29 Nadja und Robert
Aufräumarbeiten
Wenn Sie die Lady sind, von der unser Gast in der Ausnüchterungszelle die ganze Zeit schwafelt, dann nehmen Sie ihn bitte schön mit«, sagte der Sergeant. Er wischte sich Schweiß von der Stirn. »Sorgen Sie dafür, dass er sich ausschläft und, wenn’s geht, ein Bad nimmt. An jedem anderen Tag würde ich den renitenten Kerl wegen Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt anklagen und mindestens für zwei Tage im Bau kochen lassen.« Er musste fast brüllen, um sich im Stimmenwirrwarr, der in der Polizeistation herrschte, Gehör zu verschaffen. »Aber Sie sehen ja selbst: Wir haben derzeit wesentlich größere Probleme.«
Nadja nickte betroffen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, unter welchem Druck die Polizeikräfte in diesen Stunden zu leiden hatten.
Der Sergeant winkte einen anderen Beamten herbei. Der nahm sie mit, reichte ihr aus einem Spind Roberts Fotoausrüstung, ließ sie ein Formular unterschreiben und führte sie dann in einen hinteren Teil der hoffnungslos überfüllten Station. Er schloss die Zellentür auf. Zehn oder mehr Menschen saßen und standen in einem Raum, der bestenfalls für drei Insassen gebaut war. »Robert Waller – Sie sind frei und können gehen!«, sagte der Bobby.
Robert erhob sich. Rings um ihn war mehr Platz als um seine Leidensgenossen. Die Luft schien zu flirren, und dicke Fliegen umkreisten ihn.
»Danke«, sagte er leise zu Nadja und marschierte an ihr vorbei, den langen Gang hinaus in die Freiheit.
»Bleib mir bloß vom Leib, Kerl«, sagte Nadja angewidert. »Du stinkst wie ein Esel mit Mundfäule.«
»Kann ich mir vorstellen. Aber du wirst mir nicht glauben, wenn ich dir erzähle, wie das gekommen ist.«
»Hast du eine Ahnung, was ich seit dieser Nacht alles glaube?« Sie traten ins Freie. Hinter den eng stehenden Häusern zeigte sich ein erster Lichtschimmer des neuen Tages.
Die ausgelassene Partystimmung der Yorker war längst blankem Entsetzen gewichen. Überall standen Briten, jung oder alt, beisammen und diskutierten über die Tragödie, die sich in der Stadt ereignet hatte.
Eine Frau schluchzte laut auf, nachdem sie mit einem weiß bekittelten Arzthelfer gesprochen hatte. Sie warf sich in die Arme eines Wildfremden. Ihr Körper bebte.
Nadja stieß Robert an. Der Fotograf nickte müde und begann zu knipsen. Er hielt sich, so gut es ging, im Hintergrund. Die Stimmung war aufgeheizt genug. Das Sirren seines Filmtransporters mochte das Fass zum Überlaufen bringen und aus den hier Versammelten einen wütenden Mob formen.
»Schrecklich«, murmelte Nadja.
Es fiel ihr schwer, die Szene zu verinnerlichen. Diese Frau hatte wohl einen Angehörigen verloren. Sie stolperte in ein Nichts, in dem ihr ihre ganze Existenz sinnlos erschien.
Nadja atmete tief durch. Sie fühlte sich verpflichtet, die Dinge zu bewerten. Schrift und Bild zu einem Ganzen zu formen und den Geist der Geschehnisse so gut wie möglich zu erfassen. Immer schon hatte sie sich bemüht, ein Sprachrohr für jene zu sein, deren Stimmen zu schwach waren.
Textbausteine fügten sich in ihrem Kopf zusammen. Persönliche Eindrücke fanden darin ebenso Platz wie Stimmen der Betroffenen, die sie im Vorbeigehen aufgeschnappt hatte.
»Ein Essay soll es werden«, murmelte sie. »Die Grundfakten der Katastrophe, gewürzt mit jenen Dingen, die ich selbst in Erfahrung bringen konnte.«
Selbstverständlich abzüglich der Behauptung, dass hier der Agent einer bösen Elfenkönigin am Werk war, dachte sie.
»Wie bitte?« Robert hatte seinen Film verschossen und drehte sich zu ihr.
»Ich habe darüber nachgedacht, wie ich meine Reportage anlege. Ich bin so geladen, dass es lediglich eine Sache von ein paar Stunden sein kann, bis ich die Geschichte ins Reine geschrieben habe.« Sie schämte sich, als sie hinzufügte: »Wenn du eine anständige Fotoreihe zusammenstoppeln kannst, werden wir ganz schön absahnen.«
Robert atmete tief durch. »Du weißt, wie ich über Geld denke.«
»Ja, Che.« Ihr Fotograf hätte einen ausgezeichneten kubanischen Revolutionär abgegeben. In jenen Zeiten, da er stimmungsmäßig »oben« war, ersann er haufenweise Ideen, um den Weltfrieden herbeizuführen und jedermann auf der Erde seinen Anteil an Glück und Wohlstand zu verschaffen.
Nadja zog Robert beiseite, in eine der abgelegenen Seitengassen. Hier herrschte gespenstische Ruhe. Als läge die Bevölkerung friedlich im Schlaf und hätte nicht eine der schrecklichsten Katastrophen der modernen britischen Geschichtsschreibung hinter sich.
»Wie, zur Hölle, bist du ins Gefängnis gekommen? Ist zwar nicht das erste Mal, dass ich dich auslösen musste. Aber niemals unter derartigen Umständen ...«
Robert nickte. Er lehnte sich gegen die Ziegelmauer des ersten Häuschens der schmalen Gasse. »Alles begann damit, dass ich in diesem kleinen Pub der tollsten Frau der Welt über den Weg gelaufen bin ...«
Nadja lauschte gebannt. Sie versuchte, subjektive Eindrücke von der Wahrheit zu trennen, wie sie es seit Langem gewohnt war. Sie schob die verletzte Eitelkeit eines enttäuschten Liebhabers beiseite und konzentrierte sich auf die Essenz von Roberts Schilderungen.
Irgendwann »kippte« die Erzählung. Das Grundthema änderte sich.
»Moment mal«, sagte sie irritiert. »Du bist also aus ihrem Haus gestolpert und davongelaufen. Du kamst dann in eine Umgebung, die mittelalterlich wirkte?«
»Ja, so war’s! Ich schwöre dir: Ich war völlig bei Sinnen. Ein Schmerz durchzuckte mich, und auf einmal befand ich mich in einer älteren Ausgabe von York.« Er grinste müde. »Ist dir der Geruch, den ich mir dabei eingefangen habe, nicht Beweis genug?«
»Eigentlich ja.« Sie lächelte zurück. »Wie gesagt: Ich halte nichts mehr für unmöglich. Dennoch: Wir dürfen eine kurzfristige ... Verwirrung nicht ausschließen. Wie war der Schmerz? Stechend, ging er vom Kopf aus?«
»Auf gar keinen Fall!« Robert schüttelte den Kopf. »Er machte sich in den Armen breit, und eigentlich begann er ...«
»Ja?«
»In den Handgelenken. Genauer gesagt: hier.« Er deutete auf das Cairdeas.
Schweigend marschierten sie weiter, jeder in seinen eigenen Gedanken verhangen.
»Eine ... Nebenwirkung«, sagte Nadja nach geraumer Zeit. »Eine, auf die uns David und Rian nicht aufmerksam gemacht haben.«
»Von der sie vielleicht gar nicht wussten. Das Cairdeas wird herkömmlicherweise von Elf zu Elf weitergereicht. Am Handgelenk eines Menschen entwickelt es wohl eigene Qualitäten.«
»Bei mir nicht«, entgegnete Nadja.
»Zumindest bis jetzt nicht. Oder vielleicht bedarf es eines besonderen Schocks, um diese zeitliche Versetzung zu ermöglichen.«
»Glaubst du etwa, meine Nacht war um so viel besser als die deine?« Nadja kickte eine leere Springwater-Flasche beiseite. »Ich hatte ebenfalls ein Aha-Erlebnis der besonderen Art.«
Langsam, stockend begann sie ihre Erzählung. In spröden Worten berichtete sie von Darbys und ihrem Liebesakt; sie verheimlichte Robert, wie intensiv und erfüllend diese Vereinigung gewesen war, wie tief sie sie berührt hatte ...
»Und du kaufst diesem Schweinehund den Schmus mit den Schnitzereien in der uralten Eibe ab?« Robert lenkte bemüht vom Thema Sex ab, das ihn sichtlich unangenehm berührte.
»Ich weiß es nicht. Ich habe mir den Kopf darüber zermartert. Auch, warum ich derart in Panik geriet und davonlief. Das ist doch sonst nicht meine Art.«
»Urinstinkte«, sagte Robert kurz angebunden. »Die Angst vor der Dunkelheit und dem Unbekannten. Darby spielte die ganze Zeit mit deinen Gefühlen.« Er blieb stehen, schloss die Augen und fuhr dann fort: »Alles ist ein Vabanquespiel für ihn. Er ist ein Bruder Leichtsinn, ein liederlicher Geselle, dem man nicht vertrauen kann und der vor nichts zurückschreckt.«
»Du hast ihn nicht ... gespürt. Manchmal schien er mir in Gedanken weit, weit weg. Dann wieder war er zu hundert Prozent auf mich konzentriert und gab mir das Gefühl, das Wichtigste auf der Welt zu sein. Und glaube mir, er wirkte dabei absolut überzeugend.«
»Der springende Punkt ist: Was für eine Rolle spielt er? Dass er mit der Elfenwelt in irgendeiner Form zu tun hat, steht wohl außer Frage.«
»Ja.« Nadja blickte sich um – und erstarrte. »Vielleicht können wir einen Teil des Rätsels lösen«, sagte sie. »Wir befinden uns nämlich exakt vor seinem Haus.«
Hatte sie eine Fügung des Schicksals hierher zurückgeführt? Machte sich eine Wirkung des Cairdeas bemerkbar, oder handelte es sich schlicht und einfach um Zufall?
Mittlerweile war es hell geworden. Absperrgitter standen rings um Darby O’Gills Haus. Von den Polizisten war allerdings keine Spur zu sehen. Offenbar waren die Ordnungskräfte nach einer Untersuchung bereits wieder abgezogen, um andernorts für Ruhe zu sorgen. Der Volkszorn konnte leicht überkochen.
»Siehst du irgendwo einen Hinweis, dass wir nicht ins Haus hineindürfen?«, fragte Nadja. Ihr Herz klopfte heftig. Aber noch einmal würde sie sich nicht von ihren Emotionen beeinflussen lassen.
»Nö. Du könntest ja etwas in seiner Wohnung vergessen haben. Deinen Lippenstift oder dein Höschen.«
»Hmpf.« Sie schnitt Robert eine böse Grimasse und überkletterte die Absperrung. Die Tür zum Vorraum, die zum Wohnbereich des Hauses führte, war lediglich angelehnt.
Robert zog sie am gusseisernen Ring auf und betrat das Haus als Erster. Er zögerte und blickte sich um, bevor er sich der steinernen Treppe zuwandte. »Nichts«, sagte er und winkte Nadja zu sich. »Komm schon, lass uns nachsehen, was oben auf uns wartet.«
»Ich wusste gar nicht, dass du so tapfer bist.«
»Manche Dinge können sich über Nacht verändern.«
Er stieg die Stufen hinauf und verschwand rasch in der Biegung des uralten Treppenaufgangs. Hastig folgte ihm Nadja. Alles war, wie sie es in Erinnerung hatte.
Die Eingangstür stand offen, die Kameras am Eingang waren abmontiert. Blanke Kabel ragten aus der Wand.
»Lass mich bitte vor«, sagte Nadja.
Robert zögerte. »Es könnte immer noch gefährlich sein ...«
»Die Polizei war bereits hier.« Sie schob ihn beiseite, marschierte mit bemüht forschen Schritten ins Vorzimmer. Dann in das Baumzimmer. Schließlich und nacheinander durch alle Räumlichkeiten; auch durch jene, die sie sich vor wenigen Stunden nicht zu betreten getraut hatte.
Alles war wie leer gefegt. Die Eibe, unter deren Wipfel sie und Darby sich geliebt hatten, war verkümmert, die uralten Rinden breitflächig entfernt worden. Wenige Äste hingen traurig herab, der Boden war von braunen Blättern und eingeschrumpelten Früchten bedeckt.
»Das war’s dann wohl«, sagte Nadja. »Darby O’Gill hat das Weite gesucht. Wie auch immer er es angestellt hat – er hat es geschafft, alle Spuren zu verwischen.«
Sie verbrachten den Rest des Tages im Goblin’s Yard. Ihre Wirtin Sheila tat, als sei ein ganz normaler Tag, und versorgte sie in regelmäßigen Abständen mit vitaminreichem Essen. Nadja trieb ihre Recherchen voran und brachte danach ihren Bericht ins Reine.
»Das ist sehr persönlich gefärbt. Und sehr intensiv«, sagte Robert kritisch und legte die eng beschriebenen Blätter beiseite, nachdem er sie durchgelesen hatte. »Offen gesagt tut es mir weh, diese Dinge zu lesen. Du legst deine Finger ziemlich tief in die Wunden. Tote, Verwundete, Sterbende. Hoffnungslosigkeit, die sich breitmacht. Die Machtlosigkeit der Behörden, die Wut der Bevölkerung. Der Frust derjenigen, die verzweifelt nach einem Gegenmittel suchen ...«
Nadja griff nach den Bildern, die Robert mittlerweile entwickelt und für sie ausgesucht hatte. »Und das hier, meinst du, ist harmloser?« Sie deutete auf eine Aufnahme, die ein junges Mädchen zeigte, dessen Augen in schmerzhafter Verzweiflung weit aufgerissen waren. Sie hatte keine Ahnung, wann und wo der Fotograf das Bild geschossen hatte. Es wirkte kühl und abstrakt – und fasste dennoch genau das ein, was sie mit ihrem Text auszudrücken gehofft hatte.
»Beides ergänzt sich«, sagte Robert leise. »Ich würde vorschlagen, wir machen uns an die Nachbearbeitung und schicken das Zeug raus. Ich möchte so rasch wie möglich von hier verschwinden.«
Nadja nickte. Dann schwiegen sie lange. Es gab nichts mehr zu sagen.
»Du siehst heute viel ruhiger aus als beim Hinflug«, sagte Nadja. »Ich hoffe, du hast nicht vor, dich wieder mit Alkohol zuzuschütten.«
»Seltsamerweise verspüre ich überhaupt keine Flugangst. Und das Wort Alkohol ist aus meinem Gedächtnis gestrichen.«
Sie verließen die Tower Street, der Ouse River wurde zwischen hässlichen Ziegelbauten sichtbar.
»Ich glaube, dass Darby dir seine Wohnung und sein Umfeld zeigen wollte, um dich zu warnen«, sagte Robert plötzlich. »Denk doch mal nach: Sein gesamter Beraterstab, die hübschen Mädchen, die das Springwater verteilten, die Arbeiter und Angestellten seiner Distillery – sie alle verschwanden mit Darby, ohne eine Spur zu hinterlassen. Niemand kennt eine Sarah Chalke oder einen Patreagh Irgendwas. Das Eborachonn ist ein leer gefegter Keller, der so aussieht, als wäre er seit Jahren nicht mehr betreten worden. Die Einzige, die näheren Kontakt mit Darby O’Gill hatte, warst du.«
»Und?«
»Darby weiß, dass auch du in der Suche nach dem Quell des Lebens steckst. Er wollte dir seine Macht beweisen und dir nahelegen, dich von ihm fernzuhalten.«
»Indem er mit mir gevög...«
»Immerhin ist er ein Mann, nicht wahr?« Robert grinste müde, wirkte aber von einem Moment zum nächsten wieder hellwach. »Halte bitte an!«, rief er und deutete zur Seite.
»Wie bitte?«
»Es dauert nur einen Augenblick; ich habe noch etwas zu erledigen ...«
Nadja fädelte sich aus dem Verkehr und hielt am linken Straßenrand an, in einer Ladezone für Lkw. Robert sprang aus dem Auto, verschwand in einer schäbig wirkenden Seitengasse und tauchte kurz darauf wieder in ihrem Sichtfeld auf. Unten, am Ufer des Ouse, neben einem Pub, dessen Schildbeleuchtung flackerte. War dies das King’s Arms, von dem er ihr erzählt hatte? Der Ort, an dem er auf die geheimnisvolle Anne Lanschie gestoßen war?
Im Rückspiegel sah Nadja, wie sich ein Polizeiauto näherte. Es wurde langsamer. Ein Bobby blickte konsterniert zu Nadja herüber. Sie nickte ihm freundlich zu, er grüßte höflich zurück und lenkte sein Fahrzeug an ihr vorbei. Sicherlich hatte er im Moment andere Probleme als Falschparker.
Minuten vergingen. Irgendwann trat Robert wieder aus dem Lokal. Er hielt mehrere Blätter Papier in der Hand und las konzentriert.
Nadja öffnete ihm die Tür. Geistesabwesend setzte er sich neben ihr hin, nach wie vor ins Lesen der eng beschriebenen Seiten vertieft.
»Ist das von ihr?«, fragte Nadja.
»Ja. Sie scheint geahnt zu haben, dass ich nochmals bei Angus im King’s Arms, auftauchen würde.« Er faltete die Blätter bis auf eines zusammen und steckte sie sich in die Hosentasche. »Lies selbst«, sagte er und reichte ihr das einzelne Stück Papier.
Es war das Ende des Briefs und umfasste lediglich wenige Zeilen Text. Er war mit »Anne« unterzeichnet. Sie hatte eine schwungvolle, wunderschöne Schrift, die auf viel Übung schließen ließ.
»... deswegen musste der Abschied sein«, stand da geschrieben. »Ich werde darüber nachdenken, ob ein Wiedersehen für uns beide Sinn macht. Ich weiß, dass ich dir viel geben könnte. Dass ich dir helfen könnte, dein Buch endlich fertig zu schreiben. Ich würde das befreien, was du vor dir selbst verbirgst. Das Risiko ist allerdings groß. Es erfordert deinen bedingungslosen Glauben an mich. Dafür würde ich dich zu einem sinnvollen Ganzen formen, dem keine Grenzen nach oben hin gesetzt sind. Wenn du meinst, innerlich dafür bereit zu sein, dann werde ich dich finden.«
Nadja blickte hoch und seufzte. »Kein normaler Mensch schreibt solche Sachen. Bist du dir sicher, dass du nicht an eine Wahnsinnige geraten bist?«
»Und das aus dem Mund einer Frau, die noch gestern mit einem mutmaßlichen Serienmörder geschlafen hat!«, erwiderte Robert heftig. »Was ist denn in diesen Tagen noch normal? Wird sich in unser beider Leben jemals wieder so etwas wie Normalität einfinden?«
»Wahrscheinlich nicht«, gab Nadja zu. Sie senkte den Blick. »Wir müssen es uns eingestehen: Wir sind in diese Quest der Elfen nach dem Quell des Lebens eingebunden, ob wir wollen oder nicht. Es kann kein Zufall sein, dass wir nach Paris nun auch in York über geheimnisvolle Gestalten und mythische Geschichten stolpern. Wir sind keine Randfiguren dieser Jagd nach dem ewigen Leben; wir stecken mittendrin!«
»Stimmt.« Robert blickte starr geradeaus. Autos strömten an ihnen vorbei, alle einem unbestimmten Ziel entgegen. Viele Yorker verließen ihre Stadt, um woanders darauf zu warten, dass die Behörden die Lage vollends unter Kontrolle brachten. »Was machen wir nun? Sollen wir die Elfenzwillinge suchen?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Nadja fädelte sich wieder in den Fließverkehr ein. »Rian und David würden sich melden, wenn sie unsere Hilfe benötigten.«
»Also zurück nach München?«
»Vorerst. Aber wir sollten die Koffer unter keinen Umständen auspacken.«
Nadja unterschrieb den Buchungsbeleg für ihre beiden Flüge und schob ihn der Agentin des Reisebüros am Leeds-Bradford International Airport zu. »Was sind das für seltsame Pflanzentriebe?«, fragte sie und deutete auf eine Kristallvase.
»Sie sind wunderschön, nicht wahr?« Die Brünette zeigte ein strahlendes Lächeln. »Ich bekam sie gestern von einem Kunden. Er meinte, es handle sich um Eibentriebe. Binnen weniger Tage würden die Knospen ganz aufgehen und die Blüten in hellstem Weiß strahlen.« Sie seufzte und verdrehte träumerisch die Augen. »Was für ein Mann, was für eine Persönlichkeit ...«
Nadja erstarrte. Ihre Finger krampften sich um den Kugelschreiber. Sie war nicht in der Lage, ihn loszulassen. »Ein breitschultriger Kerl mit rotem Haar, einem Zahnpastalächeln und seltsamem Dialekt?«
»Ja – aber woher wissen Sie ...«
»Das tut nichts zur Sache. Haben Sie eine Ahnung, wohin er reisen wollte?«
Die Verkäuferin blickte sie konsterniert an und legte dann eine Maske berufsmäßiger Reserviertheit auf. »Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben. Das Datenschutzgesetz ...«
»Ich weiß, ich weiß.« Nadja wandte sich Robert zu und fragte flüsternd: »Wie viel Bargeld hast du bei dir?«
»Ich habe gestern nochmals hundert Pfund abgehoben, um ...«
»Gib mir alles, was du hast.«
Nadja richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf die Verkäuferin. »Was verdienen Sie hier im Laden, Schätzchen? Sechshundert Pfund plus Provisionen? Etwas mehr? – In meiner rechten Hand befinden sich knapp zweihundert Pfund. Sie bekommen sie bar auf die Kralle. Ausreichend Geld, um sich ein tolles, neues Kleid zu kaufen, ein zweitägiges Wellness-Wochenende zu finanzieren oder sich irgendeinen anderen Sonderwunsch zu erfüllen, den Sie schon lange hegen. Niemand wird etwas davon erfahren, das verspreche ich Ihnen. Im Gegenzug sagen Sie mir, wohin besagter Mann reisen wollte. Dann stornieren Sie unsere Flüge nach München und buchen uns an denselben Ort um.« Nadja blickte ernst und fügte ein traurig klingendes »Bitte« hinzu.
»Ich weiß nicht so recht ...« Die Agentin sah sich nach allen Seiten um.
»Es ist mir sehr, sehr wichtig.«
Die Brünette schwankte zwischen Pflichtbewusstsein und Gier hin und her – und entschied sich schließlich.
»Na gut«, sagte sie. Sie blickte auf ihren Bildschirm und begann eifrig zu tippen. »Der Herr nannte sich Seigneur de Castelbajac und stammt aus der Bretagne. Moment noch ... Ja, hier habe ich seine Reservierung. Er hat ein Package genommen: Flug plus Bahn, einmal umsteigen, plus Mietauto am Zielort. Bezahlt hat er ...«
»Ja?«
Die Verkäuferin blickte sich irritiert um, öffnete eine Lade unterhalb ihres Tresens und stierte ratlos hinein. »Er hat mir dreieinhalb Kartoffeln inklusive Trinkgeld für mein freundliches Gesicht hinterlassen.«
Nadja warf Robert einen vielsagenden Blick zu.
»Und der Zielort heißt ...?«
Die Verkäuferin zog eine Kartoffel hervor und betrachtete sie angewidert. »Worms in Deutschland«, sagte sie.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Robert völlig konsterniert.
»Was meinst du?«
»Mit ein paar schönen Worten und ein wenig Kleingeld hast du Informationen aus der Lady rausgekitzelt, die sie ihren Job kosten könnten. Ich kenne keinen anderen Menschen auf der Welt, der dies zustande brächte.«
»Das muss irgendwie an meiner Art liegen. Die meisten Leute vertrauen mir. Ich hatte es schon immer relativ leicht.« Nadja tat das Thema mit einem Handwinken ab. »Dir ist klar, was es für uns bedeutet, dass sich Darby O’Gill in Worms befindet?«
»Es ist endgültig bewiesen, dass er etwas mit der Suche nach der Quelle des ewigen Lebens zu tun hat, ganz klar. Und dein netter Freund ist hinter den Zwillingen her. Vielleicht ist seine Flucht aus York auch ein Zeichen dafür, dass sich in Worms etwas Entscheidendes tut.«
»Du kommst damit klar, dass wir Darby hinterherreisen?«
»Selbstverständlich.«
Sie marschierten die Gangway entlang, auf ihren wartenden Flieger zu. Robert marschierte mit festem Schritt. Anne Lanschies Zurückweisung hatte ihn für kurze Zeit aus der Bahn geworfen. Nun, da er ihren ausführlichen Brief gelesen hatte, wirkte er wesentlich gefestigter als zuvor, fast fröhlich. Als hätte er seinen Lebenswillen wiedergefunden.
Sie schwiegen, bis sie ihre Plätze eingenommen hatten.
Nadja schreckte plötzlich hoch und stieß ihren Begleiter an. »Spürst du’s?«, fragte sie.
»Ja. Die Cairdeas ...«
»... sie sprechen an.«