21 Gofannon
Fanmórs Fluch

Fanmórs Fluch ließ ihm nicht viel Spielraum. Er spürte das fremde Bewusstsein des Körpers, in dem er sich befand, und in gewisser Weise konnte er damit in Kontakt treten. Es fand kein Austausch statt; er partizipierte lediglich am Wissen des anderen. Und er konnte ihm die leise Bitte um Verständnis für das, was er zu tun gezwungen sein würde, einhauchen.

Gofannon erhob sich und scheuchte die Menschen weg, die sich um ihn versammelt hatten. Vom anderen im geteilten Kopf/Verstand wusste er, dass er/sie in diesem Lebensumfeld von einiger Bedeutung war/waren. Er/sie wischte/wischten die Tränen aus den Augen und nahm/nahmen den Weg wieder auf. Er/sie beschloss/beschlossen, sich von nun an als Einheit zu sehen. Es schien unvermeidlich. Sie waren miteinander verschmolzen.

Was war mit Gofannons eigentlichem Körper geschehen?

Er musste im Zuge des Transports durch das Portal »stecken geblieben« sein und dort darauf warten, dass er zurückkehrte. Und wie diese Rückkehr aussehen würde, war ihm noch unklar.

Fanmórs Fluch zwang ihn, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Unwiderstehlich fühlte er sich in eine Richtung gedrängt. Ein Tunnel tat sich vor ihm auf. Es gab nur diese eine Röhre, die ihm den Weg ans Ziel zeigte. Alles, was sich links und rechts davon befand, war Tand. Unnützer Kram, der ihn nicht zu kümmern hatte. Gofannon war durch den Fluch des Fanmór auf sein Ziel fokussiert, er würde keinen Millimeter vom Kurs abrücken.

Doch zuallererst benötigte er Informationen, wie er seine – auferzwungene – Aufgabe am besten lösen konnte.

»Was ist los mit dir, Marcus Iunius?«, drang eine besorgte Stimme zu ihm durch.

»Alles in Ordnung, Gaius«, gab er mit dem Wissen des anderen Bewusstseins, das nunmehr Teil seines eigenen geworden war, zur Antwort. »Ich hatte einen leichten Schwindelanfall.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht waren die letzten Tage doch ein wenig zu anstrengend.«

»Meinst du die Orgien?« Sein Gegenüber, ein großer, schlaksiger Mann, lachte. »Oder das Bacchus-Fest, das halbe Wildschwein, das du gestern verschlungen hast, der Ringkampf im Schlamm des Tiber mit den beiden Weibern?«

»Ein bisschen von alledem«, sagte Marcus Iunius, der in einem anderen Leben Gofannon geheißen hatte. »Und vielleicht auch die Sorgen um das Wohlergehen Roms.«

Sie spazierten weiter. Vorbei an Menschen, die grobe Stoffe um ihre Körper geschlungen hatten und unter der heißen Sonne widerliche Schatten warfen.

»Dein Interesse an der Politik ist mir neu. Seit Jahren liege ich dir in den Ohren, du solltest endlich einmal aus deiner Lethargie erwachen und deinen Einfluss geltend machen. Und jetzt, auf einmal, ist es so weit?«

Sie marschierten am Forum Iulium vorbei und wandten sich am Tempel der Venus Genetrix nach links. Die lange, kerzengerade Straße entlang, die sie zu einem der bewachten Tore der Servianischen Mauer bringen würde. In der Mitte der Straße befand sich eine handtiefe Fuge. Schmutziges Wasser floss in ihr hügelabwärts. Es schwemmte Schmutz und Fäkalien aus der Stadt. Zwei Hunde tollten an ihnen vorbei, verfolgt von einer Horde Halbwüchsiger, die den Tieren laut johlend mit Holzschwertern nachstellten. Metallische Waffen waren in diesem Bereich Roms verboten.

Gaius redete weiterhin auf ihn ein. Er verlor sich in philosophischen Betrachtungen über die Bedeutung jener Senatoren, die aus den Provinzen stammten, wog in Pro und Contra die Bedeutung neuer Gesetze ab und zog, wie immer, über den Tyrannen her. Marcus Iunius hörte mit halbem Ohr zu. Der Gofannon-Anteil in ihm interessierte sich für die primitive Baukunst der hier ansässigen Menschen – und für deren Mentalität.

Die Römer sahen sich als Nabel der Welt, und ihr Reich hatte in der Tat beachtliche Ausmaße angenommen. Allerdings fehlte ihren Eroberungen eine besondere Qualität. Sie hatten Schlachten geschlagen, Land in Besitz genommen und feierten sich selbst als überlegene Herrenrasse. Doch ihre Triumphe waren nicht vollständig.

Kriegerische Auseinandersetzungen in der Anderswelt, die mit einem Sieger endeten, beinhalteten einen spielerischen Aspekt, der den gänzlich anderen Umgang mit dem Tod zum Thema hatte. Schließlich gab es für Elfen, Babayagas, Gnomen, Irrlichter und all die anderen Wesen die Möglichkeit, aus dem Reich der Toten zurückzukehren, wenn sie sich geschickt genug anstellten. Außerdem besaß das Wort Unterwerfung in der Anderswelt eine weitaus intensivere Bedeutung. Gofannon hatte an der Seite Gwynbaens gekämpft – und verloren. Als Preis dafür hatte er zwischen Verbannung oder dem Treueschwur gegenüber Fanmór wählen müssen. Beide Verpflichtungen bedingten absolute Kapitulation. Körperlich, geistig, emotional. Hier bei den Menschen gab es jedoch ein kaum ausgeprägtes Ehrgefühl. Ein Schwur war oftmals den Atem nicht wert, den man für ihn verschwendete.

All dies musste er in Betracht ziehen, wenn er seine von Fanmór auferzwungene Aufgabe erledigen und dem Zwang des Fluchs nachkommen wollte.

Er betrachtete die monumentalen, typisch menschlichen Bauten. Sie wirkten plump und entbehrten jeglicher architektonischer Raffinesse. Konturen, die in den Anderswelten scharf und genau umrissen waren, zeigten sich hier stumpf und verfälscht. Es fehlte den Menschen an der Liebe zum Detail und an der Fantasie, waghalsige, atemberaubende, visionäre Lösungen zu finden. Sie waren Handwerker bar jeden Interesses, dem Kern der für ihr Leben wichtigen Dinge auf den Grund zu gehen.

Die beiden erreichten eine durch weiße Steine markierte Linie, das sogenannte Pomerium. Es handelte sich um eine Markierung, die Rom von seiner Umgebung trennte und eine quasireligiöse Komponente mit einschloss. Passierte man den gedachten Strich und ging nach draußen, verlor man seine Rechte als Bürger Roms. Kriegsherren und Soldaten, die in die Stadt einmarschierten, mussten ihre Waffen vor den Stadttoren ablegen. Sie betraten Rom als einfache Bürger ohne Rang und Namen – und ohne Waffengewalt.

Der Campus Martius erstreckte sich vor ihnen, das Marsfeld. Das Theater des Pompeius ragte hier in seinen gigantischen Ausmaßen hoch. Die Stimmen von Schauspielern drangen aus seinem Inneren. Immer wieder erklang Gelächter; es deutete darauf hin, dass man sich in Proben an einer Komödie versuchte.

»Ein schöner Ort«, hörte sich Gofannon sagen. »Der ideale Platz für einen finalen Akt im Leben unseres ... geliebten Tyrannen.«

Gaius blickte ihn erstaunt an. »Und das aus deinem Mund, Marcus Iunius? Bist du endlich zur Vernunft gekommen?«

»Kann man so sagen. Ich würde meinen, dass ich gar keinen anderen Ausweg sehe, als dem Kreis deiner Verschwörer beizutreten.«

Nicht, dass er dem Kau eine Träne nachweinte. Interessant erschien es ihm dennoch, dass der Kleine nicht mit ihm gemeinsam in Rom angekommen war. Vielleicht erlaubte das Portal keine genaue räumliche Zuordnung, vielleicht war Bandorchu für eine exakte Fokussierung noch zu schwach. Der Kau trieb wohl in einem anderen Teil des Menschenreichs sein Unwesen. Oder hing die Trennung mit der Loslösung seines Geistes zusammen? Siedend heiß durchfuhr es ihn plötzlich: Er war hier gestrandet! Bei seiner »Landung« hatte er keinen Tordurchgang gesehen, der ihn zurück in die Schattenwelt bringen würde.

War es überhaupt erstrebenswert, in die Schattenwelt zurückzukehren? Nun, er war der Königin mit jeder Faser seiner Existenz verpflichtet. Sie hatte ihm aufgetragen, Informationen einzuholen und ihr Bericht zu erstatten. Ein Mensch hätte sich durch die Umstände entbunden gefühlt. Gofannon jedoch musste einen Weg zurück finden, und die Lösung lag eigentlich auf der Hand.

Er musste dem Fluch Fanmórs gehorchen – und anschließend sterben.

Es blieben ihm ein paar Wochen Zeit. Meist verbrachte er sie mit seinen Mitverschwörern. Er durchforstete das Bewusstsein des Marcus Iunius und gab sich Mühe, diesen Menschen besser zu verstehen. Was ihn antrieb, wie er funktionierte, welche Wertigkeiten er setzte. Eigentlich trennten sie beide nur minimale Unterschiede. Unschärfen in der Wahrnehmung vielleicht und eine gänzlich andere Auffassung von materiellem Besitztum.

Wie erfasste Marcus Iunius seine, Gofannons, Existenz? Wusste er, dass da in seinem Kopf ein Fremder das Kommando übernommen hatte? War er sich dieses Wesens bewusst?

Wahrscheinlich nicht. In dieser göttergläubigen Zeit sahen die Menschen das Wirken Jupiters oder Heras in allem, was sie nicht verstanden. Eine Sonnenfinsternis wurde ebenso den höheren Mächten zugeschrieben wie ein Erdbebenstoß oder eine Überschwemmung. Liebe, Leidenschaft und andere Emotionen wurden von versinnbildlichten Göttergestalten überbracht. Marcus Iunius mochte also glauben, dass er besessen und das Werkzeug einer höheren Macht sei. Dass er dagegen nicht angehen konnte.

Die Sitzung des Senats mündete in langwierigem Gefasel, das schier nicht enden wollte. Ermüdete Männer erhoben sich schließlich, kümmerten sich nicht mehr um die Hauptredner. Sie tranken Wasser aus bereitgestellten Tonkrügen und fanden sich zu Diskussionen in kleinen Gruppen zusammen.

Marcus Iunius stieß Gaius an und deutete, ihm hinaus zu folgen. Mit verstohlenen Bewegungen informierte er die Mitverschwörer, dass der Moment gekommen sei. Überall lösten sich Gestalten aus den Schatten der Säulen und machten sich auf den Weg. Hinaus, ins Freie. Es herrschte miserables Wetter. Starker Wind wehte Blätter umher, die seit dem vergangenen Herbst in verborgenen Winkeln liegen geblieben waren.

Ein schlechtes Omen!, dachte Marcus Iunius, und Gofannon musste beruhigend auf ihn einwirken.

Gaius sagte: »Es wird heute geschehen! So kann es nicht weitergehen. Der Tyrann maßt sich immer mehr Rechte an. Er will die Republik und uns alle ins Unglück stürzen ...«

Kein Wort verlor er über seine eigenen, persönlichen Ziele; es war auch nicht notwendig. Alle, die herbeigeeilt kamen, hatten ihre Gründe für die schändliche Tat, die sie begehen würden. Eitelkeit, Machtgier, aufrechte Liebe zur Republik, Habsucht.

»Er kommt!«, sagte jemand.

Gofannon und Marcus Iunius griffen gemeinsam zur Waffe, ihre Mitverschwörer ebenfalls. Manche taten es mit ängstlichen und blassen, andere mit entschlossenen Gesichtern. Das Theater des Pompeius auf dem Marsfeld, in dem der römische Senat ab und zu seine Sitzungen abhielt, sollte Schauplatz einer ganz besonderen Tragödie werden.

»Ave!«, rief irgendwer, als Iulius Caesar die marmornen Stufen herabgeschritten kam.

»Ave!«, riefen manche der Mitverschwörer, als sie den Tyrannen einkreisten. Messer wurden gezogen. Arme reckten sich nach oben, fuhren steil nach unten.

Ein erstickter Schrei. Blut spritzte. Die Leibgarde, völlig entsetzt, ließ sich abdrängen. Ihr Kommandant gehörte zu den Verschwörern. Er verhinderte das Eingreifen der Elitesoldaten.

Dreiundsechzig Mann waren sie. Nicht alle stachen zu. Manche standen einfach da und beobachteten, wie der große Feldherr und Herrscher starb. Gaius, sein Schwager und Freund, den sie Crassus nannten, trat zum Sterbenden. Er deutete den Stich unterhalb des Brustbeins lediglich an. Caesar war ohnehin schon dem Tode geweiht. Dann ging er beiseite und nickte Marcus Iunius auffordernd zu.

Gofannon kam näher. Er musste den Fluch erfüllen. Er musste Fanmórs Vorgaben erfüllen, musste zum Verräter werden und die Schandtat begehen.

Iulius Caesar drehte den Kopf in seine Richtung. Sein Lebensvorrat schmolz dahin, würde in den nächsten Augenblicken aufgebraucht sein. »Du auch?«, flüsterte er.

»Ja«, antwortete Marcus Iunius Brutus. Und stach voller Verzweiflung zu.

Wenige Monate später erfüllte sich sein Schicksal. Crassus und er stellten ihre Streitkräfte gegen die Caesaristen Marcus Antonius und Octavian. Missverständnisse führten bei Philippi zur fast vollständigen Aufreibung ihrer Heeresteile. Crassus Longinus hauchte sein Leben im Kampf gegen einen einfachen Soldaten aus. Marcus Iunius Brutus, den selbst die eigenen Leute nur noch verächtlich anblickten, wurde gesteinigt.

Gofannon nahm es erleichtert zur Kenntnis. Das Sterben war keine leichte Angelegenheit, nein, aber es befreite ihn für den Moment von der Gewissenslast, die ihm Fanmórs Fluch auferlegt hatte. Also akzeptierte er die Schmerzen, die letzten Bilder, das Erlöschen des Geistes. Er fühlte sich weggesaugt. Zurück in den Wirbel, der das Portal ausmachte.

Vielleicht würde er dort seinen Körper wiederfinden.