinnerungen. Er lockte sie immer tiefer in sein Netz. Sie war fasziniert von ihm. Von allem, was er sagte. Von allem, was er versprach. Von allem, was er nicht erwähnte: seine Stärke und die Macht, die er besaß. Sein Wissen. Die Tatsache, dass er sie beschützt hatte, als sie ein hilfloses Kind gewesen war. Und die Tatsache, dass er ihr sein Blut gegeben und nicht einen Tropfen von ihrem genommen hatte. Blut war Macht. Es stellte eine innere Verbindung her. Er hatte sie behütet, wie es kein anderer je getan hatte, und sie im Arm gehalten, als bedeutete sie ihm viel. Er hatte Dinge gesagt, die ihren inneren Panzer wie Pfeile durchbohrt hatten. Schöne Dinge, Dinge, nach denen sie sich sehnte. Dinge, die sie ängstigten.
Als sie die Erde an der Stelle, wo sie geruht hatte, auffüllte, damit alles wie vorher aussah, spürte sie, dass ihre Beine leicht zitterten. Erschrocken legte Destiny eine Hand an ihr Gesicht. Auch ihre Hand zitterte. Verdammt, ich will dich nicht hier haben! Was, wenn sie ihn töten musste? Wenn er ihr keine andere Wahl ließ? Er nahm ihr so viel an Kraft, dass sie von Kopf bis F uß zitterte. Sie konnte es sich nicht leisten, ihn in der Nähe zu haben. Sie würde ihn in ihrem Territorium nicht dulden.
Du bist es wert, dass ich mein Leben aufs Spiel setze. Du bist es schon immer wert gewesen. Nicolae klang so aufrichtig, als meinte er jedes Wort ernst.
Destiny schüttelte den Kopf. Er wollte also nicht gehen, und sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht glauben, dass er böse war. Er würde es ihr nicht leicht machen, indem er einfach verschwand. Aber wollte sie wirklich, dass er ging? Der Gedanke kam wie von selbst und ließ sie nicht mehr los.
»Ich bin gespalten.« Destiny sagte es laut und hob dabei den Blick zum Himmel. Sie wünschte, sie wäre wirklich mit MaryAnn befreundet und könnte mit ihr über Nicolae sprechen. »Ein Teil von mir will, dass ich von ihm enttäuscht bin, wenn er nicht bleibt. Wenn er mich nicht mehr will.« So, es war heraus, und sie hatte nicht am Boden zerstört gesagt. Die Worte waren ihr zwar einen Moment lang durch den Kopf gegangen, aber sie hatte sie nicht laut ausgesprochen.
Wie könnte sie ohne ihn überleben? Sie lebte seit Jahren mit ihm. Teilte bei jedem Erwachen seine Gedanken und lauschte der Magie seiner Stimme. Sie wusste nicht, wann er begonnen hatte, sich in ihr Herz zu stehlen. Sie hatte gewusst, dass sie ihn für ihren ständigen Kampf gegen die Untoten brauchte, aber ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie ihn zum Leben brauchte.
Jetzt konnte sie ihn finden, jederzeit und überall. Zwischen ihnen gab es ein Blutsband. Sie konnte ihn beobachten, wann immer sie wollte, und Einblick in sein Bewusstsein nehmen, um zu sehen, was er gerade fühlte oder tat. Es verschaffte ihr einen Vorteil vor ihm. Sie würde es wissen, wenn er Jagd auf sie machte. Und sie würde es wissen, wenn er tötete.
Entschlossen wandte sie sich der Stadt mit all ihrem Treiben zu. Sie hatte die Angelegenheit mit MaryAnn zu lange auf sich beruhen lassen, und sie wollte es hinter sich bringen. Drei Schritte Anlauf, und sie erhob sich in die Lüfte, breitete die Arme aus, die zu Flügeln wurden, und ließ sich vom Wind in die Höhe tragen. Die Erde blieb unter ihr zurück und mit ihr all ihre Ängste. Destiny schaltete jeden Gedanken an Nicolae und Vikirnoff aus und gönnte sich den Luxus, die reine Freude am Fliegen zu genießen. Sie würde es nie müde werden, die Gestalt einer Eule anzunehmen.
Die Welt wirkte wunderschön, als sie über den Himmel zog, wo die kühle Luft ihren Körper reinigte und sie sich sauber, unversehrt und lebendig fühlte. Ohne sich Zeit zum Herumtollen zu lassen, schoss sie durch die Wolken. Sie hatte etwas zu erledigen. Sie suchte an vertrauten Orten nach Hinweisen auf MaryAnn. Ihren Geruch, den Klang ihrer Stimme, ihr leises Lachen. Destiny fand, was sie suchte, in einer kleinen Bar, wo sich die Einheimischen dieses Viertels gern trafen, um den neuesten Klatsch auszutauschen.
Destiny landete auf dem Dach des Delikatessengeschäfts auf der anderen Straßenseite der Bar und warf einen Blick auf die Straße. Velda Hantz und ihre Schwester Inez thronten auf dem Bürgersteig vor ihrem Wohnhaus in ihren Gartenstühlen und beobachteten das Leben und Treiben. Beide waren in den Siebzigern und so etwas wie eine feste Institution. Sie grüßten jeden Vorbeikommenden mit Namen und verteilten lautstark freundliche Ratschläge oder mütterlichen Tadel, je nachdem, was die Situation verlangte. In ihren Lieblingsfarben Quietschrosa und Giftgrün waren die beiden unmöglich zu übersehen.
Veldas an den Spitzen rosa getöntes Haar war wie gewöhnlich zu einer kunstvollen Windstoßfrisur arrangiert, während Inez’ üppige violette Mähne hoch aufgetürmt war. Beide trugen die neuesten Laufschuhe, die sie unaufhörlich hin und her bewegten, während sie in ihren Sesseln saßen. Destiny fand die Schwestern ungewöhnlich liebenswert. Mehr als einmal hatte sie sich den beiden gezeigt, und immer riefen sie ihr eine freundliche Begrüßung zu oder winkten sie auf ein Schwätzchen zu sich.
Mit hochgezogenen Knien, das Kinn auf eine Hand gestützt, beobachtete Destiny die beiden Frauen, ohne sich des Lächelns auf ihrem Gesicht bewusst zu sein. Während ihrer unablässigen Jagd auf die Untoten war sie oft von einer Stadt zur nächsten und von einem Land ins andere gezogen, immer eine Nasenlänge vor Nicolae, der ihr hartnäckig folgte. Sie wusste, wie sein Verstand arbeitete. Er hatte ihr Zugang zu seinen Kämpfen, seinen Strategien, sogar zu seinen Denkvorgängen gewählt. Sie hatte sein Wissen förmlich aufgesaugt, weil sie wusste, dass ihr Leben davon abhing und auch das Leben anderer davon abhängen würde. Das hatte ihr ermöglicht, ihren Vorsprung vor ihm zu halten. Bis sie eines Tages gehört hatte, wie MaryAnn Delaney mit einer jungen Frau sprach, deren Leben ein einziger Trümmerhaufen war. Die weiche, klare Stimme und die Dinge, die MaryAnn gesagt hatte, hatten Destiny in Seattle festgehalten. In diesen Straßen. Irgendwann hatte sie insgeheim begonnen, sich für die Menschen in diesem Viertel verantwortlich zu fühlen.
Destiny seufzte und setzte sich langsam auf. Sie hatte sich bewusst dafür entschieden, nicht mehr weiterzuziehen, diese Stadt zu ihrer Heimat zu machen und ihre Bewohner unter ihre Fittiche zu nehmen. Es gab ihr den Anschein von Normalität, die sie so dringend brauchte, einen Grund, ihr Leben weiterzuführen, obwohl sie wusste, wie schlecht sie war.
Nicht schlecht, sondern karpatianisch. Du trägst das unreine Blut des Vampirs in dir, aber du bist kein Vampir. Das habe ich dir oft genug erklärt. Nicolaes leise Stimme klang sehr geduldig. Was macht dir Sorgen?
Destiny seufzte leise und blies eine Haarsträhne weg, die ihr ins Gesicht fiel. Hast du nichts Besseres zu tun, als mich zu belästigen? Sind alle Männer so nervig wie du?
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Sie konnte spüren, wie sehr er sich bemühte, nicht in Gelächter auszubrechen. Niemand sprach so mit ihm wie sie, und er war darüber ebenso schockiert wie amüsiert. Ihr gab es das Gefühl, ihm noch näherzustehen. Mit ihm verbunden zu sein.
Meine Güte. Du wirst mir noch mehr Arger machen, als ich je für möglich gehalten hätte.
Du hast ja keinen blassen Schimmer! Sie empfand eine gewisse Genugtuung darüber, dass sie das letzte Wort behielt, indem sie schnell antwortete und sofort die Verbindung zwischen ihnen abbrach. Diese kurze Kommunikation hatte ihr den Mut gegeben, den sie für ihr Vorhaben benötigte. Sie raffte sich auf, ihren sicheren Platz auf dem Dach zu verlassen.
Die Klänge von Musik und das Stimmengewirr von Menschen, die sich miteinander unterhielten, schienen von den Wänden der Bar »Tavem« zu hallen. Destiny stand draußen vor dem Eingang, wie schon so oft. Ihre kleinen Zähne nagten nervös an ihrer Unterlippe. Sie war noch nie hineingegangen, sondern hatte stattdessen auf dem Dach gekauert und all den Gesprächen gelauscht. Sie empfand es immer als tröstlich, als gehörte sie tatsächlich hierher.
Heute Abend war MaryAnn in der Bar, davon war Destiny überzeugt. Und MaryAnn würde Fragen haben. Sehr viele Fragen. Destiny würde die Erinnerungen der Frau löschen müssen, etwas, das sie nur sehr ungern tat. Sie mochte MaryAnn und respektierte sie, und die Vorstellung, ihr Gedächtnis zu manipulieren, bedrückte Destiny. Sie war dieser Sache seit zwei Tagen ausgewichen und stattdessen in der Erde geblieben, um ihre Wunden heilen zu lassen und sich vor dem Krieger zu verstecken, der sie jagte, und um ihre dunkle Seele vor MaryAnn zu verstecken. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als sich ihr zu stellen.
Die Tür zur Bar schwang auf, und zwei Männer kamen heraus. Lachend und redend gingen sie an ihr vorbei, ohne sie zu sehen. Destiny erkannte sie. Tim Salvadore und Martin Wright. Leise murmelte sie ihre Namen, als wollte sie die beiden begrüßen. Sie lebten in einer kleinen Wohnung über dem Lebensmittelgeschäft an der Ecke. Aus beruflichen Gründen versuchten sie zu verheimlichen, dass sie ein Paar waren, aber jeder in dem Viertel wusste, dass sie mehr als Mitbewohner waren. Niemand kümmerte sich darum; die meisten mochten die zwei Männer. Aus Respekt vor den beiden und aus Höflichkeit machte niemand Bemerkungen über die Art ihrer Beziehung.
Destiny biss sich noch fester auf die Unterlippe, als sie den zwei Männern nachschaute. Es machte ihr Freude, ein wenig an ihrem Leben teilzuhaben. Die beiden waren nette, ganz normale Leute, die einander aufrichtig zugetan schienen. Wie Velda und Inez waren auch sie ein wichtiger Bestandteil der kleinen Gemeinde, über die Destiny wachte. Ihr Blick folgte den beiden Männern, bis sie um die Ecke bogen und aus ihrem Blickfeld verschwanden. Dann wandte sie sich mit gerunzelter Stirn wieder zur »Tavern« um.
Sie musste dort hinein und mit MaryAnn sprechen. Sie war überzeugt, dass sich nach dieser Unterhaltung Abscheu und Furcht in MaryAnns sanften braunen Augen zeigen würden. Mitgefühl und Freundschaft würden von dem Wissen verdrängt werden, was Destiny war. Natürlich würde sie dieses Wissen aus MaryAnns Gedächtnis löschen können, falls die Freundin nicht in der Lage war, sie so zu akzeptieren, wie sie war, aber es würde immer etwas zwischen ihnen stehen. Nichts würde jemals wieder so wie vorher sein. Destiny würde nie mehr so tun können, als wären sie Freundinnen, und MaryAnns Freundschaft bedeutete ihr viel. Sie wünschte sich Mary Anns Akzeptanz, aber wie sollte irgendjemand sie akzeptieren, wenn sie es selbst nicht konnte?
Einen Moment lang stand sie mit hängenden Schultern, das Herz schwer vor Kummer, vor dem Lokal. Sofort spürte sie ihn. Nicolae. Angezogen von ihrem Kummer, rührte er sanft an ihr Bewusstsein. Es überraschte sie, wie leicht und selbstverständlich die Verbindung zustande kam, und seine liebevolle Fürsorge wärmte ihr das Herz. Aber dass sie so abhängig von seiner Nähe war, machte ihr Angst. Energisch verschloss sie ihr Inneres vor ihm. Sie konnte nicht das Risiko eingehen, dass er von MaryAnn erfuhr. Das wäre das sichere Todesurteil für die Frau. Er würde nicht dulden, dass ein Mensch, der über die Existenz von Vampiren Bescheid wusste, länger am Leben blieb. Destiny hob das Kinn, straffte die Schultern und stieß entschlossen die Tür auf.
Sofort schlugen ihr Lärm und Gerüche entgegen und betäubten sie nahezu, bis es ihr gelang, sich geistig gegen diesen Ansturm von Sinneseindrücken abzuschirmen. Nichts allerdings konnte verhindern, dass sich ihr Magen vor Nervosität schmerzhaft zusammenzog. Ihr Blick fand wie von selbst zu MaryAnn.
Sie saß auf einem Barhocker, den Rücken halb zur Tür gewandt. Sie lachte über etwas, was die Frau neben ihr zu ihr sagte. Destiny kannte MaryAnn gut genug, um die Gezwungenheit aus ihrem Lachen herauszuhören. Destiny schaute weder die Frau an, die mit MaryAnn sprach, noch versuchte sie, andere Leute in der Bar zu identifizieren. Sie richtete ihre ganze Konzentration auf MaryAnn und zwang sie aufzublicken, während sie sich innerlich gegen das Entsetzen wappnete, das sie bald in den Tiefen dieser weichen braunen Augen sehen würde.
MaryAnn wandte langsam den Kopf, bis ihr Blick auf Destiny fiel. Ihr Gesicht erhellte sich sofort, und der sorgenvolle Ausdruck in ihren dunklen Augen verschwand. Sie sprang vom Hocker, obwohl ihre Gesprächspartnerin noch redete, und lief zu ihrer Freundin. Die Zeit schien für Destiny stillzustehen, als sie wie eine kleine Rakete quer durch den Raum schoss.
»Sie sind am Leben! Gott sei Dank! Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Ich hatte keine Ahnung, wen ich eventuell verständigen könnte. Ich habe in allen Krankenhäusern nachgefragt, sogar im Leichenschauhaus.« MaryAnn schien beide Arme um Destiny werfen zu wollen, riss sich aber zusammen, als ihr auffiel, wie verunsichert die junge Frau wirkte.
Destiny stand einfach da und starrte sie an. In ihrem Kopf herrschte völlige Leere; ihre sorgfältig formulierte Entschuldigung war wie weggewischt. Sie räusperte sich ein paarmal.
»Kommen Sie, verziehen wir uns ein bisschen aus dem Gedränge«, schlug MaryAnn vor und zog Destiny ein paar Schritte aus der Menge heraus.
»Sie haben nicht einen Funken Selbsterhaltungstrieb«, stellte Destiny fest. »Warum versuchen Sie nie, auch nur ein bisschen auf sich aufzupassen?«
»Ich weiß nicht. Alles, was ich an diesem Abend vor der Kirche hören konnte, war der Klang seiner Stimme. Sie war so melodisch ... fast schon hypnotisierend. Ich konnte ihn erst deutlich sehen, als Sie mich ansprachen. Dann klang er auf einmal furchtbar, und er sah aus ...« Sie brach ab und suchte nach dem richtigen Wort. »Wie ein Monster. Seine Zähne waren so spitz und so scharf, und seine Fingernägel hätten aus einem Horrorfilm sein können. Aber zuerst sah er gut aus. Ich wäre zu ihm gegangen, wenn Sie mich nicht in die Kirche gestoßen hätten. Danke, Destiny.«
Destiny sah die andere benommen an. »Ich spreche nicht von ihm. Bei ihm hätten Sie sowieso keine Chance gehabt. Er war ein Vampir. Vampire sind nicht leicht zu besiegen, und Sie verfügen weder über das Wissen noch über die Fähigkeiten, so etwas auch nur zu versuchen. Ich rede von mir. Sie freuen sich, mich zu sehen ...«
»Natürlich freue ich mich!«, unterbrach MaryAnn sie. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, Destiny. Ich habe jeden Tag nach Ihnen gesucht, an allen Orten, wo Sie sein könnten, konnte Sie aber nirgendwo finden. Jagen Sie mir bloß nie wieder so einen Schrecken ein! Sie hätten zu mir nach Hause kommen sollen. Haben Sie denn gar nicht daran gedacht, wie viel Angst ich haben würde?«
»Ja, ich habe gedacht, Sie fürchteten, ich könnte Sie töten, indem ich Ihnen Ihr Blut bis zum letzten Tropfen aussauge«, erwiderte Destiny. Sie konnte dieses Gespräch kaum noch ertragen. MaryAnn sagte die Wahrheit; Destiny spürte die Angst, die sie ausgestanden hatte. Es ergab keinen Sinn, und MaryAnns Mangel an Furcht und vor allem an Vorsicht machte sie zornig.
»Das ist doch albern. Ich habe gesehen, dass Sie verwundet waren. Ich wollte mich um Sie kümmern.«
Destiny betrachtete ihre Hände. »Wie können Sie so etwas sagen? Sie müssen doch wissen, was ich bin.«
»Was glauben Sie denn, das Sie sind?«, fragte MaryAnn leise. Ihre Stimme war so freundlich wie immer. Es gab kein Anzeichen von Verachtung oder Spott, nur MaryAnns ruhige Akzeptanz der Dinge. Bedingungslose Akzeptanz.
»Sie haben mich gesehen. Und Sie haben ihn gesehen, den Vampir. Sie müssen wissen, dass ich eine von denen bin.« Destiny konnte die andere nicht anschauen. Sie würde es nicht ertragen, den Abscheu in diesen warmen braunen Augen zu sehen. »Es tut mir leid. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass unser beider Leben miteinander in Berührung kommen. Sie werden sich später nicht mehr erinnern, aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich Ihnen nie ein Leid zufügen werde.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, und wieder schnürte sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Dann spürte sie MaryAnns Berührung, ganz leicht. Sie legte ihre Finger auf Destinys Unterarm. »Warum glauben Sie, dass Sie ein Vampir sind?«
Destiny versteifte sich, als wäre sie geschlagen worden. »Ein Vampir hat mein Blut genommen. Er hat mich gezwungen, sein Blut zu trinken. Ich glaube, das ist die allgemein gängige Methode, einen Menschen zum Vampir zu machen.«
MaryAnn nickte. »Soweit ich es aus Filmen kenne, schon. Haben Sie Ihre Information auch von dort? Aus Filmen?«
»Sie müssen mir nicht glauben.« Destiny zog ihren Arm zurück. Sie konnte Herzen schlagen hören. Sie konnte das Rauschen von Blut in Adern hören. Das Wispern vertraulicher Gespräche. »Ich bin nicht verrückt.« Destiny sagte es entschieden, mehr zu sich selbst als zu MaryAnn.
»Das weiß ich. Ich konnte die Kirche nicht verlassen, obwohl ich wusste, dass Sie in Gefahr sind, und ich nach draußen wollte, um Ihnen zu helfen. Ich saß bis zum nächsten Morgen da, obwohl ich um die Kraft betete, hinausgehen zu können. Aber ich konnte es nicht. Ich habe ihn gesehen, Destiny. Ich habe ihn gesehen und alles gehört, was er gesagt hat.« MaryAnn schauderte leicht. »Er wollte, dass Sie mich aus der Kirche holen.«
Destiny nickte. »Ja, um Ihr Blut zu trinken.« Sie sagte es unumwunden, denn sie wollte dieses Gespräch einfach nur zu Ende bringen. Sie hatte vergessen, wie sehr seelische Qualen wehtun konnten. Körperliche Schmerzen waren ihr lieber.
»Kommen wir doch noch mal darauf zurück, warum Sie glauben, ein Vampir zu sein. Wie kommen Sie auf diese Idee, Destiny? Weil dieser Irre, dieser Vampir, Blut mit Ihnen getauscht hat?«, fragte MaryAnn. »Ich kann nur von dem ausgehen, was ich in Büchern gelesen oder in Filmen gesehen habe. Ich weiß kaum etwas über Vampire und hätte mir nie träumen lassen, dass es wirklich welche gibt - bis ich diesen schrecklichen Mann sah. Jetzt bin ich für alle Möglichkeiten offen, aber ich kann trotzdem nicht glauben, dass Sie einer sind. Knoblauch zum Beispiel...«
Destiny erschauerte. »Ich rühre das Zeug nicht an. Ich weiß nicht, was es bei mir anrichten würde, doch ich habe Angst, es auszuprobieren.« Sie fuhr sich mit einer unsicheren Hand durchs Haar. »Ich habe seit Jahren nicht mehr in den Spiegel geschaut. Ich glaube nicht, dass ich ein Spiegelbild habe, aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Ich würde so gern in die Kirche hineingehen, aber ich traue mich nicht.«
»Liebes ...« Mary Ami packte sie fest an den Schultern und drehte sie um. »Ihr Spiegelbild ist in dem Spiegel da drüben genauso klar und deutlich zu sehen wie meines. Und zufällig stehen Sie direkt unter einem Strang Knoblauch. Es ist Ihnen nicht einmal aufgefallen.«
Destinys strahlender Blick fand sich selbst in dem breiten Spiegel hinter der Bar. Sie sah blass aus, unruhig und verängstigt. Gehörte dieses Gesicht wirklich ihr? Als sie sich zum letzten Mal gesehen hatte, war sie acht Jahre alt gewesen. Wie lange lag das zurück? Sie wusste es nicht. Sie erkannte die Frau nicht, die sie aus dem Spiegel anstarrte. Über der Theke, wo auf Tafeln diverse Snacks angeschrieben waren, hingen einige Lebensmittel, unter anderem auch etliche Netze mit Knoblauchknollen.
Destiny, die befürchtete, ihr Spiegelbild könnte verschwinden, wenn sie den Blick abwandte, beobachtete sich selbst dabei, wie sie den Kopf schüttelte. »Ich habe schon sehr lange in keinen Spiegel mehr geschaut. Ich hatte Angst vor dem, was ich sehen könnte - oder was ich nicht sehen könnte.«
»Liebes«, fuhr MaryAnn freundlich fort, »als Sie mich in die Kirche geschubst haben, sind Sie mit hineingegangen. Ich wollte immer noch zu diesem Mann. Ich hatte keine Kontrolle über mich, bis Sie mit mir sprachen.«
Einen Moment lang, während beide Frauen diese Information verarbeiteten, herrschte Schweigen. »Ich war in der Kirche ?«
»Und dann hatten Sie die Kontrolle über mich«, fuhr MaryAnn nachdenklich fort. »Destiny, was Sie auch sein mögen, Sie sind nicht schlecht. Sie haben mit diesem Monster nicht das Geringste gemeinsam.« Ein Schauer überlief sie, als sie an die spitzen, scharfen Reißzähne dachte, die mit Blut befleckt gewesen waren. Sie schaute sich im Lokal um, entdeckte einen kleinen freien Tisch in der Ecke und lotste Destiny dorthin. Allmählich begriff sie, warum die junge Frau so verstört blickte. Wie lange lebte Destiny schon mit dem Wissen, dass derartige Monster existierten?
»Setzen Sie sich, Destiny.« MaryAnn schlug bewusst einen autoritären Ton an. Destiny war so blass und sah so mitgenommen aus, als könnte sie jeden Moment umkippen. Als Destiny sich hinsetzte, nahm MaryAnn ihr gegenüber Platz. »Hat dieser Mann wirklich Ihr Blut getrunken und Sie gezwungen, seines zu trinken?« Es schien eine lächerliche Frage zu sein, ein Dialog aus einem Horrorfilm, aber MaryAnn hatte dieses Geschöpf bei der Kirche gesehen und gewusst, dass es böse und kein menschliches Wesen war. Sie hatte miterlebt, wie unvorstellbar schnell Destiny sich bewegen konnte, als sie ihn angegriffen hatte.
»Nicht er.« Destiny sprach so leise, dass MaryAnn Mühe hatte, sie zu verstehen. Sie schien sehr weit weg zu sein. »Es war ein anderer. Vor langer Zeit. Er ...« Destiny brach ab und legte eine Hand schützend an ihre Kehle, als wollte sie eine klaffende Wunde verbergen. Einen Moment lang sah sie so verletzlich aus, so jung und zart, dass MaryAnn sich zwingen musste, ruhig zu bleiben. »Ich mag nicht daran denken. Ich habe Angst, daran zu denken.«
»Was, glauben Sie, würde passieren, wenn Sie es täten, Destiny?« Ihre Stimme war neutral. »Schlimme Dinge zu verdrängen führt nur dazu, dass sie zum Vorschein kommen, wenn man es am wenigsten erwartet.«
»Manchmal ist es die einzige Möglichkeit, um zu überleben. Wem soll ich es erzählen? Der Polizei? Man würde mich ins Irrenhaus sperren.« Sie hob ihren Blick zu MaryAnn. »Was glauben Sie, wie ich jetzt lebe? Sie haben mich gefragt, ob ich nicht auf eine Tasse Tee zu Ihnen kommen mag. Für Sie ist das nichts Besonderes. Ich werde nie mehr Tee trinken. Nie wieder.« Sie presste ihre Fingerspitzen an die Schläfen. »Meine Mutter trank Tee. Daran erinnere ich mich jetzt. Ich hatte es vergessen. Jeden Morgen goss sie Tee in einer kleinen Kanne auf und stülpte einen Teewärmer darüber, während sie ihn ziehen ließ. Meinen bereitete sie immer mit Milch zu, mit mehr Milch als Tee, um genau zu sein, doch ich fühlte mich sehr erwachsen und meiner Mutter ganz nahe, wenn wir ihn gemeinsam tranken.« Sie schloss die Augen und wünschte sich, sie könnte diese Erinnerung für alle Zeiten im Gedächtnis bewahren: das Gesicht ihrer Mutter, ihr Duft und ihr Lächeln, wenn sie Destiny die Teetasse reichte.
Sie sah über den Tisch zu MaryAnn. »Danke. Ich habe seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Die letzten Erinnerungen, die ich an meine Familie hatte, waren ... schlimm. Beängstigend. Ich habe mich gezwungen, alles zu vergessen, um auch das zu vergessen. Meine Mutter war so eine schöne Frau.«
MaryAnn lächelte. »Ich bin sicher, Sie sind ihr sehr ähnlich.
Was für eine wunderbare Erinnerung. Haben Sie Geschwister?«
Destiny schüttelte den Kopf. »Ich war ein Einzelkind.«
»Andere Angehörige?«
Sie hätte verneinen sollen, aber sie musste sofort an Nicolae denken, an seine Stimme, seine Nähe. Destiny empfand all das sehr intensiv. Was war er für sie ? Ihr Todfeind. Nein, das nicht. Destiny fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, erschüttert über die Tiefe ihrer Bindung zu ihm.
MaryAnn, die auf eine Antwort wartete, schien mit dem Schweigen kein Problem zu haben. Destinys ganzes Leben war Schweigen. Sie hatte seit Jahren mit niemandem mehr gesprochen. Nur mit Nicolae.
»Woher wissen Sie, ob Sie jemandem trauen können?«, fragte Destiny leise. »Woher wissen Sie, dass man Sie nicht verraten wird?«
»Ich denke, manchmal sagt es uns unser Instinkt«, antwortete MaryAnn vorsichtig, »obwohl es immer möglich ist, einen Fehler zu machen. Normalerweise behält man sich sein Urteil vor, bis man jemanden besser kennenlernt und weiß, wie er wirklich ist.«
»Versuchen Sie gerade, mich näher kennenzulernen?« Destiny streckte ihr Kinn vor.
»Sie?«, gab MaryAnn freundlich zurück. »Sie wollen etwas von mir, das ich Ihnen nicht geben kann. Sie wollen, dass ich Sie verdamme. Sie haben mir mindestens zweimal das Leben gerettet. Ich mag Sie als Mensch. Ich weiß, dass Sie verstört sind, aber das macht Sie nicht zu dem Monster, das ich Ihrer Meinung nach in Ihnen sehen sollte.«
Destiny hörte das Anschwellen der Gespräche im Lokal, das Plärren der Musik. Gelächter wurde an einem Tisch in der Nähe laut. Sie wies mit der Hand auf den Raum. »Das alles hier ist nicht real. Sie glauben, dass Sie in der Realität leben, doch das ist nicht real.«
»Natürlich ist es das. Es ist genauso real, wie Ihr Leben es gewesen ist, nur völlig anders. Sie können nicht zurück, ich kann nicht zurück, aber wir können weitermachen.«
»Das stimmt nicht«, entgegnete Destiny leise und heftete ihre ausdrucksvollen Augen auf MaryAnn. »Es stimmt nicht, dass Sie nicht zurückkönnen.«
MaryAnn wirkte zum ersten Mal verunsichert. Nachdenklich strich sie mit den Fingerspitzen über die Tischplatte, während sie ihre Gedanken sammelte und sorgfältig abwog, was sie sagen sollte. Sie überlegte gründlich, bevor sie sprach. »Ich nehme an, das heißt, dass Sie irgendetwas mit meinem Bewusstsein anstellen können, um meine Wahrnehmung der Realität zu verändern.«
Destiny, die hören konnte, wie Mary Amis Herz plötzlich schneller schlug, nickte langsam. »Ich kann Ihnen jede Erinnerung an mich nehmen. An alles, was Sie über Vampire erfahren haben. Sie werden sich an nichts erinnern und keine Albträume haben. Sie werden nicht in Gefahr sein.«
»Das können Sie?«
Destiny lächelte plötzlich, aber in den Tiefen ihrer Augen war keine Heiterkeit zu sehen. »Sie wären schockiert zu erfahren, was ich noch alles kann. Ja, das kann ich ohne Weiteres. Ich bin eine von ihnen, MaryAnn, und mittlerweile komme ich irgendwie damit zurecht.«
MaryAnn schüttelte den Kopf. »Sie sind etwas ganz anderes, Destiny. Ich weiß nicht, was, doch Sie sind kein bisschen wie das Wesen, das es auf mein Blut abgesehen hatte.«
Destiny lehnte sich über den Tisch. »Was glauben Sie, wovon ich existiere?« Sie beugte sich noch weiter vor und legte beide Hände flach auf die Tischplatte. Ihre Stimme war eine leise Warnung. »Ich kann Ihr Herz schlagen hören. Ich höre das Blut in Ihren Adern fließen.« Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre kleinen, ebenmäßigen Zähne. »Ich muss gewaltsam verhindern, dass meine Eckzähne länger werden. Ich habe seit einer ganzen Weile nichts mehr zu mir genommen. Ich denke jeden wachen Moment nur daran, wie hungrig ich bin. Der Hunger kriecht durch meinen Körper wie eine Sucht, von der ich mich nicht befreien kann. Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie ich. Übersehen Sie nicht, dass etwas Schönes und Verlockendes das Gefährlichste sein kann, was Ihnen je begegnet ist.«
MaryAnns Stirn glättete sich. Sie rückte näher an Destiny heran. »Das funktioniert nicht, wissen Sie. Ich weiß, was Sie Vorhaben. Natürlich ist die Vorstellung; dass es Vampire gibt, erschreckend für mich. Ich hatte keine Ahnung, dass so etwas außerhalb von Büchern und Filmen existiert, aber ich hatte zwei Tage, um über dieses Wesen nachzudenken. Es fühlte sich böse an. Ich habe keine Angst vor Ihnen, doch Sie versuchen bewusst, mich zu ängstigen. Sie wollen mich von sich stoßen. In irgendeiner Weise bin ich eine Bedrohung für Sie, stimmt’s? Warum haben Sie solche Angst vor mir?«
Destiny zuckte zurück, als hätte MaryAnn ihr eine Ohrfeige gegeben. Sie zwang Luft in ihre Lunge, zwang das Rauschen in ihrem Kopf, einem Anschein von Stille zu weichen. »Ich bekomme hier drinnen keine Luft. Wie können Sie an einem Ort wie diesem atmen? Ich muss hier raus.«
»Bitte nicht, Destiny. Ich will nicht, dass Sie meine Erinnerungen löschen, und ich will nicht, dass Sie mich wegstoßen. Ich möchte einfach Ihre Freundin sein. Ist das wirklich so schlimm? Haben Sie so viele Freunde, dass Sie keine mehr brauchen können?«
»Ich bekomme keine Luft«, wiederholte Destiny.
Wie unwohl sie sich fühlte, zeigte sich daran, dass ihr nicht auffiel, wie sich jemand ihrem Tisch näherte. Er bewegte sich lautlos wie ein Raubtier auf der Jagd und war bei ihnen, bevor sie eine Chance hatte, ihn zu wittern. Nicolae legte seine Hand auf ihre Schulter und schlang seine Finger fast besitzergreifend um ihren Nacken. Doch, du bekommst Luft, mein Kleines. Ich bin hier; du brauchst nur einzuatmen. Falls es nicht geht, werde ich für uns beide atmen. Ich werde deine Luft sein. Die Worte glitten wie ein Raunen durch ihr Bewusstsein, leise und sinnlich, und nahmen ihr die Fälligkeit zu sprechen.
Nicolae sah von Destiny zu der Frau, die ihr gegenübersaß. Seine Augen waren kalt und ausdruckslos, als sie auf MaryAnn ruhten. »Was haben Sie mit ihr gemacht? Ich warne Sie. Sie steht unter meinem Schutz, und wenn Sie ihr irgendetwas angetan haben, werden Sie sich dafür verantworten müssen.«