Kapitel 7

Destiny bewegte sich langsam und vorsichtig und überprüfte dabei jeden Zentimeter ihrer Umgebung. Der Wind wirbelte Papierfetzen und kleine Blätter auf und fegte Abfall über die Straße. Ihr wachsamer Blick glitt über die Gebäude und registrierte jedes Detail und jeden Schatten. Sie war gekommen, weil sie den Kampf suchte; jetzt befand sie sich mitten im Krieg.

Was sie unbedingt brauchte, war Platz zum Agieren. Sie schenkte einer der Ratten ein zuckersüßes Lächeln, trat rasch zwischen den hohen Gebäuden hervor und stellte sich mitten auf die Straße. »Wie ich sehe, trittst du in deiner wahren Gestalt auf, Pater. Als dreckige kleine Ratte. Und diesmal hast du alle deine kleinen Freunde bei dir, wie es bei Ratten und anderem Getier üblich ist. Was soll das sein? Ein Treffen alter Freunde? Die Woche der alten Heimat? Ein Vampirseminar, und keine Einladung für mich? Ich fühle mich übergangen.« Sie gebrauchte ihre eindringlichste Stimme, damit diejenigen, die sie hörten, sich zu erkennen gaben, sei es auch nur für einen kurzen Augenblick.

Sofort sah sie die Untoten in ihrer wahren Gestalt, hochgewachsene Gestalten mit scharfen, fleckigen Zähnen und grauer Haut, die sich straff über ihre Schädel spannte. Ihre Körper waren ebenso verfault und verrottet wie ihr Inneres, und die Illusion äußerer Schönheit wurde nur von ihrem Geist heraufbeschworen. Zwei befanden sich neben den Mülltonnen, einer auf dem Dach des nächsten Gebäudes, einer im Dunkel der Gasse. Und der letzte von ihnen klebte wie ein dunkler Fleck an der Seite des Hauses, das direkt über ihr aufragte, eine Spinne, die in ihrem Netz darauf lauerte, ihr Opfer anzugreifen.

Destinys Herz schlug schneller, bevor es wieder zu seinem normalen Rhythmus fand. Leichtfüßig und unbekümmert ging sie weiter und grüßte dabei spöttisch die makabre Gestalt, die an der Seite des Gebäudes hinaufkroch. Der Vampir entblößte seine Zähne. Sein fauliger Atem verpestete die kühle Luft, und Destiny war dankbar für den feinen Regen, der den Gestank zerstreute.

Pater nahm gelassen seine menschliche Gestalt vermeintlicher Schönheit an und verschränkte die Arme vor der Brust. »Tatsächlich, meine Liebe, haben wir eine Einladung für dich. Wir sind gekommen, um dich aufzufordern, dich uns anzuschließen. Welchen Sinn hat es, wenn wir einander gegenseitig bekämpfen?« Seine Stimme war sanft und so einschmeichelnd, dass Destiny unwillkürlich an eine andere Stimme denken musste, die vor langer Zeit nach ihr gerufen hatte. Und sie war der Stimme gefolgt. Das war ihre größte Sünde. Warum hatte sie dem Priester nicht gebeichtet und ihm die Wahrheit gestanden, solange sie Gelegenheit dazu gehabt hatte?

Destiny schüttelte den Kopf, um die Schuldgefühle zu verscheuchen. Sie brauchte völlige Konzentration, wenn sie eine Chance haben wollte, die Untoten zu besiegen. »Warum sollte ich dir dienen wollen, wenn ich meinen eigenen Weg gehen kann?«

Der Vampir auf dem Dach stimmte einen leisen Gesang an und stampfte dazu rhythmisch mit den Füßen. Der Vampir, der rechts von Pater neben einer Mülltonne kauerte, griff den monotonen Refrain auf. Die rhythmischen Bewegungen seiner Füße wirkten in den silbrigen Regenschnüren beinahe hypnotisch. Destiny biss die Zähne zusammen und wandte ihren faszinierten Blick ab, wobei sie gleichzeitig ihre Ohren vor dem Gesang verschloss. Es war ein alter Trick, aber einer, der häufig funktionierte, wenn man nicht gut achtgab.

»Hältst du mich für so unerfahren, dass ich mich damit ködern lasse?« Ihre Augen funkelten Pater an, ein glitzerndes Versprechen auf Vergeltung.

Er verbeugte sich ungerührt. Eine einzige Handbewegung brachte das Lied zum Verstummen. Wieder waren die Vampire still und wachsam. Sie warteten auf ihre Chance, auf einen Fehler von Destiny, einen kleinen Moment der Unachtsamkeit. »Du fällst aus dem Rahmen. Für jemanden, der so jung ist, weißt du sehr viel. Du bist eine Frau, aber du kannst uns besiegen. Du bist von unserem Blut, doch du bist eine Jägerin. Wie kommt es, dass du die Neuigkeiten noch nicht gehört hast, die sich überall in der Welt verbreiten? Wir sind jetzt Kundschafter des Großen. Ich bin einer seiner engsten Vertrauten. Wir führen Krieg gegen die Jäger, aber du weißt nichts davon. Für uns hat eine neue Ära begonnen, in der wir uns zusammenschließen und gemeinsam unsere Feinde bekämpfen.«

Innerhalb des Nebels schien sich etwas zu regen. Destiny fühlte es eher, als dass sie es sah. Nicolae. Natürlich kam er. Und sein Bruder würde ihm Rückendeckung geben. Sie spürte, wie sie sich ein wenig entspannte. »Kämpfen? Für wen? Für was? Was du sagst, ergibt keinen Sinn. Warum sollte ich kämpfen, um einem bösartigen Geschöpf zu mehr Macht zu verhelfen? Mein Tod ist ihm gleichgültig. Dein Tod ist ihm gleichgültig. Wir dienen als Kanonenfutter, während sich dein Meister versteckt und triumphiert und darauf wartet, dass wir die Jäger in die Knie zwingen. Ich sehe keinen Sinn darin, für einen anderen zu sterben.«

»Aber wir werden die Jäger in großen Mengen angreifen und siebesiegen. Unser Anführer ist weise. Erwird uns die Erde untertan machen.« Große Überzeugungskraft lag in seiner Stimme. Sie konnte fühlen, wie diese Kraft auf ihr Bewusstsein einwirkte, ihr Selbstvertrauen untergrub und sie tiefer in das Netz der Ausgestoßenen hineinzog. Irgendetwas war anders an dem hypnotischen Druck, den diese Stimme ausübte, etwas kaum Greifbares, das Destiny nicht ganz einordnen konnte. Der Klang hätte ihr vertraut sein müssen, war er aber nicht. Fast schien es, als wäre seine Stimme direkt auf sie abgestimmt und wüsste genau, welcher Tonfall für sie am angenehmsten war.

Destiny hob ihre Hände mit der Handfläche nach außen und wischte den faszinierenden Klang von Paters Stimme weg. Dann legte sie den Kopf zur Seite und schenkte ihm ein Lächeln, ein träges, herausforderndes Lächeln, das ihre regelmäßigen weißen Zähne zeigte. »Warum sollte jemand, der so mächtig ist wie du, einem anderen folgen ?«Ihr Tonfall war verführerisch, schmeichelnd und bewundernd, und ihre Hände flatterten anmutig, während sie sprach. Destiny fiel auf, dass Paters Brust sichtlich schwoll. Wie alle Vampire war er empfänglich für Schmeichelei. »Für mich siehst du wie ein Anführer aus. Erst vor Kurzem bist du drei Jägern entkommen. Wie viele andere wären dazu in der Lage? Könnte euer Meister es? Er versteckt sich feige hinter dir, während du gegen die Jäger antrittst.«

»Er hat eine Vision«, antwortete Pater.

»Hast du ihn je gesehen? Hat er gewagt, sich vor dir zu zeigen?« Sie klang sehr weiblich, neugierig und voller Bewunderung. Ihre Hände bewegten sich beim Sprechen mit einer fließenden Grazie, die der Schönheit ihrer Stimme entsprach. Jetzt lächelte sie ihn verschwörerisch an und senkte ihre Stimme zu einem leisen Murmeln. »Du schließt dich mir an. Wir brauchen kein Bündnis mit anderen. Das hier ist mein Territorium, das alles hier. Teile es mit mir. Wir können die anderen besiegen.«

Sofort erhoben sich knurrende, grollende Laute; die Vampire spannten sich nervös an, bleckten ihre scharfen Reißzähne und zeigten ihre Krallen. Es erforderte nicht viel, um einen Keil zwischen so unberechenbare Verbündete zu treiben. Sie waren Blender und Verräter und fielen genauso über ihre eigene Art her wie über Menschen.

Pater brachte die anderen mit einer Handbewegung zum Schweigen, ein Beweis für seine Führungsposition unter diesen abscheulichen Geschöpfen. Er streckte seine Hand nach Destiny aus. »Komm jetzt zu mir. Werde eine von uns! Du bist schwach vor Hunger. Du kannst uns unmöglich alle schlagen. Nimm mein Blut, um am Leben zu bleiben. Schließ dich unserer Familie an.«

Seine Worte stießen eine Tür in ihrem Bewusstsein auf, sie weckten eine Erinnerung. Ein kleines dunkelhaariges Mädchen, das durch den Dreck kroch, sich über den feuchten Boden einer Höhle schleppte, sinnlose Tränen vergoss und versuchte, die Laute des Bittens und Bettelns mit ihren Tränen wegzuspülen. Die grauenhaften Schreie, die Ströme von Blut. Das Monster, das sein letztes Opfer fallen ließ und sich wie in Zeitlupe umdrehte, um sie anzustarren. Er drehte sich immer so langsam um, die Zähne noch dunkel vom Blut seines Opfers. Ein dunkler Schatten, der über ihr aufragte. Irres Gelächter. Nimm mein Blut, um am Leben zu bleiben. Hände, die ihren kleinen Körper grob betasteten und drückten. Die Schläge, der faulige Geruch, die Zähne, die an ihrer zarten Haut rissen. Ein brutales Untier, das in sie hineinstieß, ihren Körper zerriss, während brennend heißes, metallisch schmeckendes Blut durch ihre Kehle floss.

Destiny konnte nicht klar denken, konnte nicht atmen. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, ihre Lunge verkrampfte sich. Sie begann zu würgen. Die Erinnerungen an die Misshandlung dieses Kindes waren mehr, als sie ertragen konnte. Der Schweiß brach ihr aus, und ein Zittern schüttelte sie so heftig, dass sie es nicht in den Griff bekam. Sie befand sich nicht mehr in den Straßen von Seattle, eine erwachsene Frau und meisterhafte Jägerin - sie war wieder in dieser Höhle und schleppte wie betäubt ihren geschundenen kleinen Körper über den feuchten, blutbedeckten Boden.

Ich bin bei dir. Die Stimme kam aus dem Nichts, sie war einfach da, ruhig und stetig, ein Fels, der ihr immer Halt gab. Auch wenn sonst nichts blieb, wenn es in ihrer Welt nichts Gutes und Reines mehr gab, war diese Stimme da. Ich werde immer bei dir sein. Du wirst gejagt, Destiny. Sie rücken von oben und unten näher. Komm hierher zurück. Komm zu mir.

Sie folgte ihm aus dem Labyrinth ihrer Albträume. Aus den Erinnerungen, die sie nie loslassen würden. Nicolae. Inbegriff ihrer geistigen Klarheit und ihr Leben. Wann war es passiert? Warum hatte sie es nicht gleich gewusst? Der Wind peitschte ihr ins Gesicht, und der reine Regen durchnässte ihre Kleidung und ihr Haar. Sie wurde sich sofort wieder ihrer Umgebung bewusst, der Vampire, die sie gestellt hatten und jetzt rasch näher kamen.

Da sie wusste, wie verwundbar sie in diesem Augenblick war, gab Destiny ihren Versuch auf, Pater mit einem Zauber zu unterwerfen, und löste sich in feinen Dunst auf. Sie war überzeugt, dass er der Stärkste der Bande war. Er würde den Kampf dirigieren. Er war derjenige, den sie besiegen musste, wenn sie ihr Viertel von den Untoten befreien wollte. Sie wurde sofort ein Bestandteil der Luft und vermischte sich mit dem grauen Nebel.

Pater knurrte, als er ins Leere griff, und hieb mit seinen Krallen in den Nebel, der ihn umgab. Gleich darauf stimmte er einen Gesang an, der dazu diente, menschliche Opfer anzulocken. Seine Stimme war voller Macht, ein Ruf nach Blut. Seine Gefolgsleute griffen seine Worte auf und sandten ihren Ruf in die Gebäude und durch die engen Straßen. Es war ihre Vergeltung dafür, dass ihnen die Frau entwischt war, die sie bereits gefasst zu haben glaubten.

Keine Panik, Destiny. Nicolaes Stimme war sanft und gelassen. Das tut er, um dich unter Druck zu setzen. Es beweist, dass er dich gründlich studiert hat. Er weiß, dass du die Bewohner hier beschützen wirst.

Ich werde nicht ihr Leben gegen meines eintauschen.

Vikirnoff geht als Erster. Die beiden im Schatten gehören mir. Du musst dir den Vampir auf der Seite des Gebäudes vornehmen. Vergiss Pater. Er ist Rauch. Wenn wir nicht unglaubliches Glück haben, können wir ihn unmöglich erwischen. Versuch zu verhindern, dass Vikirnoff eine dieser Bestien töten muss. Er steht auf der Kippe und wird nur töten, um uns das Leben zu retten.

Zu Destinys Entsetzen öffneten sich die Türen der Häuser, als die menschliche Beute dem kollektiven Ruf der Vampire folgte. Sie konnte rote Flammen in den eingesunkenen Augen der Untoten sehen, verzerrte Grimassen der Freude über die Aussicht auf ein Blutbad. Das mit Adrenalin angereicherte Blut der Menschen würde die Vampire in einen wahren Machtrausch versetzen. Schon stürzten sie sich auf ihre Opfer, entschlossen, so viele wie möglich von ihnen zu töten und Kräfte für den bevorstehenden Kampf zu sammeln.

Über ihr wogten Sturmwolken und ballten sich zu einem Hexenkessel dichter schwarzer Schwaden. Verästelte Blitze erleuchteten das Brodeln am Himmel und einen Moment lang auch die beklemmende Szene am Boden.

Tief unter ihr schnitt Vikirnoff einem der Untoten den Weg ab, einem großen, massigen Monster, das unentwegt knurrte. Vikirnoff glitt so geschmeidig und elegant nach unten, dass der Vampir im Vergleich dazu plump und unbeholfen wirkte. Die beiden schienen fast explosiv zum Angriff überzugehen, indem sie im einen Moment noch einen rituellen Tanz schattenhafter Schritte vollführten, um im nächsten zu tödlicher Gewalt überzugehen.

Nicolae machte eine Handbewegung, um die Schreie der Opfer zu beschwichtigen, die sich jetzt der drohenden Gefahr bewusst wurden, und vereitelte so die Chance der Vampire auf ein trügerisches Hochgefühl. Die Vampire mochten vielleicht das Blut bekommen, das sie wollten, nicht aber den Höhenflug des Adrenalinschubs. Zwei Vampire jagten zu einem Pärchen, das in einer Wohnungstür stand. Nicolae war noch vor den Vampiren dort, stieß das Pärchen ins Haus, wo die beiden in Sicherheit waren, und wandte sich den knurrenden Untoten zu. Die zwei Vampire gingen auf ihn los. Sie brannten darauf, den Jäger auszuschalten und ihre Beute zu beanspruchen. Nicolae ging so blitzschnell zum Angriff über, dass Destiny nur eine verschwommene Bewegung wahrnahm, geschmeidig und kraftvoll und extrem gefährlich.

Sie erhaschte einen Blick auf Pater, der sich in den Schatten zurückzog, um seine Gefolgsleute gegen die Jäger kämpfen zu lassen, während er auf die Gelegenheit wartete anzugreifen, ohne ein Risiko einzugehen. Das war die Taktik eines klügeren Vampirs mit mehr Erfahrung. Destiny wäre ihm gefolgt, doch eine Bewegung im ersten Stock erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine junge Frau kletterte gerade auf die Feuerleiter, direkt über der Stelle, wo sich ein Vampir an die Hausmauer klammerte. Der Ruf der Kreatur bewirkte, dass ihr Gesicht verzückt strahlte und sie beide Arme ausstreckte, als wollte sie den Tod umarmen.

Destiny sah die Gier auf dem Gesicht des Vampirs und sein Frohlocken, als er rasch an dem Gebäude hinaufglitt wie eine dunkle Spinne, die nur aus Macht und dem Verlangen, Schmerzen zuzufügen, bestand. Destiny griff sofort an. Wie ein Pfeil schoss sie aus dem Nebel und ließ sich in dem Moment nach unten fallen, als der Vampir die Feuerleiter erreichte, überzeugt, sein Opfer erwischt zu haben. Im letzten Moment drehte sich das Wesen zu Destiny um. Seine abstoßenden Gesichtszüge waren verzerrt, seine Zähne gebleckt, seine Augen rot und funkelnd vor Hass. Er fuhr seine langen Krallen aus. Während er sich mit seinem reptilartigen Körper auf sie warf, riss ihr mit seinen Klauen die Haut auf und schlug seine Zähne in ihren Hals.

Sie wirbelten durch die Luft und hieben dabei gnadenlos aufeinander ein. Der Vampir bohrte seine Zähne immer tiefer in ihr Fleisch und schlug seine Klauen in ihren Körper. Er war viel stärker, als er aussah, und riss ihr die Haut auf, um sie zu schwächen. Destiny kämpfte unbeirrt weiter, indem sie ihre Faust durch Muskeln und Knochen stieß und mit ihrer Hand das geschwärzte Organ packte, das dieser Kreatur Leben gab. Sein Schrei war entsetzlich, obwohl er von Destinys Kehle gedämpft wurde, aus der er gerade ein Stück Fleisch herausreißen wollte. Sie stürzten zusammen nach unten, prallten an einem Vorsprung des Gebäudes ab und schlugen auf dem Boden auf. Destiny hielt ihre Beute grimmig entschlossen fest.

Nicolae! Sie schleuderte das Herz auf die Straße, damit der gezackte Blitz, den Nicolae schickte, es entzünden und in schwarze, übel riechende Asche verwandeln konnte. Das Geschöpf, das sie in seinen Klauen hielt, erschlaffte. Seine Krallen bohrten sich immer noch tief in ihren Arm, seine Zähne in ihren Hals. Destiny stieß den Vampir von sich und taumelte mit letzter Kraft auf die Straße. Ihre Beine gaben unter ihr nach, und sie setzte sich abrupt hin.

Destiny legte den Kopf zurück und starrte in den Himmel, auf die weißen Blitze und die Wolken, die wie rasend über ihrem Kopf wirbelten. Es war wirklich schön. Aber kalt. Zu ihrer Überraschung war ihr sehr kalt. Aus irgendeinem Grund konnte sie ihre Körpertemperatur nicht regulieren und zitterte am ganzen Leib. Sie versuchte, sich auf Nicolae zu konzentrieren, um zu sehen, ob er Hilfe brauchte, aber es kostete sie zu viel Mühe, den Kopf zu wenden. Es schockierte sie, festzustellen, dass sie flach auf dem Boden lag. Ihr Körper war seltsam schwer. Sie hätte Angst haben sollen, aber sie war nur ein wenig neugierig. Vor allem machte sie sich um Nicolae Sorgen.

In weiter Ferne, vielleicht aber auch in ihrem Kopf, hörte sie seine Stimme. Lass nicht los, Destiny. Lass nicht los! Ihr war nicht ganz klar, was er meinte. Sie hielt sich nirgendwo fest. Doch in seiner Stimme lag Verzweiflung, ein Tonfall, den sie noch nie an ihm gehört hatte. Deshalb versuchte sie weiter, sich auf ihn zu konzentrieren.

Pater tauchte über ihr auf. Seine aschfahlen Züge waren grimmig, und eine Andeutung seines schrecklichen Zorns zeigte sich in seinen blutunterlaufenen Augen. »Du hättest dich uns anschließen sollen. Jetzt wirst du einen qualvollen Tod sterben«, zischte er. Speichel lief aus seinem Mundwinkel und zerstörte seine zivilisierte Fassade.

»Das überrascht mich nicht. Mein ganzes Leben war eine einzige Qual.« Sie versuchte, ihm das zu sagen, doch ihre Kehle war wund und offen, und kein Wort kam über ihre Lippen. Als sie blinzelte, um den Dunstschleier vor ihren Augen zu verscheuchen, war Pater verschwunden. Vielleicht war er gar nicht da gewesen.

Nicolae und Vikirnoff ließen sich neben ihr nieder. Nicolae hatte einen roten Kratzer auf der linken Gesichtsseite und eine hässliche Wunde auf der Brust. Er nahm Destiny in die Arme und hob sie hoch, während Vikirnoff ihm Rückendeckung gab.

Destiny wünschte, sie hätte die Angst von Nicolaes Gesicht wischen können, aber kein Laut kam über ihre Lippen, und sie hatte nicht die Kraft, ihre Hand zu heben und über die Sorgenfalten zu streichen. Sie seufzte leise. Irgendetwas Schlimmes war passiert, doch es kümmerte sie nicht. Sie schloss einfach die Augen und ließ zu, dass Nicolae sie forttrug, so wie er es immer getan hatte, sich mit ihr hoch über die Stadt erhob und sie in eine Traumwelt brachte, in der es keine Ungeheuer gab.

Nicolae schaltete bewusst jedes Denken aus, als er über den Himmel zu seinem Versteck flog. Falls die Untoten die Verfolgung aufnahmen, würde Vikirnoff ihn und Destiny beschützen und ihre Feinde abwehren, während sie sich in Sicherheit brachten. Er hätte wissen müssen, dass sie so etwas tun würde, hätte vorhersehen müssen, dass sie nicht in der Lage sein würde, die Vorstellung zu verkraften, für sein Leben verantwortlich zu sein ... oder für seinen Tod.

Sie hat nichts dergleichen gedacht. Vikirnoff war die Stimme der Vernunft, die Nicolae hörte.

Zorn stieg in ihm auf und überschattete sein Herz und seinen Kopf. Woher willst du das wissen? Warum glaubst du, sie besser zu kennen als ich?

Weil ich nicht Tag und Nacht, jede wache Minute an sie denke. Ich habe gesehen, wie sie die Frau verteidigt hat. Sie hat den Vampir gejagt, weil sie es für ihre Pflicht hielt. Nicht mehr und nicht weniger. Vikirnoff ließ sich durch Nicolaes Aufbrausen nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen. Nichts schien ihn provozieren zu können. Nimm ihr das nicht weg.

Nicolae schämte sich sofort, dass er seine Furcht an seinem Bruder ausgelassen hatte. Tut mir leid. Ich wollte nicht so schroff sein.

Warst du das? Ist mir gar nicht auf gefallen.

Nicolae warf einen verstohlenen Blick auf das unbewegte Gesicht seines Bruders, als sie auf dem Boden landeten und gleich darauf tief ins Erdinnere eindrangen. Keine Spur von Lachen, kein Anzeichen von Tadel; Vikirnoff hatte den momentanen Zorn seines Bruders tatsächlich nicht bemerkt. Und das erfüllte Nicolae mit Sorge. Er legte eine Mischung aus seinem eigenen Speichel und heilender Erde auf Destinys Wunden und sang dabei leise. »Sie hat viel zu viel Blut verloren.« Er untersuchte die Verletzungen, hässliche Bisswunden und Risse, große, klaffende Löcher. Der Vampir hatte es darauf abgesehen, ihr so viel Schmerz wie möglich zuzufügen.

»Für unsere Zwecke ist das gut, Nicolae«, bemerkte Vikirnoff. »Statt sie sofort zu töten, haben sie versucht, ihren Tod hinauszuzögern und sie zu foltern.« Er holte Kräuter aus einem kleinen Lager, das sie in der unterirdischen Höhle angelegt hatten. Es dauerte nur Sekunden, die aromatischen Kerzen anzuzünden.

»Ihre Feinde kennen sie nicht.« Nicolaes Stimme war ruhig und sehr beherrscht. »Sie hat jeden Augenblick ihres Daseins Schmerzen gelitten. Das bedeutet ihr nichts.« Er blinzelte die Tränen zurück, die ihm unerwartet in die Augen stiegen, und reinigte behutsam Destinys Gesicht. Die Wunden an ihrem Hals und ihrer Schulter waren ein furchtbarer Anblick. »Das bedeutet ihr nichts«, wiederholte er. Seine Hände strichen sanft über die klaffenden Wunden an ihrer Kehle. Er beugte sich zu ihr vor und legte seine Lippen an ihr Ohr. »Bleib bei mir, Destiny. Diesmal werde ich dir folgen, wohin du auch gehst. Lass es hier sein, an diesem Ort, zu dieser Zeit. Bleib in dieser Welt.«

Nicolae löste seinen Geist von seinem Körper und verwandelte sich in ein schwereloses Instrument aus Licht und Energie. Viel schwerer war es, den emotionalen Sturm zu beruhigen, der in seinem Inneren tobte. Er musste ruhig und gefestigt sein, um sie zu retten und um ihre Wunden zu heilen. Das war die wichtigste Aufgabe seines Lebens. Ihr Fleisch war aufgerissen und zerfetzt, und wie immer hatte der Vampir ein Gift hinterlassen, das die Zellen rund um die Verletzungen rasch zerstören würde. Die Zersetzung breitete sich schnell aus.

Nicolae machte sich ans Werk, indem er schnell, aber gewissenhaft und umsichtig die Schäden an Arterien, Muskeln und Gewebe reparierte. Er achtete auf jedes Detail und trieb jeden Tropfen des Vampirgifts aus ihrem Körper. Es war keine leichte Aufgabe. Ihr unreines Blut machte es noch schwieriger wegen der Schäden, die es bereits in ihrem Körper angerichtet hatte, Schäden, die sie unaufhörlich quälten.

Zweimal glaubte Nicolae etwas in ihrem Blutkreislauf zu sehen, etwas mikroskopisch Kleines, einen Schatten, der vor seinen Heilkräften floh, aber als er sich noch einmal vergewissern wollte, konnte er keine Bakterien mehr entdecken.

Leicht schwankend fand er in seinen Körper zurück, das Gesicht blass vor Anspannung und dem Wissen, was Destiny jede Nacht erlitten hatte. Seine Augen begegneten denen seines Bruders. »Ich weiß nicht, wie sie das überlebt hat«, sagte er leise.

Vikirnoff hielt ihm sein Handgelenk hin. »Wir sind Karpatianer. Wir halten durch. Sie ist Karpatianerin und hat Ehrgefühl und Instinkte, die so alt sind wie die Zeit. Es hat kaum etwas zu bedeuten, dass ein Vampir sie umgewandelt hat. Er hätte nicht so erfolgreich sein können, wenn sie dem Licht nicht so nahe wäre. Du denkst mit dem Herzen, Nicolae.«

»Und mein Herz bricht gerade.« Nicolae beugte sich über das dargebotene Handgelenk seines Bruders und trank in tiefen Zügen, um neue Kraft zu bekommen und diese Kraft an seine Gefährtin weiterzugeben.

Vikirnoff schüttelte den Kopf. »Einer von euch muss ganz bleiben. Sie sucht einen Weg zu dir. Mach nicht den Fehler, sie im Stich zu lassen, weil dein Mitleid zu groß ist.«

Nicolae spürte, wie das uralte Blut durch seine Adern strömte. Was sollte er darauf schon erwidern? Vikirnoffs Worte waren ein zweischneidiges Schwert. Schmerzhaft, aber logisch. Voller Weisheit. Solange Nicolae zurückdenken konnte, hatte Vikirnoff so gesprochen. Nachdem er die Wunde am Handgelenk seines Bruders sorgfältig mit Speichel geschlossen hatte, zog er Destiny an sich.

Er nahm sie auf seinen Schoß, öffnete sein Hemd und presste ihren Mund auf seine Haut. Du wirst nehmen, was dir gern gegeben wird, damit wir beide am Leben bleiben!, befahl er ihr mit der Autorität des uralten Karpatianers, ihres Gefährten. Und sie gehorchte. Ihre Lippen drängten sich sanft, fast sinnlich an seine Haut. Er schloss die Augen, als ein glühend heißer Schmerz Blitze durch seine Blutbahnen jagte und sich jeder Muskel in seinem Körper anspannte. Instinktiv zog er sie noch enger an sich und legte schützend die Arme um sie.

Er blickte zu seinem Bruder auf. »Wie entfernen wir das unreine Blut des Vampirs? Bist du in all deinen Jahren schon einmal mit diesem Problem konfrontiert worden?«

Vikirnoff schüttelte langsam den Kopf. »Destiny ist kein Vampir, also muss es eine Möglichkeit geben. Ich denke, das Blut muss verdünnt werden, so wie du es getan hast. Sie hat mehr davon verloren, als sie sich leisten kann. Wir werden ihr beide von unserem alten Blut geben und die Heiler verständigen. Vielleicht wäre die Erde unserer Heimat eine Hilfe.«

Nicolae legte seine Stirn behutsam an die von Destiny. »Sie ist eine Kämpferin, Vikirnoff. Wenn jemand das überwinden kann, dann sie.«

»Du hast nichts dagegen, dass ich ihr mein Blut gebe?«, fragte Vikirnoff freundlich.

Nicolae zuckte mit seinen breiten Schultern und betrachtete das Gesicht der Frau, die er liebte. »Ich werde ihr geben, so viel ich kann. Du wirst mein Blut ersetzen müssen, wie du es schon oft getan hast. Es ist ein und dasselbe. Sie braucht es, und wir müssen ihr helfen.« Seine Finger tauchten in Destinys Haar und schlossen sich fest um die seidigen Strähnen. Er wollte sie von hier wegbringen, in seine Heimat, wo die Heiler und die Erde eine Chance hatten, ihre Magie wirken zu lassen.

Du warst immer meine Magie. Ich brauche nichts anderes. Ihre Stimme, die aus dem Nichts kam, streichelte sein Inneres wie zarte Schmetterlingsflügel. Sein Magen schnürte sich zusammen, und sein Herz machte einen Satz.

Wird auch langsam Zeit, dass du es zugibst.

Jetzt bilde dir bloß nichts ein! Ich finde dich immer noch sehr lästig.

Das klang so viel mehr nach seiner Destiny, dass er erleichtert aufatmete. Er spürte, wie sie mit ihrer Zunge die winzigen Bisswunden auf seiner Brust verschloss. Du hast nicht annähernd genug genommen, um deinen Blutverlust auszugleichen, Destiny.

Ich spüre, dass du schwächer wirst. Geh auf die Jagd. Ich kann warten. Ein jäher Schmerz ließ ihren Körper erschauern, ein sicheres Anzeichen, dass sie wach wurde. Ihre Wimpern flatterten, zwei dichte Halbmonde, die wie zarte gefiederte Fächer auf ihrer Haut lagen.

Nicolae beugte sich vor und strich mit seinen Lippen über ihre Augen, bevor er einen Pfad von Küssen über ihre Wangenknochen zog, an ihrer kleinen Nase entlang bis zu ihrem weichen, geschwungenen Mund.

Du nutzt die Situation aus. Ich bin zu schwach, um mich zu wehren.

Nein, bist du nicht. Du willst dich gar nicht wehren.

Vielleicht hast du recht. Aber wenn es so ist, dann nur, weil du mich hypnotisiert hast, als ich bewusstlos war. Es hat nichts mit dem Duft deines Körpers oder mit dem Klang deiner Stimme zu tun. Auch nichts mit deinem vollkommenen Mund.

Nicolae neckte ihre Lippen mit seinen und streichelte sie zärtlich und ausdauernd, bis sich ihre Lippen bewegten, weicher wurden und sich öffneten. Er fing ihren Atem ein und gab ihr seinen.

Destiny schnappte nach Luft, unterdrückte ein Stöhnen, vergrub ihr Gesicht an seiner Brust und verhielt sich ganz still. »Tut mir leid, es ist mir einfach rausgerutscht. So schlimm ist es nicht.« Die Schwäche war fast noch ärger als die Schmerzen.

Er fuhr mit einer Hand zärtlich durch ihr Haar. »Ich weiß, dass es wehtut, Destiny. Du musst unter die Erde gehen und dich von ihr heilen lassen. Vikirnoff und ich passen schon auf deine Leute auf.«

»Du bist selbst geschwächt. Du hast mir zu viel von deinem Blut gegeben.« Ihre Stimme war kaum zu hören, nicht einmal mit seinem scharfen Gehör. Sie öffnete die Augen und betrachtete sein blasses Gesicht. »Such dir Nahrung.«

In den Tiefen ihrer Augen lag zu viel Schmerz. »Ich dachte, ich halte dich einfach noch eine Weile im Arm. Wer weiß, ob ich je wieder Gelegenheit dazu haben werde. Zum ersten Mal in deinem Leben bist du kooperativ.«

Ein kleines Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Ach ja?« Sie zuckte zusammen, als sie sich anders hinlegte, um ihn besser anschauen zu können. »Ich wette, ich sehe toll aus.«

Seine Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Du siehst wunderschön aus.«

»Ich wusste, dass du das sagen würdest. Du bist so ein Schwindler. Geh bitte, und such dir Nahrung. Ich will heute Nacht nicht mehr gegen Vampire kämpfen, und du bist nicht in der Verfassung, Schläge auszuteilen.«

»Du könntest dich nicht einmal aus einer Papiertüte befreien«, behauptete er.

»He! Ich habe meinen Vampir zerstört«, protestierte sie leise und legte eine Hand an ihre wunde Kehle, als bereitete es ihr Schmerzen zu sprechen. »Was hast du vorzuweisen?«

»Ich habe zwei von ihnen erledigt. Vikirnoff hat seine außer Gefecht gesetzt, obwohl er das nicht hätte tun sollen.« Nicolae warf seinem Bruder einen strengen Blick zu.

»Muss das sein? Ist das so eine Sache unter Männern, oder was? Ich gebe gern zu, dass ich nicht viel über Männer weiß, aber es ist wirklich blöd.«

Nicolae beugte sich näher zu ihr und nahm ihre Hand von ihrer Kehle, weil er es nicht ertragen konnte, wie hilflos ihre Finger darüberflatterten. Sie sah so verletzlich aus mit ihrem blassen Gesicht und ihrem geschundenen Körper. »Was meinst du?«

»Dieses Konkurrenzdenken. Dem anderen immer eine Nasenlänge voraus sein zu müssen. Wenn ich einen töte, musst du zwei töten. Der große Jäger, der seine Muskeln spielen lässt. Das nervt.«

»Du fängst doch nicht etwa an zu nörgeln, bloß weil ich dir als Jäger überlegen bin?« Er zog ihre Fingerspitzen über sein Kinn, einfach weil er sich nach ihrer Berührung sehnte und weil er ihr zeigen wollte, was er nicht mit Worten ausdrücken konnte. »Das hätte ich nicht von dir gedacht.«

»Man kann es wohl kaum als Nörgeln bezeichnen, wenn ich darauf hinweise, wie nervtötend du sein kannst. Und du bist mir nicht überlegen, du hast bloß mehr Glück gehabt.« Ihre Stimme war rau und klang wie aus weiter Ferne, doch sie war froh, überhaupt sprechen zu können.

»Ich erwähne es nur ungern. Aber ich bin nicht derjenige, der geheilt werden muss.«

»Du erwähnst es aber doch, und zwar laut und deutlich. Ich bin sicher, dein Bruder hat dich gehört.« Ihre unglaublich langen Wimpern senkten sich über ihre einzigartigen Augen. Sie wandte das Gesicht, sodass sie mit ihren Lippen seinen Handrücken streifte. »Wusstest du, dass es Gesetze gegen Stalker gibt?«

Er spürte die zarte Berührung ihrer weichen Lippen am ganzen Leib. Es war nur der Hauch einer Berührung, mehr nicht, nicht einmal eine richtige Liebkosung, aber sein Herz schlug trotzdem einen Salto. »Ich weiß nur, dass du mir wohl kaum vorwerfen kannst, dich zu verfolgen. Du hast dich an mich gewandt. Ich bin lediglich deinem Ruf gefolgt.« Was er sagte, klang durchaus vernünftig. Seine Fingerspitze zog ihren geschwungenen Mund nach, ihre volle Unterlippe, und ein Schauer durchlief ihren Körper. Und den seinen.

Du hast den faszinierendsten Mund, den ich je gesehen habe.

Was ist daran so faszinierend? Es ist ein Mund wie jeder andere.

Ich glaube, es ist deine Unterlippe, die du immer so schön zum Schmollen spitzt.

Jetzt weiß ich, dass du verrückt bist. Ich schmolle nie und meine Unterlippe auch nicht.

»Da bin ich anderer Ansicht.« Die reine Freude, die ihn erfüllte, schwang in seiner Stimme mit. Sie war am Leben, seine tapfere Destiny!

Wieder öffnete sie die Augen und sah ihn direkt an. »Und was machen wir jetzt, Nicolae? Ich habe mein Möglichstes getan, um dich zu beschützen, aber du wolltest ja einfach keine Vernunft annehmen.«

Er zog ihre Hand an seine Lippen und strich mit den Zähnen zart über ihre Haut. »Ist es das, was ich falsch gemacht habe? Ich hätte gehorchen sollen?«

»Zumindest zuhören.« Ihre Finger berührten den dunklen Bartschatten an seinem Kinn, eine schwache, unsichere Berührung, die ihm mehr gab, als ihre Worte es je vermocht hätten. »Ich will, dass du in Sicherheit bist, Nicolae. Das ist mir sehr wichtig.«

»Ich bin in Sicherheit, Destiny«, beruhigte er sie. Seine Kehle war wie zugeschnürt. »Solange ich dich habe, solange wir zusammen sind, bin ich in Sicherheit.«

Vikirnoff räusperte sich und lenkte damit ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er sah seinen Bruder an. »Ihr seid nicht aneinander gebunden, Nicolae. Du bist erst dann in Sicherheit, wenn du sie nach der Art unseres Volkes an dich gebunden hast.«

Ein Ausdruck von Ungeduld huschte über Nicolaes dunkle, sinnliche Züge. Bevor er etwas sagen konnte, legte Destiny ihm ihre Hand auf den Mund und schaute seinen Bruder fragend an. »Diese Worte gehen ihm ständig durch den Kopf diese Sache mit seiner Gefährtin.« Insgeheim fand sie die rituellen Worte ebenso schön wie erschreckend. »Wie können uns Worte aneinander binden oder Nicolaes Sicherheit garantieren?«

Nicolaes kräftige Zähne knabberten an ihrer Handfläche. Sie japste und starrte ihn erzürnt an. »Darüber musst du dir jetzt nicht den Kopf zerbrechen, Destiny. Wir haben genug Zeit.«

»Ich kann mich nicht erinnern, mit dir gesprochen zu haben«, gab sie von oben herab zurück. »Mit dir zu reden, hat überhaupt keinen Sinn, wenn du in deiner lächerlichen Alphatier-Rolle steckst. Also wirklich! Alles, woran du denkst, ist, das kleine Frauchen zu beschützen. Ich spreche im Moment mit deinem Bruder.« Sie versuchte, das Kinn zu heben, aber es tat so weh, dass sie einen Schmerzensschrei unterdrückte und sich damit zufriedengab, ihn mit Blicken zu durchbohren.

Nicolaes Herz schmolz unwiederbringlich dahin. Sie war so tapfer und so mutig. Zerschlagen, geschunden und mit zerfetztem Fleisch lag sie in seinen Armen. Schmerzen beherrschten ihren ganzen Körper, und die Beschmutzung durch den Vampir stand zwischen ihnen, aber trotzdem hielt sie Vikirnoffs Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr ging es vor allem um Nicolaes Sicherheit. Er las es in ihren Gedanken und sah ihre eiserne Entschlossenheit, genauso aber ihre Angst vor Vikirnoffs Antwort.

»Er muss dich an sich binden, damit du sein Halt bist. Sowie die Worte einmal ausgesprochen sind und das Ritual vollendet ist, kann er nicht mehr zum Vampir werden. Es sei denn, du stirbst. Du wirst das Licht in seiner Dunkelheit sein.«

Destiny starrte Vikirnoff ein paar Herzschläge lang an. Ein scharfer Laut entfuhr ihr, etwas zwischen bitterem Lachen, Hysterie und Tränen. »Bist du verrückt? Ich soll das Licht in seiner Dunkelheit sein? Hast du überhaupt eine Ahnung, was du da sagst? Nicolae ist mein Licht. Mein einziges Licht.«

»Destiny.« Vikirnoffs Stimme blieb unverändert ruhig und vernünftig. »Du hast deine ganze Existenz dem Schutz anderer gewidmet. Obwohl du furchtbar zugerichtet bist, gilt deine erste Sorge Nicolae. Das ist nicht das Verhalten von jemandem, der in Finsternis lebt.«

»Nicolae lebt dafür, andere zu beschützen.«

»Er ist dazu erzogen worden. Es ist sein Vorrecht und seine Pflicht. Es ist seine Art zu leben. So war es bei dir nicht.«

»Du kannst nicht sehen, was in meinem Inneren ist.« Sie wandte sich von ihm ab, nur um Nicolae zu finden. Nicolae, der immer da war, in ihrem Geist und in ihrem Herzen. Er hielt sie sicher und geborgen in seinen Armen.

»Nicolae sieht, was in dir ist. Er ist kein Mann, der sich von einer Frau leicht um den Finger wickeln lässt. Er ist ein Jäger vom alten Stamm und jagt die Untoten. Ein gefährliches Raubtier, das mehr zerstören kann, als du dir je träumen lassen würdest. Du könntest ihn nie täuschen. Nie, Destiny. Du bist genau das, was er in dir sieht. Sein Licht.«

»Hast du vergessen, dass du uns daran erinnern musstest, dass ich unrein bin?«

»Dein Blut allein macht dein Wesen nicht aus. Es fließt lediglich in deinen Adern. Wenn ein Mensch ein Krebsgeschwür in seinem Körper hat, macht ihn das zu einem unreinen Wesen? Lass nicht zu, dass dieser Vampir noch länger dein Leben bestimmt. Du bist nicht sein Besitz. Er ist seit Langem von dieser Welt verschwunden. Lass die Toten ruhen.«

Destiny ließ langsam ihren Atem heraus. Ihr Blick kreuzte den von Nicolae, und sofort war sie verloren. Er musste damit aufhören, sie so anzuschauen. Er musste es einfach. Bevor sie den Impuls unterdrücken konnte, rieben ihre Fingerspitzen die Sorgenfalte von seiner Stirn. Sie konnte eher eigene Schmerzen ertragen als seine besorgte Miene.

»Du weißt, dass er recht hat«, sagte Nicolae sanft.

Sie verdrehte die Augen. »Du musstest es unbedingt noch einmal betonen, was? Konntest nicht einfach den Mund halten? Total nervig bist du.« Wenn sie keine Witze machte, würde sie anfangen zu weinen, und das wäre unerträglich demütigend. Dieser Mann hatte sie in ihren schlimmsten Momenten erlebt. Er musste sie nicht noch mit tränenverschmiertem Gesicht und roter Nase sehen.

Zum ersten Mal schien alles einen Sinn zu ergeben. Vikirnoff hatte ihr tatsächlich etwas gegeben, woran sie festhalten konnte. Ihr Blut bestimmte nicht, wer oder was sie war.

Sie schaute durch die Höhle zu Nicolaes Bruder. »Danke für das, was du getan hast, Vikirnoff. Danke, dass du mit uns gegen die Vampire gekämpft hast. Ich weiß, was es für dich bedeutet, wenn du töten musst. Wenn du nicht bei uns gewesen wärst, hätten viele Menschen leiden müssen. Du siehst übrigens auch ein bisschen blass aus. Hast du mir Blut gegeben?«

Vikirnoff deutete mit einer Kopfbewegung auf Nicolae. »Indirekt. Ich habe meinem Bruder von meinem Blut gegeben.« Es war leicht zu erkennen, dass Destiny nur mit Mühe durchhielt.

»Pater scheint all seine Kinderchen zu verlieren. Sie sterben wie die Fliegen. Ich bezweifle, dass er genug zusammentrommeln kann, die sich auf die Suche nach uns machen. Ihr zwei könnt auf die Jagd gehen und neue Kraft tanken. Ich komme auch allein zurecht.« Destiny versuchte, sich aus Nicolaes Armen zu winden. Die Bewegung ließ sie aufstöhnen. »Beachtet das gar nicht. Es ist mir unerlaubt entschlüpft.« Sie hatte sich kaum bewegt, und trotzdem fühlte sie sich völlig matt.

Nicolae wechselte über ihren Kopf hinweg einen Blick mit seinem Bruder. Ganz offensichtlich kommunizierten die beiden miteinander, aber Destiny war viel zu erschöpft, um Nicolaes Gedanken zu lesen. Die Schmerzen waren beinahe mehr, als sie ertragen konnte. Diesmal waren ihre Verletzungen schwer, und die Wunden brannten, wie immer, wenn sie ihr von einem Vampir zugefügt worden waren.

Vikirnoff machte eine altmodische Verbeugung. »Ich verlasse euch jetzt, um jagen zu gehen.« Erlöste sich zu einem feinen Dunstschleier auf und stieg durch den engen Kamin, der aus der Höhle führte, nach oben auf.

Destiny musterte Nicolaes entschlossene Miene und brachte ein zögerndes Lächeln zustande. »Du suchst wohl Streit, oder? Aber dazu fehlt mir die Energie. Ich werde mich nicht beschweren, wenn du bleibst. Na schön, nicht allzu sehr. Ich werde mit keinem Wort erwähnen, wie blass du bist. Oder dass ich deinen Hunger fühlen kann. Oder dass du einfach albern bist.«

Er brachte sie mühelos zum Schweigen; er raubte ihr den Atem, die Sprache und nahm ihr die Fähigkeit, einen klaren Gedanken zu fassen. Nicolae beugte sich einfach nur vor und sah ihr tief in die Augen. Sie sah das Begehren in seinem Blick, das absolute Verlangen. Ganz langsam neigte er den Kopf, beobachtete sie und nahm ihr Bild in sich auf. Sein langes Haar, das vom Kampf noch zerzaust war, fiel ihm über die Schultern und streifte ihre nackte Haut.

Ihr Herz machte einen Satz, und ihr Inneres zerfloss. Flüssiges Feuer jagte durch ihre Adern und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Nichts zählte mehr. In ihrer Welt gab es nur noch Nicolae. Seine Arme schlossen sich fest um sie und pressten sie an sich, aber trotzdem achtete er darauf, ihr nicht wehzutun.

Und dann senkte sich sein Mund auf ihren, und ihre Welt stand Kopf, jetzt und für alle Zeiten.