Kapitel 9
Nicolae konnte die Frau mit dem violetten Haar, die ihm lebhaft zuwinkte, unmöglich ignorieren, so gern er es auch getan hätte. Sie ruderte mit den Armen und hüpfte auf dem Bürgersteig auf und ab, während die kleine Dame mit dem rosa Haar neben ihr ihm eine Begrüßung zurief. Er war in das Wohnviertel zurückgekehrt, in die Nähe der Bar, um Ausschau nach MaryAnn zu halten. Die Beraterin für misshandelte Frauen bedeutete Destiny sehr viel. Da MaryAnn noch dazu über übersinnliche Fähigkeiten verfügte, wollte er sie unbedingt näher kennenlernen.
Destiny mochte sich körperlich von ihm entfernt haben, aber er konnte sie wie einen stillen Schatten in seinem Inneren spüren, ihre Sorgen teilen, über die verwirrenden Probleme »ihrer« Menschen reden und mit ihr lachen. Sie zeigte sich völlig ungerührt von seinem Missgeschick, als er ihr bewusst das etwas alberne Bild von zwei älteren Damen in grellen Neonfarben schickte, die auf dem Bürgersteig herumhüpften und dazu laut johlten und wild gestikulierten.
Ihr Verhalten lenkte unerwünschte Aufmerksamkeit auf ihn, etwas, das jeder Karpatianer tunlichst vermied. Resigniert kehrte er um und schlenderte die Straße hinunter zu den beiden Frauen, die offensichtlich etwas von ihm wollten. Wie aus weiter Ferne hörte er Destinys gedämpftes Lachen, und ihm wurde warm ums Herz. Sie würden einander immer nahe sein.
Manchmal ist es günstiger, unsichtbar zu sein. Du hättest mich warnen können, beschwerte er sich.
Ich glaube, eine kräftige Dosis Velda und Inez ist genau das, was du brauchst.
Er gab ein übertriebenes Stöhnen von sich, nur um Destinys Lachen noch einmal zu hören. Nach all den Jahren, die sie unerträgliche Schmerzen gelitten hatte, war es wie ein Wunder, die Freude in ihrer Stimme zu hören und die Unbeschwertheit in ihrem Herzen zu spüren. Allmählich kam sie mit dem, was aus ihr geworden war, zurecht und akzeptierte die Tatsache, dass sie nicht unbedingt das abgrundtief schlechte Wesen war, für das sie sich hielt.
Mir ist nicht ganz klar, was ich angestellt habe, um so eine Strafe zu verdienen. Nicolae schenkte den beiden Frauen sein charmantestes Lächeln und nannte seinen Namen. Dann beugte er sich tief über Veldas Hand und streifte mit den Lippen kurz Inez’ Fingerknöchel, eine Geste der Höflichkeit, die stark an die Alte Welt erinnerte. Beide Frauen klapperten mit den Lidern und kicherten wie Schulmädchen. »Was kann ich für Sie tun ?«
Hör auf mit dieser Stimme zu sprechen! Willst du, dass sie einen Herzanfall bekommen? Jetzt lachte Destiny laut heraus. Sie klang so unbeschwert, dass ihn erneut ein Gefühl von Wärme erfüllte.
Die beiden Frauen stellten sich vor und klopften einladend auf den Sessel, der zwischen ihnen bereitstand, während sie sich ausgiebig über seinen Namen, seinen fremdartigen Akzent und seine wundervollen Manieren ausließen.
»Was führt Sie in unsere Gegend, Nicolae?«, erkundigte sich Velda interessiert.
»Wir haben Sie mit unserer lieben MaryAnn gesehen«, fügte Inez hinzu.
»Ich bin in einer Angelegenheit des Herzens hier«, verkündete er und freute sich insgeheim diebisch darüber, Destiny an dem Gespräch teilhaben zu lassen. »Es geht um die schöne Frau, mit der Sie sich neulich Abend unterhalten haben. Destiny. Ich tue mein Möglichstes, damit sie meine Frau wird, aber sie versucht, sich meinem Charme zu entziehen. Ich darf wohl nicht hoffen, dass eine von Ihnen mir raten könnte, wie ich meiner Werbung Nachdruck verleihen kann?«, fügte er erwartungsvoll hinzu.
Die Frauen gaben gurrende Laute von sich; Destiny fauchte erbost. Nicolae lehnte sich zurück und genoss es. Destiny auf den Arm zu nehmen, war nicht leicht, und er war entschlossen, die Gelegenheit so gut wie möglich zu nutzen. Kümmere du dich um deine Angelegenheiten, meine Kleine, und überlass das hier mir. Ich glaube, diese Frauen könnten unschätzbare Einblicke in die weibliche Psyche haben.
»Nein, wie romantisch!«, platzte Inez heraus und verschränkte beide Hände ineinander. »Findest du nicht, Schwester? Romantik ist aus der heutigen Gesellschaft so gut wie verschwunden. Aber Romantik ist genau das, was Sie brauchen, um ihr den Hof zu machen.«
Velda schnalzte mit der Zunge und schüttelte missbilligend den Kopf. »Heutzutage muss man praktisch denken.« Sie beugte sich dicht zu Nicolae und fixierte ihn mit einem scharfen Blick. »Gutes Aussehen und feine' Manieren allein sind nicht genug, junger Mann; Sie brauchen etwas Handfestes. Was für einen Job haben Sie?«
Destinys Lachen erhitzte Nicolaes Blut und raubte ihm den Atem. Es war nicht nur melodisch, sondern enthielt auch eine latente Sinnlichkeit, ein unterschwelliges Versprechen auf heiße Nächte.
He! Du hast eine lebhafte Fantasie! Bleib bei der Sache, Nicolae. Erzähl ihnen, dass du Vampire jagst. Mal sehen, ob sie dich dann für eine gute Partie halten.
Nicolae lächelte so selbstgefällig und überlegen, dass es Destiny auf die Palme brachte. »Mein Gebiet ist ein spezieller Zweig der Verbrechensbekämpfung, aber ich besitze eigenes Vermögen. Destiny würde es also nie an etwas fehlen.« Er strich sich mit seinen langen Fingern über sein Kinn und lenkte die Aufmerksamkeit auf die einzigartig männliche Schönheit seines Gesichts. »Ich habe auf der ganzen Welt nach ihr gesucht. Ich weiß, dass wir füreinander bestimmt sind.«
Die beiden Schwestern wechselten einen langen Blick. Seine Antwort schien ganz nach ihrem Geschmack zu sein. Es war Velda, die wieder das Wort ergriff, während Inez verklärt etwas über die wahre Liebe murmelte, die immer einen Weg finden würde. »Und warum bockt das Mädel? Sie sind sehr attraktiv.«
»Du meine Güte, ja«, pflichtete Inez ihr bei, was ihr einen tadelnden Blick ihrer Schwester eintrug. »Naja, stimmt doch«, verteidigte sie sich beleidigt. Sie tätschelte Nicolaes Oberschenkel. »Sie, mein Lieber, sind genau der Typ Mann, der mir gefallen hätte, als ich noch jung und schön war.« Sie neigte sich vor. »Ich war ein wildes Ding, wissen Sie«, wisperte sie ihm vertraulich zu.
Er entfernte ihre Hand von seinem Bein, indem er sie einfach an seine Lippen zog. »Danke, Inez. Von einer Frau wie Ihnen ist das ein großes Kompliment. Ich wäre Ihnen für Tipps bezüglich meiner widerspenstigen Braut wirklich dankbar.«
O Mann, was du für einen Mist zusammenredest! Du solltest dich schämen, Nicolae.
Wieder dieses Lachen, das ihn freudig erregte, und zwar so sehr, dass er befürchtete, Inez könnte versehentlich einen Körperteil von ihm streifen, der nicht unbedingt gesellschaftsfähig war. Vorsichtshalber verlagerte er seine Position ein wenig. Destinys fröhliches Lachen war ein äußerst wirkungsvolles Aphrodisiakum.
»Blumen«, verkündete Velda energisch. »Sie müssen herausfinden, welches ihre Lieblingsblumen sind, und ihr so viele wie möglich davon schenken.«
»Und Schokolade. Keine Frau kann einem Mann widerstehen, der ihr Schokolade mitbringt«, warf Inez ein. »Und man kann so viel mit Schokolade machen, wenn sie warm ist und schmilzt...«
»Achten Sie lieber gar nicht auf meine Schwester«, empfahl Velda. »Aber es ist wichtig, dass Sie so um Destiny werben, wie es sich gehört, und ihr zeigen, dass Sie durchwegs ehrliche Absichten haben. Reißen Sie sie mit! Gehen Sie mit ihr tanzen! Es geht nichts über einen Mann, der eine Frau in den Armen hält und mit ihr tanzt.« Sie zog eine Augenbraue hoch und spießte ihn mit ihrem stählernen Blick auf wie ein Insekt. »Sie wissen doch, wie man tanzt? Nicht dieses alberne Gehopse, das ihr jungen Leute heutzutage veranstaltet, sondern so wie ein richtiger Mann. Nichts ist so sexy wie ein guter Walzer oder ein Tango.«
»Tanzen war Bestandteil meiner Erziehung«, versicherte Nicolae ihr. »Sie haben mir fantastische Anregungen gegeben. Ich werde sie präzise befolgen.«
»Und unverzüglich Bericht erstatten«, ermahnte Inez ihn. »Stimmt doch, Schwester? Wir müssen unbedingt wissen, wie es weitergeht.«
»Unbedingt«, bekräftigte Velda. »Oh, schaut mal, da ist ja Martin! Er sieht in letzter Zeit so niedergeschlagen aus, gar nicht wie sonst. Der Ärmste arbeitet wohl zu viel.« Sie stand auf und winkte so stürmisch, dass Nicolae befürchtete, sie würde vornüberfallen. »Martin! Martin! Sei ein guter Junge, und komm ein bisschen zu uns!«
»Es liegt an dem Projekt, mit dem er sich beschäftigt. Er und Tim arbeiten Tag und Nacht daran, obwohl sie beide berufstätig sind«, sagte Inez. »Diese Jungs arbeiten einfach zu viel.«
Nicolae beobachtete, wie der Mann näher kam, wobei ihm die blasse Haut und die dunklen Ringe unter seinen Augen auffielen. Das war also der Mann, der Vater Mulligan brutal zusammengeschlagen hatte. Als Nicolae Martins Gedächtnis überprüfte, konnte er keine Erinnerungen an den Überfall entdecken. Martin wusste nur noch, dass er mit der Armenkasse aus der Kirche auf seinem Bett gesessen hatte und sie immer wieder völlig ratlos hin und her gedreht hatte. Nicolae fand keine Bösartigkeit in dem jungen Mann, nur tiefen Kummer und große Verwirrung.
Genau das Gleiche, was John Paul empfindet, stellte Destiny fest. Kannst du Hinweise auf den Vampir sehen?
Nicolae war einer der uralten Karpatianer, weit stärker als Destiny und sehr beschlagen in allem, was die Untoten anging. Er war überzeugt, die Spuren eines Vampirs sofort zu erkennen, falls das Wesen in irgendeiner Weise mit Martin in Berührung gekommen war, aber nichts sprach für eine derartige Einflussnahme. Nicolae stand auf und streckte seine Hand aus, als Velda ihn mit dem jungen Mann bekannt machte.
Martin gab sich große Mühe, trotz seiner inneren Anspannung höflich zu sein. Nicolae konnte sehen, dass er von Natur aus ein freundlicher und offener Mensch war. Die Zuneigung, die er für Velda und Inez empfand, die ihn seit seiner Kindheit kannten, war deutlich zu erkennen und wurde von den beiden alten Damen ebenso innig erwidert.
»Ich habe schon viel Gutes über Sie gehört, Martin. Sie setzen sich für unsere älteren Mitbürger ein und arbeiten mit Tim Salvadore gerade an einem großen Projekt. Vater Mulligan hat mir erzählt, dass ihr geplantes Heim Menschen mit begrenzten Mitteln erlauben wird, in einer sicheren Umgebung zu leben und dabei selbstständig zu bleiben. Er hält Sie für brillant. Sie und Vater Mulligan müssen gute Freunde sein.« Nicolae nannte bewusst den Namen des Priesters und ließ seine Stimme besonders freundlich und interessiert klingen. Er kannte die Macht einer solchen Waffe. Nur wenige konnten der Aufforderung zum Sprechen widerstehen.
Martin ließ die Schultern hängen. »Vater Mulligan ist ein großartiger Mensch. Ich kenne ihn mein ganzes Leben lang.« Er hob den Kopf und sah Nicolae direkt an. Die Qual in seinen Augen war deutlich zu erkennen. »Hat er Ihnen auch erzählt, dass er überfallen worden ist ? Jemand hat ihm mehrere Schläge auf den Kopf versetzt und ihm die Schachtel mit dem Geld für die Bedürftigen der Gemeinde direkt aus der Hand gestohlen.«
Velda schnappte nach Luft. Inez quiekte. Beide Frauen bekreuzigten sich, griffen nach dem silbernen Kruzifix, das jede von ihnen um den Hals trug, und küssten gleichzeitig das Kreuz. »Das kann nicht sein, Martin«, widersprach Velda. »Niemand würde Vater Mulligan etwas zuleide tun.«
»Es ist sowieso nie viel Geld in der Schachtel, stimmt’s, Schwester?«, fügte Inez hinzu und rang die Hände. »Wohin treibt die Welt, wenn ein Priester in einem Gotteshaus überfallen wird?«
»Vielleicht sollten Inez und ich auch in deine Seniorenresidenz ziehen, Martin«, bemerkte Velda. »Wenn es um dieses Viertel schon so schlecht steht, dass ein Einbrecher Vater Mulligan niederschlägt, ist niemand mehr sicher.«
»Wird der arme Mann sich wieder erholen?«, fragte Inez. »Velda, mein Schatz, wir müssen sofort unsere berühmte Hühnersuppe kochen und ihm etwas davon bringen.« Sie klopfte Nicolae auf den Arm. »Niemand bereitet eine so hervorragende Hühnersuppe zu wie die liebe Velda. Leider muss ich sie ständig an diese kleinen alltäglichen Dinge erinnern, damit sie nicht wieder loszieht und ihre Nachforschungen anstellt. Velda sucht nämlich Beweise, dass es Vampire und Werwölfe gibt.«
Nicolaes Aufmerksamkeit war sofort geweckt. Bisher hatte er Martin scharf beobachtet und kaum auf das geachtet, was die anderen redeten. Aber jetzt wanderte sein dunkler Blick zu Velda und ruhte nachdenklich auf ihr.
Die alte Dame strich über ihr Haar und lächelte ihn an. »Ein altes Hobby von mir. Ich versuche mich ein bisschen in Zaubersprüchen, aber ich kann es nicht sehr gut. Inez ist viel präziser als ich. Martin, mein Lieber, setz dich doch. Du siehst so aus, als müsstest du auch ein bisschen aufgepäppelt werden. Ich koche die doppelte Portion von meiner Suppe und gebe dir etwas ab. Du wirst schon sehen, du bist im Handumdrehen wieder auf den Beinen.«
Martin, der zum Teil immer noch unter dem Bann von Nicolaes Stimme stand, ließ sich schwer in den Sessel fallen, auf dem vorher Nicolae gesessen hatte, und blickte sorgenvoll zu ihm auf. »Er glaubt, dass ich es war. Vater Mulligan glaubt, dass ich ihm den Schädel eingeschlagen und die Kollekte mitgenommen habe.« Das Geständnis kam überstürzt heraus und endete in einem erstickten Schluchzen.
Velda und Inez wandten ihre Aufmerksamkeit sofort Martin zu. Sie klopften ihm auf die Schultern, strichen beruhigend über sein Haar und gaben glucksende Laute von sich. »Vater Mulligan muss eine Gehirnerschütterung haben. Er weiß doch, dass du so etwas nie machen würdest, Marty. Ich rede mit ihm«, sagte Velda tröstend.
»O ja, Schwester, wir müssen sofort zu ihm«, echote Inez. »Er muss schwer verletzt sein, wenn er dem armen Martin so etwas vorwirft.«
Martin Wright starrte auf seine Hände. »Und wenn ich es doch war? Vater Mulligan würde mich nie belügen, und Tim sagt, dass ich an dem Abend blutbeschmiert nach Hause gekommen bin. Angeblich hatte ich die Armenkasse in der Hand und wollte nicht mit ihm reden. Ich hätte einfach nur dagesessen und die Schachtel angestarrt, sagt er.« Tränen glänzten in seinen Augen, als er Velda ansah. »Ich kann mich nicht erinnern. Könnte ich Vater Mulligan überfallen haben? Ich habe noch nie im Leben jemandem wehgetan.«
»Martin.« Nicolae kauerte sich vor den anderen, sodass er mit ihm auf Augenhöhe war. Die Verzweiflung, die von Wright ausging, war förmlich mit Händen zu greifen. »Erinnern Sie sich, was an jenem Tag vor dem Überfall passiert ist? Wo waren Sie ? Wer war bei Ihnen ? Was haben Sie gemacht ? Können Sie sich an irgendetwas erinnern?«
»Es war ein ganz normaler Tag. Ich ging zur Arbeit und traf mich mit Tim zum Mittagessen. Wir haben über das Projekt gesprochen, wie üblich. Er hatte seine Astronomieklasse, deshalb ging ich zur Baustelle, um mit dem Bauunternehmer zu reden. Ich war ziemlich lange dort. Ich erinnere mich, dass ich mir überlegte, die Pläne Vater Mulligan zu zeigen, weil ich mir über einige Treppen und eine Rampe, die in den Garten führen, Sorgen machte. Ich befürchtete, dass einige der Bewohner damit Probleme haben könnten. Der Bauunternehmer behauptete, die Rampe wäre nicht zu steil, aber Vater Mulligan weiß gut Bescheid, welche Schwierigkeiten Leute haben, die am Stock gehen oder eine Gehhilfe brauchen, weil er täglich mit alten Menschen spricht. Ich wollte eine zweite Meinung.«
»Oh, Schwester!« Inez packte ihre Schwester am Arm. »Er ist an dem Abend wirklich zu Vater Mulligan gegangen. Du hast recht. In diesem Viertel geht irgendetwas vor.«
Velda nickte grimmig. »Und zwar nichts Gutes. Wir sollten sofort die Nachbarschaftshilfe aktivieren.«
Nicolae zuckte innerlich zusammen. Vor seinem geistigen Auge entstand das Bild kleiner alter Damen mit grell getönten Haaren, die mit Zauberelixieren und Knoblauchkränzen die Straßen auf und ab patrouillierten. »Martin, wissen Sie noch, ob Sie woanders waren, bevor Sie zu Vater Mulligan gingen? Sind Sie stehen geblieben, um mit jemandem zu reden, vielleicht auch nur kurz, oder haben Sie irgendwo zu Abend gegessen? Waren Sie vielleicht in der Bar?«
Martin runzelte die Stirn und rieb sich die Schläfen. »Ja, wahrscheinlich. Ich verließ die Baustelle kurz nach sechs. Vater Mulligan wurde viel später überfallen. Er geht immer zwischen halb neun und neun Uhr abends in die Kirche. Ich hätte bestimmt nicht erwartet, ihn früher dort anzutreffen.«
Wann hast du Vater Mulligan gefunden?, fragte Nicolae Destiny.
Kurz vor zehn, zwischen halb zehn und zehn.
Nicolae wandte sich wieder an Martin. Die Schwestern machten ein großes Getue um ihn, und Martin schwankte wegen ihrer moralischen Unterstützung zwischen Lachen und Weinen.
»Schwester, du musst ihm einen Talisman basteln«, erklärte Inez. »Etwas, das die bösen Geister abwehrt. Velda wird dir ein mächtiges Totem geben, das du dir um den Hals hängen kannst, Martin.«
»Glauben Sie, dass Vampire dahinterstecken?«, fragte Nicolae Velda, ohne eine Miene zu verziehen.
Die alte Frau starrte ihn erzürnt an. »Verspotten Sie mich ruhig, mir macht es nichts aus. Ich lebe schon seit Jahren mit dem Wissen über das Übersinnliche - und mit den Skeptikern, die sich so gern über mich lustig machen. Ich kenne meine Pflicht.«
»Velda«, unterbrach Martin sie, »ich muss es gewesen sein. Tim würde nicht lügen und Vater Mulligan auch nicht. Tim sagt, es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich mich seltsam verhalten habe und nachher nicht mehr erinnern konnte.
Ich habe ihm versprochen, mich medizinisch untersuchen zu lassen.«
»Velda.« Nicolaes Stimme war unglaublich sanft und sehr bezwingend. »Es tut mir leid, dass Sie mich missverstanden haben. Ich habe keine Ahnung, ob es Vampire gibt, und ich würde mich nie über Sie lustig machen oder Sie verspotten. Ich habe Sie nur nach Ihrer Meinung gefragt.«
Velda lief scharlachrot an. »Ich dachte ...« Sie brach ab und hob hilflos die Hände. »Ich bin so sehr daran gewöhnt, dass mich andere wegen meiner Ansichten auslachen, dass ich wohl etwas voreilig war.«
»Ich denke, Martin sollte in die Klinik gehen, und wir sollten diese Angelegenheit näher untersuchen. Es macht mir nichts aus, für Sie ein paar Nachforschungen anzustellen. Schließlich bin ich in der Verbrechensbekämpfung tätig. Vater Mulligan möchte, dass möglichst wenig darüber geredet wird. Er glaubt, dass an jenem Abend irgendetwas mit Ihnen passiert ist, Martin. Er will nicht die Polizei hinzuziehen. Er ist ein persönlicher Freund, und ich bin hier, um zu helfen. Und natürlich hat mich auch Destiny gebeten zu helfen.«
»Das liebe Kind«, strahlte Inez. »Ist sie nicht ein Schatz, Schwester?«
Aber Veldas Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Nicolae. »Ja, ich glaube wirklich, man hat Sie hierher geschickt, um uns zu helfen.« Sie starrte ihn unverwandt an. Ihre Augen wurden glasig und bekamen einen träumerischen Ausdruck, und ihre arthritischen Finger bewegten sich vor seinen Augen in einem komplizierten Muster.
Nicolae spürte, wie ihm die Luft wegblieb. Destinys Herz setzte einen Schlag aus, bevor es viel zu laut zu pochen anfing. Nicolae hob eine Hand und richtete sie mit der Innenfläche nach außen auf Velda.
Nein! Tu das nicht! Du darfst sie nicht aufhalten. Lass zu, dass sie dich »sieht«!
Die pure Verzweiflung in Destinys Stimme verhinderte, dass Nicolae eingriff und Velda davon abhielt, das zu tun, wozu sie offenbar imstande war - in ihm zu lesen. Ihre Gabe war tief in ihrem Inneren verborgen und ließ mit den Jahren nach, aber sie war eindeutig vorhanden.
Velda schnappte laut nach Luft, taumelte zurück und schüttelte den Kopf, als wollte sie wieder klar sehen. Sofort fuhr ihre Hand zu dem silbernen Kreuz um ihren Hals. »Mir ist gar nicht gut, Schwester. Bring mich bitte rein.« Ihre Stimme bebte, und sie vermied es, Nicolae anzuschauen.
»Schauen Sie mich an, Velda.« Es war ein Befehl, und die Frau wandte sich zu ihm um. Sie schien in sich zusammengesunken zu sein und wirkte schwach und gebrechlich. Zum ersten Mal sah sie so alt aus, wie sie war. »Sie wissen, dass Sie von mir nichts zu befürchten haben. Ich bin hergekommen, um Ihnen und Ihren Freunden zu helfen. Glauben Sie mir.«
Velda nickte feierlich. »Ja, ich weiß«, murmelte sie.
Sie wusste zu viel. Nicolae erkannte plötzlich, dass in diesem ruhigen Viertel nichts so war, wie es schien. Der Boden unter seinen Füßen wogte und schwankte. Destiny! Komm sofort zu mir! Der Befehl wurde von einem Karpatianer mit unvorstellbarer Macht ausgesprochen; es war ausgeschlossen, sich diesem Zwang zu entziehen. Nicolae dachte nicht einmal an die Auswirkungen, die es haben mochte, wenn er Destiny seinem Willen unterwarf. Er konnte nicht darüber nachdenken. Irgendetwas Böses verbarg sich in diesem Wohnviertel, und er musste die Wurzel dieses Übels finden. Es war durchaus möglich, dass die Erhaltung seiner Art auf dem Spiel stand.
Nicolae entließ Velda aus seinem Bann und beobachtete, wie Inez ihrer Schwester ins Haus half. Er und Martin blieben zurück.
»Sie sah krank aus«, stellte Martin mit aufrichtiger Besorgnis fest. »Meinen Sie, wir sollten Doktor Arnold rufen? Er leitet die Klinik, und ich weiß, dass er für Velda oder Inez einen Hausbesuch machen würde. Die beiden sind hier so etwas wie eine Institution.«
»Ich glaube, sie braucht nur etwas Ruhe.« Nicolaes glitzernder Blick glitt nachdenklich über den Mann, der sich in seinem Sessel ausstreckte. »Wo haben Sie an jenem Abend gegessen, Martin? Das haben Sie bisher nicht erwähnt.«
Martin runzelte die Stirn und rieb sich den Kopf, als hätte er Schmerzen. »Normalerweise gehe ich in die Bar. Ich muss wohl dort gewesen sein. Ich wusste, dass Tim nicht zu Hause sein würde, und ich gehe immer in die Bar, um unter Menschen zu sein, wenn er Unterricht hat. Ich kann mich nicht erinnern. Wie kann ich einen ganzen Abend aus dem Gedächtnis verlieren?«
»Wir kommen schon noch dahinter, Martin«, versicherte Nicolae beruhigend. Sofort wich etwas von der Anspannung auf dem Gesicht des anderen. »Es ist kein Problem, in der Bar nachzufragen, ob jemand Sie an diesem Abend dort gesehen hat. Jeder kennt Sie.«
»Tim ist völlig durcheinander. Er weiß nicht, was er denken oder glauben soll, und ich kann ihm keine Erklärung geben«, bemerkte Martin bekümmert.
»Velda und Inez scheinen zu wissen, wovon sie reden, wenn sie einen Rat erteilen, Martin, und dasselbe gilt für MaryAnn. Vielleicht sollten Sie mit jemandem, dem Sie vertrauen, darüber sprechen.«
Er konnte die Schwingungen von Macht fühlen, als Destiny über den Nachthimmel zu ihm geflogen kam. Destiny.
Martin hievte sich aus dem Sessel und reichte Nicolae die Hand. »Ich war ziemlich am Ende, bis ich mit Ihnen gesprochen habe. Danke. Ich glaube, Sie haben recht. Ich habe gesehen, wie MaryAnn zu ihrem Büro ging. Vielleicht kaue ich mal alles mit ihr durch.«
Du hast mich zu dir befohlen? Die Worte klangen scharf. Destiny war ganz und gar nicht glücklich über die Art und Weise, wie er mit ihr umgesprungen war. Dass es ihm überhaupt möglich war, so mit ihr zu verfahren! Sein Blut floss durch ihren Körper, aber er war es, der das Kommando führte.
»Ausgezeichnete Idee, Martin.« Nicolae winkte dem Mann zum Abschied zu und schlenderte bis zur nächsten Ecke, wo er außer Sichtweite war. Er wusste genau, wo sie auf ihn wartete, kochend vor Wut und fest entschlossen, ihm die Leviten zu lesen.
Destiny starrte ihn finster an, als er neben ihr erschien und auf dem höchsten Hausdach der Gegend wieder Gestalt annahm. »Würdest du mir bitte erklären, wie du dazu kommst, mit einer Arroganz sondergleichen über mich zu verfügen?«
Ihre Augen waren rauchig grün, und in ihren Tiefen tobte ein Sturm. Sie sah wild und unberechenbar aus. Ihr Körper war in Angriffsstellung, angespannt wie eine Feder, aber dabei gleichzeitig regungslos und wachsam wie der eines Tigerweibchens. Der Wind zerzauste ihr Haar mit unsichtbaren Fingern, und ihr Mund war ... verführerisch. Sein Blick fiel auf ihre volle Unterlippe. Sie war leicht vorgeschoben, doch das bedeutete nicht etwa, dass Destiny auf einen Kuss wartete. Es bedeutete Ärger.
Sein ganzes Ich reagierte auf den Anblick dieses Sehmollmundes. Erregung stieg in ihm auf, die von einem quälenden Schmerz begleitet wurde, der ihn nie ganz verlassen würde, nicht einmal, wenn er weit von ihr entfernt war.
Destiny war wütend, mehr als wütend. Sie war frustriert und rastlos, und ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Zorn brodelte in ihrem Inneren und vermischte sich mit einer uralten Erregung, die sie nicht unterdrücken konnte. Es lag an der Art, wie er sie anschaute, an seinem Blick, der sich vor Verlangen verschleierte, einem Hunger, den er nicht zu verbergen versuchte.
»War ich denn wirklich arrogant?« Sein Blick ruhte unverwandt auf ihrem Mund.
Der Klang seiner Stimme ließ etwas in ihrem Inneren prickeln und pulsieren. Sie erkannte dieses Gefühl als Verlangen, und es machte ihr Angst, dass sie sich so leicht von seiner Macht beherrschen ließ. Seine Stimme streichelte ihre Haut wie ein Samthandschuh. Jeder Zentimeter ihrer Haut war ihr mit einem Mal nachhaltig bewusst.
»Reden wir darüber!« Ihre eigene Stimme klang belegt und erstickt, als bekäme sie keine Luft. »Du hast deine Macht gegen mich eingesetzt. Das ist absolut inakzeptabel.« Sie musste den Blick von ihm abwenden. Wenn er ihr so nahe war, brachte er sie einfach um den Verstand und setzte ihr erotische Ideen in den Kopf, die einfach nicht da sein sollten. Destiny schloss die Augen und atmete tief ein, in der Hoffnung, die kühle, frische Nachtluft würde ihre Gedanken klären.
»Glaubst du das wirklich? Dass ich meine Macht gegen dich verwende? Wann war je eine meiner Handlungen gegen dich gerichtet? Ich habe mehr Jahre für dich gelebt, als ich zählen mag, Destiny. Du musst mir irgendwie entgegenkommen; wenn schon nicht auf halbem Weg, dann wenigstens ein paar Schritte.«
Sie atmete seinen Duft ein, den lockenden Ruf eines Mannes nach einer Frau, und stieß ihn mit ihrem Atem wieder aus. »Nicolae.« Es war ein gequältes Flüstern. »Ich habe es versucht. Ich schwöre dir, ich habe es versucht.«
Er streckte die Arme nach ihr aus. Nicolae konnte einfach nicht anders, wenn ein so tiefer Schmerz auf ihrem Gesicht lag, ein so unverhohlenes Verlangen in ihren Augen. »Komm zu mir! Nichts kann getan werden, ehe wir nicht klären, was zwischen uns ist.« Seine Arme schlossen sich um sie und zogen sie eng an sich, um mit ihr in die Luft aufzusteigen.
Destiny wusste, dass sie protestieren sollte. Wo er sie auch hinbrachte, es würde ein Ort sein, an dem sie allein waren. Sie konnte es sich nicht leisten, mit ihm und der Versuchung, die er darstellte, allein zu sein. Schon lag ihre Hand flach auf seiner Brust und fühlte durch sein dünnes Seidenhemd die Hitze seiner Haut. Sie langte um seinen Hals, um die Fülle seiner langen, dicken Haare zu lösen, sodass einzelne Strähnen um ihr Gesicht und über ihre Arme wehten.
Nicolae spürte den Schauer, der Destiny durchlief, als er sie aus der Stadt brachte, weit weg, in eine der großen unterirdischen Höhlen, die er bei seiner Erkundung der Gegend entdeckt hatte. Seine Lippen strichen über ihren Hals und wandelten weiter hinauf zu ihrem Ohr. »Wir brauchen einen Ort, wo wir uns ungestört unterhalten können. Was da unten in deinem Viertel vorgeht, gefällt mir gar nicht. Alles Mögliche könnte uns dort belauschen.«
Er stellte sie auf die Füße und entzündete mit einer Handbewegung ein Feuer in der steinernen Urne, die er vor einigen Tagen hier zurückgelassen hatte. Goldenes Licht flackerte, tanzte auf den Wänden der Höhle und fiel auf die Edelsteine, die tief im Felsgestein saßen, sodass die Kammer zu funkeln und zu glitzern schien. Ein Kreis aus Felsblöcken umrahmte ein Becken mit schimmerndem, schäumendem Wasser.
Destiny rückte ein wenig von der überwältigenden Anziehungskraft seiner starken, männlichen Gestalt ab. »Was ist da unten mit Velda passiert? Ist sie so wie ich?«
Ihre Augen flehten ihn an, ihr die richtige Antwort zu geben. Nicolae rührte sehr behutsam an ihr Gedächtnis, das gerade diese erste bedrohliche Erinnerung preisgab: Ein kleines Mädchen, dem dicke Ringellocken auf die Schultern fielen und dessen Augen zu groß für ihr Gesicht schienen, strahlte vertrauensvoll einen gut aussehenden Mann an. Der Fremde beugte sich zu ihr hinunter und sprach leise mit ihr, und das Lächeln der Kleinen vertiefte sich. Sie nickte ein paarmal, nahm ihn an der Hand und ging mit ihm zu einem kleinen Haus. Eine Frau stand auf der Veranda. Sie runzelte leicht die Stirn, als sie bemerkte, dass ihre Tochter lebhaft mit einem hochgewachsenen, sehr attraktiven Mann plauderte, der allmählich die Gestalt eines Monsters annahm. Seine makellose Haut wurde grau, sein dichtes schwarzes Haar weiß und strähnig, und seine geschwungenen Lippen enthüllten spitze, blutbeschmierte Zähne. Scharfe Krallen bohrten sich in den Arm des Kindes.
Nicolae begriff sofort, dass er den Vampir mit den Augen des Kindes sah, das Destiny damals gewesen war. »Wie hätte ein Kind von sechs Jahren einen Vampir erkennen können? Wie hätte es überhaupt wissen sollen, dass es Vampire gibt? Ein Kind ist in dieser Hinsicht völlig arglos.«
»Ich habe ihn zu meiner Familie geführt. Das kannst du nicht leugnen. Velda ist über siebzig. Warum hat sie in all den Jahren nie einen Vampir zu ihrer Familie geführt? Und was ist mit MaryAnn ? Sie hat auch übernatürliche Fähigkeiten. Wir haben in dieser Gegend mehrere Vampire vernichtet, aber keiner von ihnen fühlte sich von diesen Frauen angezogen.«
Nicolae spürte, dass Tränen hinter ihren Augen brannten, obwohl sie das Kinn stolz gereckt hielt und der Blick ihrer blaugrünen Augen so fest wie immer war. »Eine bessere Frage wäre vielleicht, warum versammeln sich all diese Vampire ausgerechnet hier? Das beunruhigt mich sehr. Drei Frauen mit unterschiedlichen übernatürlichen Fähigkeiten leben hier. Ist das wirklich ein Zufall? Und Vater Mulligan, der von der Existenz unseres Volks weiß, lebt zufällig auch hier. In dieser Stadt mit all ihren Einwohnern begegnen wir ihm zufällig und werden in seine Angelegenheiten verwickelt. Beunruhigt dich das nicht? Und wir haben zwei Männer, John Paul und Martin, die sich völlig untypisch verhalten. Ich habe Martin durchleuchtet. In ihm ist keine Dunkelheit, nichts Böses. Er ist unfähig, einem anderen Menschen etwas anzutun, aber er muss den Priester trotzdem überfallen haben. Oder es war jemand, der vorgab, Martin zu sein. Wie könnte irgendjemand ebenso John Paul, einen großen, kräftigen Burschen, spielen wie Martin Wright, der schlank und um einiges kleiner ist?«
»Ein Vampir könnte es. Er könnte jede Gestalt annehmen und jede Rolle spielen«, erwiderte Destiny.
»Gut genug, um Vater Mulligan zu täuschen?« Nicolae zog eine Augenbraue hoch. »Einen Mann der Kirche? Einen Mann von solcher Weisheit?«
»Natürlich könnte ein Vampir das. Sogar ich könnte es. Ich könnte deine Gestalt annehmen und jeden glauben machen, dass ich du wäre.« Sie zuckte mit den Schultern. »Naja, fast jeden. Vikirnoff wahrscheinlich nicht.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Nicolae starrte sie unverwandt an. Er sah sofort, als sie begriff, worauf er hinauswollte. Ein Vampir konnte jeden Menschen täuschen. Unmöglich hätte sie als argloses Kind von sechs Jahren das Monster erkennen können, das ihre Familie auslöschen wollte.
»Mir ist klar, was du damit sagen willst, Nicolae, und ich weiß, dass du recht hast. Mein Verstand weiß das. Ich sage mir immer wieder, dass ich mir die Schuld am Tod meiner Eltern nicht aufbürden darf, doch mein Herz will nicht darauf hören.«
»Zumindest hörst du mir jetzt zu«, sagte er ruhig. »Es war kein Vampir, der die Kirche betreten hat. Kein Vampir würde das tun und auch keiner seiner Handlanger. Sie sind unrein und würden nicht wagen, einen so heiligen Ort zu betreten.«
»Das weiß ich.« Er hatte sie sehr geschickt dazu gebracht, sich einzugestehen, dass sie nicht unrein war, denn sie hatte die Kirche betreten. Sie wünschte, diese Erkenntnis würde tief in ihr Herz und ihre Seele eindringen und dort bleiben und sie von der Last der Schuldgefühle und der Selbstverachtung befreien. Sie lebte, auch wenn ihr bisheriges Leben die Hölle gewesen war. Sie war am Leben, und der Vampir, der ihre Familie und unzählige andere ermordet hatte, war tot, durch ihre Hand gefallen.
Nicolaes Gesicht wurde von den Schatten der Höhle verborgen, aber sie konnte seine Augen sehen. Sie waren eindringlich und hungrig. Sie brannten vor Verlangen. Er nahm ihr allein mit seinem Blick die Fähigkeit, zu protestieren oder sich irgendwie vor ihm zu schützen. Sie hatte seinen Geschmack im Mund. Er breitete sich in ihrem Blutkreislauf aus und wurde in ihrem Inneren zu flüssiger, pulsierender Hitze. Ihr Körper fühlte sich anders an und schien nicht mehr ihr selbst zu gehören.
Nicolaes Blick begegnete ihrem. Ihr lockender Duft wehte zu ihm. Er konnte die Verwirrung in ihren Augen sehen. Es kümmerte ihn nicht, was ihm sein Körper zurief. Sein Herz schmolz, noch während sein Körper von einer Leidenschaft verzehrt wurde, die er nicht kontrollieren konnte. »Du hast keine Nahrung zu dir genommen, Destiny. Warum nicht?« Seine Stimme war in der Enge der unterirdischen Höhle nur ein Raunen, eine sinnliche Einladung, die sie beinahe in die Knie zwang.
Destiny wurde beim Klang dieser Stimme schwach. Wie gebannt beobachtete sie, wie seine Finger die Knöpfe an seinem Hemd öffneten und den Stoff beiseiteschoben, um seine breite Brust zu entblößen. Seine Muskeln waren nicht auffällig, aber gut trainiert. Sie konnte den Blick nicht von seiner nackten Haut, seinen breiten Schultern und seiner starken Brust losreißen. Auch nicht von seiner schmalen Taille oder seinen kräftigen Armen.
»Ich bekomme keine Luft.« Sie hob den Blick zu seinem Gesicht. »Ich bekommen keine Luft mehr, Nicolae.«
Destiny sah so zerbrechlich und verwundbar aus, so verloren. Nicolae trat zu ihr und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Er beugte sich vor, legte seine Lippen auf ihren Mund und atmete für sie. Er gab ihr seinen Atem und seine Kraft.
Sofort entflammte ein Feuer, heiß und verzehrend. Es loderte zwischen ihnen und in ihnen auf und verbrannte sie von innen. Destiny lieferte sich Nicolae einfach aus. Wie von selbst wurde ihr Körper weich und nachgiebig und schmiegte sich eng an seinen. Ihre Hände bewegten sich fast wie von selbst über seinen Körper, als würden sie von dem Zwang geleitet, seine Haut unter ihren Fingern zu spüren. Der Kuss nahm kein Ende. Keiner von ihnen konnte genug bekommen; sie beide sehnten sich danach, einander unter die Haut zu kriechen, tief in den Körper und die Seele des anderen einzudringen.
Beide beherrschte das reine Verlangen, den anderen zu erobern und zu besitzen. Lust und Liebe erwachten, vermischten sich miteinander und wirbelten so wild durcheinander, dass ein Feuersturm entfacht wurde, turbulent und glühend heiß. Ein leiser Laut drang aus Destinys Kehle, eine Mischung aus Angst und Verlangen. Als er es hörte, rang Nicolae mühsam um seine Beherrschung und zog sich zurück, um ihr die Möglichkeit zur Flucht zu geben.
Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals und zogen ihn zurück an ihren hungrigen Mund. Er war so viele Jahrhunderte allein gewesen, hatte nach ihr gesucht und auf sie gewartet. Sie war von der Welt abgeschnitten gewesen, hatte sich nach ihm gesehnt und ihn gleichzeitig weggestoßen, um ihn zu schützen. Um ihn zu retten. Ihr Mund war wild und schürte das Feuer noch mehr. Es gab für keinen von ihnen Rettung. Destiny war ihm hilflos ausgeliefert; sie brauchte es, ihm noch näher zu sein, sie forderte es von ihm.
Ich werde nicht aufhören können. Eine Bitte um Gnade lag in seiner Stimme. Sein Verlangen nach ihr war überwältigend. Er kostete den Honig ihres Mundes und nahm sich, was er brauchte, statt darum zu bitten; ein dominanter Mann, der auf dem Höhepunkt seiner Erregung war. Und trotzdem war etwas Zärtliches in der Art, wie er sie hielt, das ihn noch anziehender für sie machte.
Dann hör nicht auf. »Hör nicht auf.« Sie hauchte die Worte an seinen Mund. »Ich will nicht, dass du aufhörst.« Destiny wollte es wirklich nicht. Sie war darüber hinaus, Angst zu haben. Sie fürchtete sich, aber diese Furcht war nichts im Vergleich zu dem Feuer ihres Verlangens, einem Verlangen, das an Besessenheit grenzte. Ihr Körper brannte und pulsierte vor Leidenschaft, er schrie förmlich nach Nicolaes Körper. Und als er sie küsste, war alles andere aus ihrem Denken ausgelöscht. Monster und Tote, Schuldgefühle und Erinnerungen an weinende Opfer. Es gab nur das, was sie jetzt fühlte. Es gab nur Nicolae.
Seine Hände glitten von ihrem Gesicht nach unten und strichen über ihren glatten Hals. »Hast du Angst vor mir, Destiny?« Seine Zähne knabberten leicht an ihrer Unterlippe, die er so anziehend fand, so unwiderstehlich. »Ich spüre, wie dein Herz klopft.« Seine Hand ruhte mit weit gespreizten Fingern auf ihrer Brust, sodass ihr Herz in seiner Handfläche schlug, als hielte er es fest. »Ich will nicht, dass du Angst vor mir oder unserer Vereinigung hast. Sich in Liebe zu vereinen ist kein Akt verabscheuungswürdiger Gewalt, sondern etwas unbeschreiblich Schönes. Vertraust du mir genug, um deinen Körper mit meinem zu vereinen?«
Bevor sie antworten konnte, eroberte er wieder ihren Mund hungrig mit seinem. Seine Hand wanderte nach unten und schloss sich um ihre Brust, wo er mit dem Daumen ihre Brustspitze liebkoste, bis sie sich wie eine harte Knospe unter ihrem Hemd abzeichnete. Destiny schnappte nach Luft, als ihr Körper in einen wahren Vulkan des Verlangens stürzte. Ihre Beine drohten unter ihr nachzugeben. Ihre Kleidung war zu eng und zu schwer an ihrem Körper. »Nicolae.« Sinnliches Verlangen lag in ihrer Stimme. Sie öffnete die Augen, um ihn anzuschauen und seinen dunklen Blick zu suchen.
Die Leidenschaft betonte die erotische Sinnlichkeit seiner männlichen Züge. Er war kein Junge, sondern ein gefährliches, mächtiges Wesen, doch sie konnte trotzdem seine Verwundbarkeit sehen.
»Sag Ja zu mir, Destiny. Lass uns miteinander eins werden.«
Sie ertrank in Verlangen, in Hunger - und in einem Gefühl, das Liebe sein musste. Wenn es nicht Liebe war, warum schimmerten dann Tränen in ihren Augen und schnürten ihr die Kehle zu? Weshalb kämpfte sie immer noch darum, ihn zu retten? »Du weißt, was passieren wird. Du weißt es, Nicolae. Du wirst mein Blut nehmen wollen, und ich werde es zulassen. Ich würde nicht mehr die Kraft finden, dich aufzuhalten.« Sie wisperte ihm die Worte zu, während seine Hände über ihren Brustkorb hinunter zu ihrer Taille glitten. Seine Hände zupften am Saum ihres Hemdes und streiften dabei nacktes Fleisch. Sie brannte vor Verlangen, aber sie wartete darauf, sein Nein zu hören. Ihre einzige Rettung bestand in seiner nie versiegenden Kraft.