Kapitel 11

In dem Moment, als sie MaryAnns Büro betrat, spürte Destiny die Schwingungen von etwas Bösem in der Luft, Erschrocken blieb sie stehen und legte instinktiv eine Hand an ihren Hals. Ihre Gedanken überschlugen sich. Dann überprüfte sie rasch die drei Räume, aus denen MaryAnns Arbeitsplatz bestand.

MaryAnn saß ruhig hinter ihrem Schreibtisch, auf ihrem Gesicht ihr übliches freundliches Lächeln, als Destiny eintrat. Und es klang ganz selbstverständlich, als sie zu der vertrauten Anrede überging. »Ich hatte gehofft, dass du heute Abend vorbeischauen würdest«, sagte MaryAnn und stand auf. Ihre dunklen Augen waren sanft und gütig. »Komm doch rein, Destiny.« Sie deutete auf einen großen, gemütlichen Sessel. »Setz dich hin, und sprich mit mir.«

Destinys Herz hämmerte laut, als sie im Büro sorgfältig nach verborgenen Fallen Ausschau hielt. Gleichzeitig durchleuchtete sie MaryAnn, in der Hoffnung, nichts Ungewöhnliches zu finden. Stattdessen fand sie leere Stellen im Gedächtnis der Frau. Destinys Unruhe wuchs. MaryAnn sah aus wie immer -liebenswert, freundlich, mitfühlend.

Die Untoten haben MaryAnn gefunden, Nicolae. Einer war hier in ihrem Büro. Warum hast du es durch euer Blutsband nicht gespürt? Leiser Vorwurf mischte sich in die Furcht, die in ihrer Stimme mitschwang. Und noch etwas, stellte sie betroffen fest: die Bitte um Hilfe.

»Ich glaube, ich werde allmählich eine von diesen hirnlosen Frauen, die sich einbilden, sie können sich ohne die Hilfe eines großen, starken Mannes nicht mal die Schuhe zubinden«, verkündete Destiny verärgert, als ihr bewusst wurde, dass sie auf Nicolaes Hilfe zählte, obwohl sie früher immer der festen Überzeugung gewesen war, sich nur auf sich selbst verlassen zu können.

Das grüne Feuer, das aus Destinys Augen sprühte, faszinierte MaryAnn. Ein Lächeln breitete sich langsam auf ihrem Gesicht aus. »Und ich dachte schon, mir steht ein langweiliger Abend bevor. Komm, jetzt setz dich doch. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass du nicht imstande bist, dir ohne männliche Hilfe die Schuhe zuzubinden. Wer ist es denn? Nicolae? Ist es ihm doch noch gelungen, dein Interesse zu wecken?«

»Kling bitte nicht so, als wärst du maßlos erfreut darüber.« Destiny trat näher, lehnte sich an die Schreibtischkante und schaute in MaryAnris dunkle, ausdrucksvolle Augen. In ihnen waren keine Schatten zu erkennen, und keine Bisswunden oder andere Verletzungen entstellten ihren glatten Hals.

Ich fühle seine Gegenwart, obwohl er versucht hat, sie zu verbergen. Er ist in ihren Geist eingedrungen, und er hat ihr einen Befehl gegeben. Destiny spürte, dass Nicolae ganz in der Nähe war.

»Ich soll mich nicht freuen, wenn du mich vor einem eintönigen Abend mit einem Haufen Papierkram gerettet hast? Du brauchst dich nie um Papierkram zu kümmern, oder?«

Destiny grinste. »Nein. Zum Glück ist das nicht erforderlich, wenn man Vampire jagt.«

»Nicht mal eine Genehmigung? Man sollte meinen, dass du in diesen bürokratischen Zeiten auf jeden Fall eine Genehmigung und einen Jagdschein brauchst.«

Destinys Lachen sprudelte hervor und drängte ihre Furcht in den Hintergrund. Nicolae war unterwegs, und er hatte viel mehr Erfahrung als sie. Er würde wissen, was zu tun war, um MaryAnn zu schützen. »Ich glaube eher, dass man Vampire auf die Liste gefährdeter Arten setzen und uns die Jagd auf sie verbieten würde, wenn etwas davon bekannt würde«, meinte Destiny.

Die Tür wurde ohne auch nur die Andeutung eines Klopfens geöffnet, und Nicolae kam hereingeschlendert. Er sah so fantastisch aus, dass es sie schon wieder ärgerte. »Wenn man vom Teufel spricht...«

Nicolae beugte sich vor und küsste Destiny auf den Nacken. »Sie ist total verrückt nach mir«, versicherte er MaryAnn.

Destiny verdrehte die Augen. »Sie ist absolut nicht verrückt nach ihm«, widersprach sie. »Sie mag ihn nicht einmal.«

Nicolae drückte sich kurz an Destiny. Es war nur ein ganz kurzer Körperkontakt, aber ihr lief sofort ein Schauer über den Rücken.

»MaryAnn, ich konnte einfach nicht fernbleiben«, sagte er, indem er sich an die andere Frau wandte. Als sie aufstand, nahm er ihre Hand und beugte sich galant darüber.

»Siehst du?« Destiny zog die Augenbrauen hoch. »Ist er nicht furchtbar schnulzig?«

MaryAnn lachte leise. »Ich weiß nicht, Destiny. Mir gefallen seine Manieren ganz gut.« Sie entzog Nicolae ihre Hand und schaute ihn an. »Was führt dich zu mir - abgesehen von dem Wunsch, Destiny auf die Palme zu bringen?« Plötzlich erstarrte sie und legte abwehrend eine Hand an ihre Kehle. »Stimmt etwas nicht?«

»Ermutige ihn nicht noch, MaryAnn. Er ist sowieso schon unglaublich eingebildet.« Destiny schnitt ein Gesicht. Sie war entschlossen, den sorgenvollen Ausdruck aus den Zügen ihrer Freundin zu vertreiben.

»Ich habe mich gefragt, ob du vor kurzem Besuch hattest, MaryAnn«, erklärte Nicolae beiläufig und wählte ebenfalls die vertraute Anrede. »Destiny und ich befassen uns mit dieser Sache, die John Paul und Martin betrifft.«

»Ach, das ist gut, Nicolae. Ich habe mir schon Sorgen um sie gemacht.« MaryAnn machte ein verwirrtes Gesicht und rieb sich die Schläfen, als pochten sie plötzlich. »Jemand war vorhin hier, kurz bevor du gekommen bist, Destiny. Ein sehr netter Herr. Er hat mir viele Fragen gestellt und schien vor allem an unserem Frauenhaus interessiert zu sein.«

Destiny wechselte einen beunruhigten Blick mit Nicolae. Sie hat kein geistiges Bild des Mannes im Kopf. Sie erinnert sich an das Gespräch, aber nicht an sein Aussehen. Er scheint nicht nach dir oder mir gefragt zu haben. Nicolae nickte ihr kaum merklich zu, um sie zu warnen, still zu bleiben, während er die volle Macht seiner Stimme und seines Blickes auf MaryAnn richtete. »Bist du diesem Mann schon mal begegnet?«

MaryAnn furchte die Stirn. »Ich glaube nicht, Nicolae. Ich kann mich nicht erinnern - ist doch komisch, oder? Aber ich mache mir immer Notizen. In meinen Notizen muss etwas über ihn stehen. Er wollte irgendetwas ... « Wieder brach sie ab und sah noch verwirrter als vorher aus.

Sie zeigt die klassischen Anzeichen einer Gedächtnisbeeinflussung. Jedes Mal, wenn sie versucht, sich an ihn zu erinnern, hat sie Schmerzen. Nicolae bedeutete MaryAnn, sich wieder zu setzen, und strich mit seinen Fingern über die Schreibtischplatte. Wie gebannt folgte sie mit den Augen der hypnotischen Geste.

»Was hat er denn gewollt?« Nicolae klang nur mäßig interessiert, aber hinter dem samtweichen Klang seiner Stimme verbarg sich ein eiserner Druck.

Destiny warf ihm einen finsteren Blick zu. Sie kann sich nicht erinnern. Es tut ihr weh, an ihn zu denken. Sie trommelte mit den Fingernägeln warnend auf die Tischplatte.

Nicolae beugte sich vor und legte beruhigend eine Hand auf Destinys nervöse Finger. Du weißt, dass es notwendig ist. Ich werde sie vor Schnwrzen bewahren, meine Kleine. Übrigens, ich sehe dich schon mit unseren Kindern vor mir. Ich würde nie wagen, ihr Verhalten zu korrigieren.

Destinys Herz klopfte laut, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Von Kindern war bisher nicht die Rede, zischte sie. Du hast nie ein Wort über Kinder verloren. Panik lag in ihrer Stimme und in ihren Augen.

MaryAnn lehnte sich in ihren Stuhl zurück, aber keiner der beiden schaute zu ihr. Ihre Blicke ruhten unverwandt aufeinander.

Es wäre ein völlig natürlicher Vorgang, würde ich meinen. Nicolae löste Destinys Finger von der Tischkante und legte ihre Handfläche auf sein Herz. Allmählich wird mir klar, dass du mehr Angst vor ganz natürlichen Dingen als vor den Untoten hast.

Destiny wagte nicht, darauf zu antworten. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Nicolae war in ihrem Bewusstsein und las jeden ihrer Gedanken. Er wusste, dass die Vorstellung von Heim und Herd und Familie für sie erschreckend war. Ihre Augen blitzten ihn an. Wehe, er lachte sie aus!

MaryAnn rettete Nicolae unwissentlich. »Der Mann hat jemanden gesucht. Eine Frau mit einer besonderen Gabe. Er wollte, dass ich ihn anrufe, falls sie zufällig hier auftaucht. Sie ist in Seattle gesehen worden, aber jetzt ist sie verschwunden.« MaryAnn öffnete eine Schublade, nahm eine Visitenkarte heraus und reichte sie Nicolae.

Er beugte sich dicht zu Destiny, damit sie mit ihm lesen konnte. So dicht, dass sie seinen männlichen Duft einatmete und seine Haut an ihrer spürte. Ihre Zunge fuhr über ihre plötzlich trockene Unterlippe, eine Geste, die Nicolaes Aufmerksamkeit nicht entging. Destiny riss ihren Blick von seinen geschwungenen Lippen los und betrachtete die Karte.

»Das Morrison Center für parapsychologische Phänomene«, las sie laut. »Hast du schon mal davon gehört, Nicolae? Oder du, MaryAnn?« Sie drehte die Karte um. »Sie haben in mehreren Städten Adressen, jedoch nicht hier in Seattle. Warum sollten sie einer Frau in ein Heim für misshandelte Frauen folgen? Ist sie vor ihnen weggelaufen?«

»MaryAnn«, sagte Nicolae. »Der Mann hat dich gebeten, ihn unter dieser Nummer anzurufen, falls die Frau herkommen und um Hilfe bitten sollte?«

MaryAnn lächelte arglos wie ein Kind und nickte. »Es war seltsam. Hinterher habe ich mich gefragt, warum ich nicht an Destiny gedacht habe. Sie entspricht nicht der Beschreibung, aber sie hat besondere Fähigkeiten. Ich fand es merkwürdig, dass sie mir gar nicht in den Sinn gekommen ist.«

Der Schutz hat gewirkt, stellte Nicolae erleichtert fest. In seiner Stimme schwang ein Anflug von Arroganz mit. Destiny warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. Ihr war bewusst, dass es viele Dinge gab, die Nicolae beherrschte und sie nicht. Seine Hand strich mit einer freundschaftlichen Geste über ihren Arm. Ich bin einer von den uralten Karpatianern, mein Liebes, und ich bin dein Beschützer. Es gibt einiges, was ich im Lauf der Jahrhunderte gelernt habe.

Darauf möchte ich wetten.

»Erzähl uns etwas über die Frau, die dieser Mann sucht, MaryAnn«, bat Nicolae.

Wieder runzelte MaryAnn die Stirn. »Er hat mir ein Foto von ihr gegeben, einen Computerausdruck. Deshalb wusste ich, dass es nicht Destiny sein konnte.« Sie kramte in zwei Schubladen, offenbar verwirrt, weil sie sich nicht erinnern konnte, wo sie das Foto hingelegt hatte. Schließlich fand sie es zwischen zwei beschriebenen Seiten in ihrem Notizbuch. »Das ist die Frau. Kennt ihr sie?« Trotz Nicolaes eindringlichen Befehls händigte MaryAnn ihm das Foto nur zögernd aus.

Die Frau hätte alles von zwanzig bis Mitte dreißig sein können. Sie hatte eine üppige Figur und eine Fülle dunkler Haare, die in einer Kaskade offener Ringellocken über ihre Schultern fielen. Mit einem gehetzten, angstvollen Ausdruck in den Augen starrte sie in die Kamera. Destiny fühlte sich der Fremden sofort sehr nahe. Sie wusste, was es hieß, allein zu sein und gejagt zu werden. Wovor die Frau auch wegrannte - vor einem gewalttätigen Freund oder Ehemann vielleicht jetzt war ihr ein Vampir auf den Fersen, und damit hatte sie weit größere Probleme.

»Welche Gabe hat sie?«, wollte Destiny wissen.

»Sie kann einen Gegenstand in die Hand nehmen und dadurch erfahren, wer ihn berührt hat und was damit verbunden ist. Eine wundervolle und sehr seltene Gabe.«

Er hat sie gefragt, ob sie andere Leute mit dieser Fähigkeit kennt. Warum interessiert sich der Vampir mehr für die Gabe als für die Frau, die diese Begabung hat?

Destiny spürte Nicolaes Ratlosigkeit. Die Vampire agierten nicht so, wie es zu erwarten gewesen wäre.

MaryAnn strich sich ihr Haar aus dem Gesicht und lächelte sie an. »Velda kann die Aura von Leuten sehen. Habt ihr das gewusst? Wir reden nicht darüber, weil uns niemand glauben würde, aber sie weiß über mich Bescheid und ich über sie.«

»Was weiß sie über dich, MaryAnn ?«, fragte Destiny neugierig. »Welche Gabe besitzt du?«

Sie lächelte unschuldig, immer noch ohne den geringsten Argwohn und nach wie vor völlig in Nicolaes Bann. Ihr inneres Strahlen war nicht zu übersehen. »Es ist nur eine kleine Gabe und für andere kaum zu erkennen, doch sehr nützlich, wenn eine Klientin Hilfe braucht. Ich weiß, wann eine Frau die Wahrheit sagt. Wie die arme Helena. John Paul hat sie wirklich angegriffen, das weiß ich. Und ich weiß, dass sie ihn mehr als alles andere liebt. Wenn Frauen herkommen, um Zuflucht zu suchen, überprüfe ich sie. Mehr als einmal waren Frauen aus den falschen Gründen hier. Und was noch schlimmer ist: Es hat einige gegeben, die für Geld hier herumspioniert haben, um herauszufinden, wer sich im Frauenhaus aufhält.«

»Dieser Mann, der hier war, MaryAnn ... wie lauteten seine Instruktionen?«, hakte Nicolae ruhig nach.

Wieder runzelte sie die Stirn. »Ich soll ihn sofort anrufen, falls sie herkommt. Dagegen lässt sich nichts einwenden. Er will ihr helfen. Das Forschungszentrum verfügt über Geld und Therapeuten, und man ist bereit, sie vor jedem zu verstecken, der ihr schaden könnte. Er sagt, dass ihre Gabe sehr wertvoll ist und dieses Institut alles tun wird, um ihr zu helfen. Er glaubt, dass sie versucht, auf Umwegen nach Südamerika zu kommen.«

Mehr Informationen kann sie uns nicht geben. Ich finde nicht den leisesten Hinweis darauf wie dieser Vampir aussieht.

Pater? Könnte es Pater sein? Destiny starrte das Gesicht auf dem Foto an, die gehetzten Augen. Was können wir für diese Frau tun ?

Sie muss gefunden und beschützt werden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Sie wird gefunden werden.

Ein schrecklicher schwarzer Stein lastete schwer auf Destinys Brust. Eifersucht, scharf und erschreckend und völlig unerwartet. Sie unterdrückte das fremdartige Gefühl, rang um ihre Selbstbeherrschung und achtete darauf, Nicolaes scharfem Blick nicht zu begegnen.

Ich kann dich nicht verlassen, Destiny. Ich würde dich nicht verlassen. Vikirnoff muss diese Frau finden und beschützen. Sie muss in unsere Heimat gebracht und unter den Schutz unseres Prinzen gestellt werden. Nicolae rahmte Destinys Gesicht mit seinen Händen ein und beugte sich zu ihr, um sie ausgiebig zu küssen.

Und dann war er weg und ließ sie allein mit MaryAnn zurück, die hinter ihrem Schreibtisch saß. Eine Augenbraue war hochgezogen, und ein schwaches Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Sie fächelte sich Luft zu. »Oh, Mann!« Von Nicolaes Druck, über den Fremden zu sprechen, befreit, war MaryAnn wieder ganz ihr altes, unbefangenes Selbst. »Worüber haben wir noch geredet? Ihr zwei wart so verdammt heiß, dass mir das Gehirn verschmort ist.«

»Nicht wir zwei, MaryAnn«, entgegnete Destiny empört. »Er ist das. Einfach unmöglich!« Sie fing an, rastlos auf und ab zu laufen wie ein Tiger im Käfig, wich dabei aber geschickt den bequemen Sesseln aus, die für MaryAnns Klienten gedacht waren. Sie bewegte sich mit geschmeidiger Anmut und erinnerte dabei eher an ein Tier auf der Jagd als an einen Menschen. Ihre Schritte waren lautlos und schienen kaum den Boden zu berühren.

Die Ellbogen auf dem Tisch, das Kinn in ihre Hände gelegt, sah MaryAnn ihr andächtig zu; sie schien wie gebannt von der Schönheit, die in Destinys Bewegungen lag. »Willst du nur ein Loch in meinen Teppich laufen, oder erzählst du mir, was los ist? Was stimmt nicht?«

Destiny warf ihr einen gereizten Blick zu. »Er stimmt nicht.« Sie schob einen hohen Lehnsessel aus dem Weg und zog eine weitere Runde durchs Zimmer.

MaryAnn nickte. »Verstehe. Ich gehe davon aus, dass du Nicolae meinst.«

Destiny fuhr herum, die Hände zu Fäusten geballt. »Wehe, du lachst, MaryAnn! Und sprich nicht in diesem Ton! Ich weiß, was du denkst. Und du brauchst wirklich nicht darüber zu lachen; es ist nämlich überhaupt nicht komisch.«

MaryAnn setzte eine undurchdringliche Miene auf. »Was genau an Nicolae bringt dich so aus der Fassung, Destiny?«

»Alles!« Destiny warf sich in einen der störenden Sessel und streckte die Beine aus. Noch immer starrte sie MaryAnn erzürnt an. »Du hast ihn gesehen. Du hast gesehen, wie er sich mir gegenüber verhält. Alles an ihm macht mich wahnsinnig.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. MaryAnn griff nach einem Kugelschreiber und fing an, in ihr Notizbuch zu kritzeln. »Könntest du ein bisschen spezifischer werden? Es vielleicht ein wenig für mich einengen?«

»Okay.« Destinys Stimme klang herausfordernd. »Er schaut mich an.« Sie hob kampflustig das Kinn, als wollte sie MaryAnn warnen, ja nicht zu lachen.

Wenn deren Augenbrauen noch höher hätten wandern können, wären sie an ihren Haaransatz gestoßen. Es zuckte um ihren Mund, und sie biss hastig in das Ende ihres Kugelschreibers. »Du meine Güte. Was für ein Bastard.«

Destiny legte ihre Fingerspitzen aneinander und sah MaryAnn scharf an. »Könntest du bitte versuchen, ernst zu bleiben? Du bist doch angeblich ein Profi. Es ist die Art, wie er mich anschaut.«

MaryAnn machte eine vage Handbewegung. Sie hatte schöne Hände, stellte Destiny fest. Schlank und anmutig. Perfekte Fingernägel. Die Finger waren nicht lang, aber gut geformt, genau wie MaryAnn selbst. Destiny war immer fasziniert von der Anmut dieser Frau gewesen. Von ihrer angeborenen Güte. »Fahr bitte fort, Destiny. Ich bin wirklich gefesselt.«

»Er schaut mich total verklärt an«, gestand Destiny widerwillig. »So, als wäre ich schön. Als fände er, dass ich schön und klug und alles andere bin, was er sich je gewünscht hat.«

MaryAnn lächelte sie an und beugte sich vor. »Ist es nicht möglich, dass du für Nicolae schön und klug und all das bist, was er sich wünscht? Was ist daran so bedrohlich?«

Ein Ausdruck von Ungeduld huschte über Destinys Gesicht. »Ich habe nicht behauptet, mich bedroht zu fühlen. Habe ich das etwa gesagt? Es ist verrückt, dass er mich will. Ich bin nicht normal.«

MaryAnn lehnte sich wieder zurück. Ihr Blick ruhte auf Destinys Gesicht. »Was ist schon normal, Destiny? Warum sollte er sich mit etwas Normalem begnügen, wenn er dich haben kann? Was ist für dich normal?«

»Du weißt schon, normal eben. Nicht ich. Nicht das, was ich bin.« Destiny sprang ungeduldig auf und lief wieder hin und her, mit schnellen, ruhelosen Schritten, die mehr preisgaben als ihre kurzen, schroffen Antworten.

»Was glaubst du zu sein?«, hakte MaryAnn nach.

»Du fängst schon wieder damit an! Du benutzt deine Therapeutenstimme. Du weißt sehr gut, was ich bin. Ich kann mich in Wassermoleküle verwandeln und fliegen und auf allen vieren laufen. Klingt das für dich normal?«

Ein kurzes Lächeln blitzte in MaryAnns Augen auf. »Eigentlich klingt es völlig normal, wenn wir dabei von dir reden, Destiny. Oder von Nicolae. Ist er nicht genauso wie du?«

»Stell dich nicht auf seine Seite! Er verhält sich einfach bescheuert. Ich versuche hier, die Lage zu retten, und ihr zwei und Velda und Inez habt euch irgendwelche romantischen Ideen in den Kopf gesetzt. Kannst du dir das wirklich vorstellen - ich und romantisch?« Destiny fuchtelte erbost mit den Händen. »Das passt einfach nicht zusammen. Es ist totaler Blödsinn!«

»Wenn du es sagst, wird es wohl stimmen. Aber das muss nicht heißen, dass es immer so bleibt. Es gibt keinen Grund, nicht zu versuchen, neue Erfahrungen zu sammeln.« MaryAnn stützte ihr Kinn wieder auf ihre Handfläche und trommelte mit ihrem Kuli auf die Tischplatte. »Ich halte dich für sehr abenteuerlustig, Destiny. Vielleicht solltest du Nicolae als neuen Abschnitt in deinem Leben sehen.«

Destiny blieb mit dem Rücken zu MaryAnn abrupt stehen. »Na ja, neu ist er eigentlich nicht. Er ist in meinem Leben, solange ich denken kann.« Sie fuhr mit einer Hand durch ihr Haar und hob die schwere Fülle von ihrem Nacken.

MaryAnn fiel auf, dass Destinys Hand leicht zitterte. Sie setzte sich auf. »Wie hast du Nicolae kennengelernt?« Vielleicht lag hier des Rätsels Lösung. Irgendein Vorfall aus der Vergangenheit war der Grund, dass die sonst so beherrschte Destiny wie ein eingesperrtes Tier hin und her lief, dass ihre Hände zitterten und dass sie einen wundervollen Partner ablehnte.

Destiny ließ die Schultern hängen. Ein kleines Signal nur, doch MaryAnn registrierte es. Sie beobachtete, wie die junge Frau ein Bild an der Wand betrachtete. Das Schweigen zog sich in die Länge, bis MaryAnn überzeugt war, keine Antwort mehr zu bekommen.

»Er kam zu mir, als ich ein Kind war.« Die Stimme, die sonst so schön war, war nur noch ein raues, ersticktes Wispern. »Ich muss ungefähr sechs gewesen sein. Es ist schwer, sich zu erinnern. Zeit ist für mich nicht mehr dasselbe. Sie ist endlos und zieht sich ewig dahin.«

»Fällt es dir schwer, dich daran zu erinnern, weil es eine schmerzhafte Zeit war?«

Destiny berührte das Bild und zog mit einem Finger die Konturen des dargestellten Kindes nach. »Ich will nicht daran denken. Ich habe die Tür zu diesem Teil meines Lebens zugesperrt.«

MaryAnn nickte. Sie verschränkte die Hände und sah zu Destiny. »Das ist ein Schutzmechanismus, den missbrauchte und traumatisierte Kinder häufig anwenden müssen, um zu überleben. Sie haben Fächer in ihrem Gehirn, in denen sie Dinge verstauen, um weitermachen zu können.« Ihre Stimme war völlig neutral. »Verbindest du Nicolae mit dieser Zeit deines Lebens?«

»Nicolae ist...« Destiny zögerte und suchte nach dem richtigen Wort. »Er ist wie aus einem Märchen. Unwirklich. Ein Traum, der unmöglich wahr sein kann. Er ist der weiße Ritter in schimmernder Rüstung. Der Held aus einem Action-Film, überlebensgroß und nur ein Produkt der Fantasie.«

»Destiny.« MaryAnn wartete, bis sich die andere zu ihr umdrehte. »Was würde denn passieren, wenn Nicolae doch real und ganz und gar kein Traum wäre ?«

Destiny hob ihre Hand und streckte sie aus. Beide Frauen sahen, dass sie unkontrolliert zitterte. »Er würde mir alles nehmen. Alles, was ich bin, alles, wofür ich hart gekämpft habe. Er könnte mich auseinanderreißen, und ich würde in der Sonne zu Asche zerfallen.«

»Du willst damit sagen, dass du durch ihn sehr verwundbar bist, und das macht dir Angst. Er ist in der Lage, dir wehzutun, wenn du es zulässt.«

»Er könnte mich zerstören. Ich bin schon einmal zerstört worden, und ich habe mir mühsam wieder so etwas wie ein Leben aufgebaut.« Destiny senkte den Kopf. Nicolae hatte ihr damals ihr Leben zurückgegeben und sie zu dem gemacht, was sie war. Und jetzt verlangte ervon ihr, das alles wiedervollständig zu verändern.

»Ich halte es für ganz natürlich, wenn jemand, der im Begriff ist, eine Partnerschaft einzugehen, Angst hat, verletzt zu werden. Wenn wir uns erlauben zu lieben, sind wir verwundbar. Jeder von uns, Destiny. Es ist noch gar nicht lange her, dass du vor einer simplen Freundschaft zurückgescheut hast«, erinnerte MaryAnn sie.

»Nur weil es dich in eine gefährliche Welt bringen würde. Es hat dich in diese Welt gebracht.« Destiny seufzte und setzte zu einer neuerlichen Runde durchs Büro an. »Ich könnte Nicolae zerstören.«

Da, es war heraus. Sie hatte es laut ausgesprochen. Die Worte waren ihr entschlüpft, ehe sie es hatte verhindern können. Vielleicht hatte sie es MaryAnn schon die ganze Zeit anvertrauen wollen. Vielleicht hatte es sie deshalb an diesen Ort des Friedens gezogen. Um jemandem, der ihr etwas bedeutete, die Wahrheit zu sagen.

MaryAnn schob ihren Stuhl zurück, ging um den Schreibtisch herum und lehnte sich an die Kante. »Darüber wolltest du sprechen, nicht wahr? Du machst dir wegen Nicolae Sorgen?«

»Du hast gesagt, du hättest eine Gabe: Du könntest in Frauen lesen. Was siehst du in mir?« Destiny hob fast trotzig das Kinn und sah MaryAnn herausfordernd an.

Die Freundin schnappte unwillkürlich nach Luft. »Dinge zu sehen, ist nicht immer angenehm. Bist du sicher, es hören zu wollen?«

Destiny zuckte betont nachlässig mit den Schultern. »Ich könnte das, was du siehst, genauso leicht in dir lesen, MaryAnn. Aber ich respektiere dich, und solange es nicht deiner eigenen Sicherheit oder der Sicherheit anderer dient, werde ich nie das Vertrauen missbrauchen, das zwischen uns besteht, indem ich ohne Erlaubnis in deine Gedanken eindringe.«

»Du bist in irgendeiner Weise, die ich nicht verstehen kann, an Nicolae gebunden, das weiß ich. Euer inneres Band übersteigt jedes irdische Maß. Und ich weiß, dass du auf grauenhafte Art missbraucht worden bist und fürchtest, es könnte irgendwie Nicolaes Untergang sein, mit dir zusammenzubleiben. Nicolae ist sehr stark. Jemand wie er ist mir noch nie begegnet.« MaryAnn legte den Kopf zur Seite und sah Destiny forschend an. »Warum bist du so sicher, nicht das zu sein, was Nicolae braucht? Ich glaube vielmehr, du bist genau das, was er braucht. Ich weiß es sogar. Jedes Mal, wenn er dich anschaut, ist das Verlangen in seinen Augen nicht zu übersehen.«

Destiny winkte ab. Sie waren wieder am Ausgangspunkt gelandet. Über die Art, wie Nicolae sie anschaute, hatte sie sich schon beklagt; sie musste nicht extra von MaryAnn darauf hingewiesen werden. Sie wusste, dass er sie begehrte und brauchte. Doch sie wusste auch, dass der Preis für sie beide zu hoch sein könnte. Destiny strich sich das Haar aus den Augen. »Das sind keine kleinen Probleme.«

MaryAnn sah zu, wie sich Destiny nachlässig in einen Sessel fallen ließ und ihre Beine ausstreckte. »Ich werde ganz offen zu dir sein.«

»Ich bitte darum.« Destiny hatte vor, MaryAnn ebenfalls mit Offenheit zu begegnen.

»Frauen, die als Kinder vergewaltigt oder sexuell missbraucht worden sind, haben Probleme mit Intimität. Diese Probleme verschwinden nicht einfach. Und selbst wenn du glaubst, die Vergangenheit bewältigt zu haben, ist sie plötzlich wieder da und stellt sich zwischen euch. Das ist eine normale Reaktion, Destiny, und etwas, das man erwarten muss.«

»Ich erwarte es ja. Naja, die Chemie zwischen Nicolae und mir ist viel explosiver, als ich mir hätte träumen lassen. Ich hatte keine Ahnung, dass es so stark sein würde. Dennoch will ich mir nicht alles aus der Hand nehmen lassen. Ich bin Nicolae und mir selbst gegenüber ehrlich genug, um das zuzugeben.«

MaryAnn sah erfreut aus. »Solange dir das klar ist, sollte alles in Ordnung sein. Nicolae scheint mir Manns genug zu sein, dir den Freiraum, den du brauchst, zu geben. Es müsste doch möglich sein, an diesem Aspekt eurer Beziehung zu arbeiten.«

»Sollte man meinen.« Destiny seufzte tief. »Aber die Anziehungskraft zwischen uns ist weit mehr als nur körperlich. Wir müssen zusammen sein, körperlich wie geistig. Es ist Teil unserer Existenz, unserer Wesensart. Ich kann nur so viel dazu sagen, dass es sehr intensiv und manchmal mühsam ist.«

»Du findest es mühsam?«

Destiny nickte und nagte mit ihren kleinen weißen Zähnen an ihrer Unterlippe. »Nicolae wird spielend damit fertig. Ich habe Probleme damit. Es ist einfach so intensiv. Ein anderes Wort fällt mir nicht ein. Wenn ich mit ihm zusammen bin, fühle ich mich so hilflos. Es ist beängstigend, sich so zu fühlen, jemanden so sehr zu wollen, dass man nur noch an ihn denkt.«

MaryAnn lachte leise. »Destiny, du kennst dich selbst kein bisschen. Dir liegt offenbar sehr viel an diesem Mann, sonst wärst du nicht so in Sorge, dass du ihm in irgendeiner Weise schaden könntest. Glaubst du, es wird ihm schaden, dass du ihn so sehr hebst und begehrst?«

»Mein Blut ist unrein«, brach es aus Destiny heraus. Im nächsten Moment sprang sie auf und lief wieder durchs Zimmer. Das ermöglichte ihr, MaryAnns Blick auszuweichen.

Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Könntest du das vielleicht näher erläutern?«

Destiny gestikulierte hilflos mit den Händen. »Der Vampir hat mich zu einem von ihnen gemacht. Sein Blut war vergiftet, und er hat dieses Gift an mich weitergegeben. Es ist wie eine Krankheit.«

MaryAnn runzelte die Stirn. »Setz dich bitte hin, Destiny. Dein Hin- und Herlaufen macht mich nervös. Was du da sagst, scheint mir sehr wichtig zu sein, aber es liegt außerhalb meines Erfahrungsbereichs. Ist dieses unreine Blut gefährlich für dich?«

»Für Nicolae.« In MaryAnns Stimme lagen nur Verständnis und der Wunsch zu begreifen, worum es ging. Der schmerzhafte Knoten in Destinys Magen lockerte sich. Sie ging zu ihrem Sessel zurück. »Ich weiß nicht besonders viel über Karpatianer, aber laut Nicolae ist in den männlichen Karpatianern eine Dunkelheit, und diese Dunkelheit kann sie zu Vampiren werden lassen. Sie kämpfen natürlich dagegen an. Nicolae kämpft schon lange Zeit.«

MaryAnn rückte ihren Sessel näher an Destiny heran. »Und dein Blut macht es irgendwie schwieriger für ihn? Was willst du damit sagen?«

»Ich weiß nicht, was passiert, wenn er mein Blut nimmt. Wenn wir miteinander schlafen, ist es schwer, nein, beinahe unmöglich, nicht...«, sie zögerte und suchte nach den richtigen Worten, »nicht auch dieser Seite unseres Verlangens nachzugeben. Es ist Teil unserer Erotik. Nicolaes Verlangen ist sehr stark. Ich glaube nicht, dass es für mich Aussicht auf Heilung gibt. Wenn wir zusammen sind, können wir kaum widerstehen, diesen Hunger zu stillen.« Sie fuhr sich mit einer Hand über ihr Gesicht. »Ich könnte es nicht ertragen, sein Untergang zu sein, MaryAnn. Ich wollte von ihm fortgehen, aber dafür ist es zu spät.«

MaryAnn stand sofort auf und legte tröstend einen Arm um Destinys Schultern. »Hast du mit Nicolae über deine Ängste gesprochen?«

Destiny rührte an MaryAnns Bewusstsein, weil sie Angst davor hatte, was sich ihre Freundin bei diesen Enthüllungen denken musste, doch MaryAnn war ruhig und gefasst wie immer. Sie akzeptierte alles, was Destiny ihr erzählte, mit ihrer üblichen Gelassenheit und bemühte sich, die Situation zu begreifen.

»Wir haben darüber geredet. Er macht sich um sich selbst keine Sorgen, er denkt nur an mich.« Diese bedingungslose Hingabe machte sie kribbelig. Destiny hatte Probleme mit Hingabe. Und mit Liebe.

»Die meisten Menschen suchen ihr Leben lang das, was du hast. Hab keine Angst davor.«

Destiny starrte MaryAnn erzürnt an. »Du klingst wie Vater Mulligan. Ich stelle ihm eine Frage, und er gibt eine Art Zen-Weisheit von sich. Was für ein Rat ist schon: >Hab Mut<? Was soll das heißen? Mut, um was zu tun? Sollte ein Priester nicht geistlichen Beistand geben? Weißt du, MaryAnn, allmählich glaube ich, dass ihr zwei, du und Vater Mulligan, einfach sagt, was euch gerade so durch den Kopf geht.«

MaryAnn zog die Augenbrauen hoch. »Müssen wir denn auf alles eine Antwort haben? Du hast die Antworten nicht - wie sollten wir sie haben? Du kannst nur weitermachen, Destiny. Halte die Augen offen, und mit etwas Glück siehst du die Fallstricke, bevor du stolperst. Aber nimm das Leben mit offenen Armen an und lebe es, so gut du kannst.«

»Verrate mir eins, MaryAnn: Glaubst du, dein Leben hat sich verändert, seit du weißt, dass es auf der Welt so furchtbare Wesen wie Vampire gibt?«

»Natürlich hat sich mein Leben verändert. Aber werde ich deshalb in ständiger Angst leben? Ich hoffe nicht. Ich hoffe, jedem neuen Tag mit Mut und Würde zu begegnen. So wie du es machst. Ich hätte nichts dagegen, so wie du zu sein.«

Die Worte erschütterten Destiny bis ins Mark. Jeder Widerspruch blieb ihr im Hals stecken, und sie konnte MaryAnn nur mit offenem Mund anstarren. MaryAnn verkörperte alles, was Destiny je gern gewesen wäre. »Bist du verrückt? Ich bin total chaotisch.«

MaryAnn tätschelte ihren Arm. »Das ist normal. Bei uns allen sieht es im Inneren ziemlich chaotisch aus. Willkommen in der Realität.«

Ein schwaches Lächeln ließ Destinys Augen aufleuchten. »Na ja, ich schätze, wir haben nicht die Probleme dieser Welt gelöst, doch ich habe in einem Haus gesessen und mich zum ersten Mal seit Jahren unterhalten, ohne das Gefühl zu haben, keine Luft zu bekommen.« Noch in dem Moment, als sie die Worte aussprach, verblasste ihr Lächeln. Das warst du, Nicolae! Du hilfst mir dabei, es in diesem Gebäude auszuhalten und mit ihr zu sprechen, stimmt’s? Allein hätte ich es nie geschafft.

Ein Gefühl von Wärme schien sie einzuhüllen. Destiny sprang auf, als wäre ihr Sessel eine Viper, die im nächsten Moment zubeißen würde. Ihre Augen verdunkelten sich zu einem tiefen Grün. »Dieser Mann ist so ein Schuft! Wie konnte ich bloß auf die Idee kommen, dass ich eine Beziehung mit ihm haben will?« Ihre Hände flogen schützend an ihren Hals. Sie konnte seine Lippen über ihre Pulsader streichen fühlen. Die Stelle pulsierte sofort, und ihr Körper brannte. Das wird dir bei deinem albernen Versuch, mir den Hof zu machen, nicht unbedingt weiterhelfen! Ich bin kein Kleinkind, das man an der Hand halten und führen muss. Ich will deine Hilfe nicht, und ich brauche sie auch nicht!

Du bist doch bloß wütend, weil du es nicht gemerkt hast. Ein selbstgefälliges Lachen schwang in seiner Stimme mit. Ich will nur deine Wachsamkeit schärfen. Hier geht irgendetwas vor, das wir nicht verstehen, und wir müssen beide gut aufpassen.

Destiny schnaubte. »Nicolae ist die größte Landplage auf Gottes Erdboden! Warum sollte ich einen so selbstgefälligen und überheblichen Mistkerl von Mann in meinem Leben haben wollen? Sag mir das, MaryAnn!« Ich bin immer wachsam!

»Sex«, antwortete MaryAnn lakonisch. »Schlicht und einfach Sex, Destiny. Er strahlt Sex förmlich aus. Ich nehme an, er ist telepathisch veranlagt?«

»Ein Nervtöter ist er, mehr nicht!« An dir ist gar nichts sexy. Ich weiß, dass du jetzt selbstzufrieden grinst und dir werweiß was einbildest, aber ich finde dich kein bisschen sexy.

Ich hatte keine Ahnung, was für eine kleine Schwindlerin du bist, Destiny. Du findest mich sexy.

»Vielleicht finde ich ihn sexy«, räumte sie ein, während sie MaryAnns Bürotür aufriss, »aber ich mag ihn nicht besonders.«

»Hör mal«, entgegnete MaryAnn ruhig, »jeder von uns braucht gelegentlich Hilfe.«

Destiny kehrte MaryAnn, Nicolae und allen Beziehungen den Rücken zu. Sie wollte keine Hilfe, entschied sie, als sie aus dem Büro floh. Sie wollte die Dinge auf ihre Art regeln. Und dann war da noch diese kleine bohrende Frage, die ihr keine Ruhe ließ. Destiny verdrängte sie energisch, weil sie sich damit nicht befassen wollte, aber da waren all diese Kleinigkeiten, die sie nicht ewig ignorieren konnte. Warum konnte er sie finden, obwohl er kein Blut von ihr genommen hatte? Und wie war es ihm möglich, in ihrem Bewusstsein zu sein und ihr zu helfen, ohne dass sie etwas von seiner Macht oder von Zwang spürte? Warum konnte oder wollte sie nicht gegen den Drang ankämpfen, ihm zu gehorchen, auch wenn sie wusste, dass er Druck auf sie ausübte?

Wie mächtig bist du? Ihre Stimme klang eher anklagend als bewundernd. Energisch verschloss sie ihr Inneres vor ihm und stieg in den Himmel auf. Es war der einzige Ort, an dem sie sich frei fühlte, und sie genoss es, sich mit den Wolken treiben zu lassen. Sie wollte nicht wissen, wie viel Macht er besaß, und sie wollte nicht allzu viel darüber nachdenken, was sie mit ihm gemacht hatte.

Nicolae hatte keinen Druck auf sie ausgeübt. Sie konnte ihm keinen Vorwurf machen. Sie selbst hatte darauf bestanden, dass er die rituellen Worte aussprach. Er hätte nicht mit ihr geschlafen, wenn sie nicht auch darauf bestanden hätte. Der Wind fegte an ihr vorbei, kühlte ihre Haut und beschwichtigte das Chaos in ihrem Inneren. Nicolae. Er gehörte zu ihr, und sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.

Für den Priester war es leicht, ihr zu sagen, sie solle Mut haben. Er wurde nicht Tag und Nacht von albtraumhaften Visionen verfolgt. Er hatte keine Narben an Körper und Seele und kein Gift in seinem Blut, das etwas Gutes verderben und in etwas durch und durch Böses verwandeln konnte.

»Ich fühle mich so verloren.« Sie murmelte die Worte, lauschte dem Wind, als er sie davontrug, und wünschte, er könnte auch ihren Schmerz einfach mitnehmen.

Ich kann dir deinen Schmerz nehmen.

Da war er wieder, einfach so, als hätte sie ihn gerufen. Er war immer bei ihr, wenn ihre Welt im Chaos versank. Der Wind riss ihr Tränen aus den Augen, als sie durch den Himmel zog. Und was muss ich als Gegenleistung für dich tun? In ihrem Herzen war Verzweiflung, obwohl sie ihm so gern Freude gezeigt hätte. Sie wollte anders sein und wünschte, sie könnte rein und unbefleckt zu ihm gehen, frei von Kummer und frei von Narben. Frei von der schrecklichen Last des Wissens um das, was sie war. Denn sie konnte es ja nicht ändern. Destiny hasste es, sich selbst zu bemitleiden, und sein Mitleid wollte sie auch nicht.

Du bist da. Du liebst mich. Du beginnst allmählich, dich meiner Obhut anzuvertrauen. Das ist genug. Er war so ruhig wie immer, selbst jetzt, da er ihr das Herz zerriss.

Es war nicht genug, das wussten sie beide. Destinys gequälter Aufschrei hallte weit durch die Nacht.