8 Nadja
Die Einladung
Sie liebte und achtete Robert wie einen älteren Bruder, den sie nie gehabt hatte. Leider besaß er die hässliche Angewohnheit, sie immer wieder zu enttäuschen. 45 Jahre war Robert alt und hatte bis heute keinen Platz im Leben gefunden. Alles an ihm war unrund, halb fertig, eine ewige Baustelle.
Dennoch war er ihr Freund. Wenn sie gemeinsam reisten und arbeiteten, konnte sie sich beweisen. Sie fühlte sich dann nützlich, gut. Nadja unterstützte ihn, sie half ihm über die Krisen seines Lebens hinweg – und tat dies völlig uneigennützig. Ohne ein Wort des Dankes zu erwarten. Sie gab ihm Arbeit, gab seinem Leben Sinn und fand Worte, die ihn wieder aufrichteten, wenn er eine seiner Sinneskrisen durchmachte.
Es wäre schön, wenn ich meine Liebesbeziehungen auch so befriedigend gestalten könnte, dachte sie frustriert. Aber kaum geht’s um eine Herzensangelegenheit, sage und mache ich prompt das Falsche. Ha!
Sie zuckte die Achseln und blickte Robert hinterher, während dieser sich rücksichtslos durch die fröhlich feiernden Yorker drängte und hinab in das Gassengewirr der Altstadt lief. Ängstlich, fast panisch wirkte er.
»Morgen kannst du was erleben, Kerl«, murmelte sie. »Mich bei der Arbeit so hängen zu lassen ...«
Es fiel ihr schwer, sich auf ihren Job zu konzentrieren. Auch wenn sie es sich selbst gegenüber nur ungern zugab – die Geschehnisse in Paris und im geheimnisvollen Reich der Elfen hatten an dem Schutzschild des Professionalismus, mit dem sie sich normalerweise umgab, tiefe Kratzer hinterlassen. Seit diesem Tag hinterfragte sie sogar die unglaublichsten Geschichten in den deutschen und englischen Schmierblättern, die die Sensationslüsternheit der Menschen erfüllten. War etwas dran an der Nachricht über ein dreiköpfiges Monster, das laut Daily Sun in den Feldern Dartmoors sein Unwesen trieb? Was war mit den Kornkreisen in Mittelengland, die jeden Sommer für gehörige Aufregung sorgten? Stand die mehrmalige Sichtung eines Wolpertingers während der letzten Wochen in Niederbayern in irgendeinem Zusammenhang mit einem Portal zwischen Elfen- und Menschenwelt?
Nadja schüttelte heftig den Kopf, als könnte sie dadurch ihre kruden Gedanken loswerden. Sie hatte sich stets als seriöse Journalistin gesehen. Die Begegnung mit den beiden Elfen Rian und David, die sie heute als ihre Freunde betrachtete, hatte ihr Weltbild ganz schön durcheinandergewirbelt.
David ... was für ein gockelhafter, unsympathischer Dandy. Ein Luftikus, der stets das Vergnügen in den Vordergrund stellte und der nicht weiter als bis zur – übrigens sehr hübsch geformten – Nasenspitze dachte. Sie verachtete den Elf mit aller Inbrunst, und noch mehr ärgerte sie sich, dass sie ihre Gedanken in Momenten wie diesen an ihn verschwendete.
Eigentlich sollte sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Fette Beute wartete auf sie: ein Mitglied der Königlichen Familie und, vielleicht noch viel interessanter, Darby O’Gill. Der Verursacher und Sponsor dieses seltsamen Spektakels, das gerade eben mit dem Auftritt von Sting und The Police einen weiteren Höhepunkt erfuhr. Nadja kramte nach ihrem Handy. Es war ein Modell neuester Generation und lieferte gestochen scharfe Bilder, wenn man damit umzugehen wusste. Wenn Robert nicht zur Hand war, musste sie sich eben selbst helfen.
Sie vermutete Darby O’Gill im Backstage-Bereich der Hauptbühne. Dort, wo sich Schauspieler, Honoratioren, Roadies, Bühnentechniker und Manager ein buntes Stelldichein am Buffet gaben.
Der erste Security-Mann nahe dem polizeilichen Absperrgitter stellte für Nadja kein Problem dar. Mit starrem Blick marschierte sie an ihm vorbei und winkte dabei uninteressiert mit ihrem Freischwimmer-Ausweis, den sie an einem Schnürchen um den Hals gebunden hatte. Der äußere Verteidigungsring einer gut bewachten Zitadelle war immer leicht zu erobern, wie sie wusste. Je weiter man in Richtung Zentrum vordrang, desto professioneller und erbarmungsloser wurden die Wächter. Dem Burschen dort vorne zum Beispiel sah sie von Weitem an, dass er ein Profi war. Männer wie er, die jahrelang mit Künstler-Entouragen reisten, konnten durch nichts mehr erschüttert werden. Sie wussten, wer ins Reich der Glückseligkeit, sprich: in das unmittelbare Umfeld der Bühne vorstoßen durfte. Sie rochen es.
»Hast du Tom gesehen?«, fragte ihn Nadja und beugte sich zu ihm hinab. Sie bemühte ihren breitesten Cockney-Dialekt, den ihr ein Londoner Freund beigebracht hatte. »Er ist mein Bruder, und er hat mir versprochen, mir was vom Buffet abzugeben.«
»Verpiss dich!«, sagte der Security-Mann gelangweilt, ohne ihr mehr als einen Blick zu schenken. Er saß an einem wackeligen, runden Tisch und kratzte mit einem langen Messer irgendwelche Zeichen ins Holz.
»Aber Tom ...«
»Was verstehst du an ›Verpiss dich‹ nicht, Girlie?«
»Jetzt hör mal zu, Kleiner: Du weißt ganz genau, wer Tom ist, oder? Ich werde dafür sorgen, dass er dich auf die Straße setzt, und dann darfst du wieder vor irgendwelchen Dorfdiscos den Macho raushängen lassen ...«
Der Mann stand auf. Er war mindestens zwei Meter groß, und die Muskelpakete seines Nackens hüpften aufgeregt hoch und nieder. »Bei der Pfeife weiter vorne magst du mit deiner Masche durchgekommen sein. Aber hier ist Endstation, Süße. Hast du einen Backstage-Ausweis? – Nein. Hatten wir jemals etwas miteinander? – Nein. An eine Nervensäge wie dich würde ich mich erinnern. Bin ich Tom? – Nein. Mein Name ist Pat. Und eine Schwester wie dich hätte ich schon längst unter die Erde gebracht. Also, mach die Fliege ...«
Er machte sich noch breiter, als er eigentlich war, und schob Nadja vor sich her, zurück zum äußeren Bewachungsring. Verzweifelt versuchte sie, sich vorbeizudrängeln und zumindest einen Blick auf die Anwesenden zu werfen.
Eine ältere Dame mit grauem Haar biss am Buffet soeben herzhaft in ein Brötchen und unterhielt sich angeregt mit einer jungen Frau ...
»Judi!«, rief Nadja. Sie drehte sich am Security-Monster vorbei und winkte aufgeregt. »Dame Judi Dench! Ich bin’s – wissen Sie noch? Wir kennen uns aus dem Hotel! Das Interview ...«
Pat zögerte und ließ ihr mehr Platz, den sie augenblicklich nutzte, um sich den beiden Frauen besser zu präsentieren. Sie gestikulierte wie wild und machte weiterhin lautstark auf sich aufmerksam.
Judi Dench schreckte aus dem angeregten Gespräch mit ihrer Kollegin hoch und suchte den Augenkontakt mit Nadja. Die Schauspielerin überlegte kurz, runzelte die Stirn, winkte der Reporterin freundlich zu – und kümmerte sich schließlich wieder um ihre Gesprächspartnerin.
»So eine dumme Pute«, murmelte Nadja. »Zuerst gibt sie die freundliche, über alles erhabene Grande Dame, und jetzt will sie mich nicht mehr kennen. Na warte – ich werde einen geharnischten Artikel über dich schreiben, sodass dich kein Mensch mehr auf der Bühne sehen will.«
Natürlich würde sie das nicht. Ihr journalistisches Ehrgefühl war stärker ausgeprägt als bei den meisten Kollegen.
»Okay, Girlie«, unterbrach Pat ihre Gedanken, »du hast alle Möglichkeiten ausgereizt, um dich in den Backstage-Bereich reinzuschmuggeln. Wenn du jetzt nicht augenblicklich verschwindest, vergesse ich meine guten Manieren.« Er packte sie an den Handgelenken und presste schmerzhaft zu.
Nadja durchdachte die verbliebenen Optionen. Sie war eine leidlich gute Nahkämpferin und flinker, als man es ihr zutraute. Aber gegen diesen Gegner, der an Masse sicherlich das Doppelte von ihr auf die Waage brachte, sah sie keine Chance. Sie musste klein beigeben. Vorerst.
»Lass mich in Ruhe, du Orang-Utan«, sagte sie und riss sich energisch los. »Du hast gewonnen. Ich verschwinde.«
Nadja drehte sich um und marschierte davon. Sie fühlte sich gedemütigt. Niederlagen wie diese waren ihr zuwider. Sie galt als Meisterin der Improvisation, besaß ein flinkes Mundwerk und sah auch leidlich gut aus, sodass sie meist das erreichte, was sie wollte. Aber dieser Kerl nahm seine Aufgabe zu ernst.
»Nichts für ungut!«, rief ihr Pat hinterher. »War nicht persönlich gemeint. Ich habe ab vier Uhr morgens frei. Wenn du dann noch Lust hast, können wir in meinem Hotelzimmer einen draufmachen.«
»Arschloch!« Sie ignorierte sein Gelächter und schwang ihren Hintern so weit wie möglich nach links und rechts. »Sieh dir ganz genau an, was du niemals in deinem Leben in die Hände nehmen wirst.«
»Ein kantiges, knochiges Gestell, an dem kaum Fleisch sitzt?« Die Lautstärke seines Gelächters steigerte sich. »Vielleicht muss ich ein paar Tränen hinabschlucken – aber ich denke, ich werde deine Zurückweisung überleben.«
Nadja marschierte weiter. Unter keinen Umständen würde sie sich umdrehen und dem Security-Mann die Genugtuung geben, ihr vor Ärger gerötetes Gesicht zu sehen. Nicht nur, dass er es spürbar genoss, am längeren Hebel zu sitzen – er hatte auch punktgenau eine ihrer Schwachstellen erwischt. Nach eigener kritischer Selbstbetrachtung erschien sie sich wie ein hübsches, lebendiges Mädchen, dessen Rundungen und Formen leider allzu schwach ausgeprägt waren.
Ein Pfiff ertönte. Nadja ignorierte ihn und marschierte weiter, am vor sich hin dösenden ersten Wächter nahe dem Polizeigitter vorbei. Sie benötigte dringend einen ruhigen Ort, an dem sie ihre Emotionen wieder in den Griff bekam. Aber wo würde sie heute, angesichts der ständig ausgelassener werdenden Stimmung, einen stillen Winkel finden?
»Hey, Girlie!«
Nadja zuckte zusammen. Pat hatte sich trotz seines breiten, muskulösen und massigen Körpers vollkommen lautlos an sie herangeschlichen.
»Lass mich in Ruhe!« Sie fuhr herum und funkelte den Mann böse an. »Glaubst du etwa, ich schlafe mit dir, um ans Buffet der Stars und Starlets ranzukommen?«
»Hab dich nicht so, Kleines.« Er drückte seinen kleinen Knopf ein wenig fester ins Ohr und lauschte für einen Moment irgendwelchen Nachrichten im internen Funk, bevor er sich wieder Nadja zuwandte. »Onkel Pat hat eine gute Nachricht für dich: Der Chef lädt dich zu sich ein. Er hat dich gesehen, und anscheinend steht er auf schmale Hintern.«
»Der Chef?«, hakte sie nach.
»Ja. O’Gill. Der große Rothaarige, der hier alles organisiert hat. Er sah, wie du dich an mir vorbeischleichen wolltest. Er meint, er hätte dich schon einmal irgendwo gesehen, und möchte dich gerne persönlich kennenlernen.«
Ausgerechnet Darby O’Gill, das bevorzugte Opfer ihres journalistischen Interesses. Sie spürte ihr Herz schneller schlagen. Was für ein Glück!
»Siehst du, Pat? Aber du wolltest mir ja nicht glauben.« Nadja drehte auf der Stelle um, zeigte dem Security-Mann ihre gerümpfte Nase und marschierte schnurstracks auf den Backstage-Bereich zu. »Ich werde mit Darby ein ernstes Wort über die negative Arbeitsauffassung seines Security-Trupps sprechen. Beinahe hättest du mich nicht zu ihm vorgelassen. Mich!«
Pat geleitete sie schweigend am Buffet vorbei. Nadja stibitzte zwei Lachsbrötchen und verschlang sie während des Gangs, um den ärgsten Hunger zu stillen, und spülte mit einem Gläschen Sekt nach.
Hier herrschte eine seltsam anmutende Ruhe. Dicke Planen hielten das Dröhnen der Bühnenmusik weitgehend vom Backstage-Bereich fern. Die Anwesenden unterhielten sich leise, fast flüsternd, als wollten sie diese heilige Stille unter keinen Umständen durchbrechen.
Eine Frau im Nadelstreifenanzug nahm sie nahe einem Zelt, das einer Jurte ähnelte und von kleinen, bunten Flaggen umrahmt wurde, in Empfang. Sie wirkte blass und unscheinbar, fast androgyn, und lächelte spröde. »Ich bin Sarah Chalke, Mister O’Gills persönliche Assistentin. Mein Chef erwartet Sie bereits«, sagte sie. »Ziehen Sie bitte die Schuhe aus und waschen Sie Ihre Füße in diesem Becken, bevor Sie eintreten. Auch Ihre Hände müssen gereinigt sein, bevor Sie Mister O’Gill gegenübertreten.«
Nadja nickte und befolgte die Anweisungen, ohne allzu lange darüber nachzudenken. Sie war in ihrem noch jungen Leben bereits einer Vielzahl außergewöhnlicher Menschen begegnet, die seltsame Angewohnheiten oder Spleens besaßen – von Elfen und ähnlichen scheinbaren Fabelwesen einmal ganz abgesehen. Wer den weiten Weg an die Spitze des Ruhms – oder des Geldes – unbeschadet überstanden hatte, besaß ihrer Meinung nach ein Anrecht darauf, seine Individualität oder sein Anderssein irgendwie auszudrücken. Viele ihrer Gesprächspartner waren Gehetzte und Gejagte, die dem Druck, der ihnen vom persönlichen Umfeld, der Presse oder der Öffentlichkeit auferlegt wurde, nur schwerlich standhielten. Also kompensierten sie ihre Probleme mit Extravaganz, Introvertiertheit oder seltsamen Manien.
Barfuß betrat sie in Begleitung Sarah Chalkes das Zelt. Handgeknüpfte arabische Teppiche lagen hier ausgebreitet. Sie zeichneten seltsame Muster, die Nadja schwindeln ließen, wenn sie sich zu sehr darauf konzentrierte.
»Miss Oreso!«, begrüßte sie die Bassstimme Darby O’Gills. »Es freut mich, Sie kennenzulernen.« Der rothaarige Riese trat hinter einem holzverzierten Paravent hervor. Soeben knöpfte er sein Hemd zu und stopfte einen dichten Teppich von Brusthaaren darunter.
»Ganz meinerseits, Mister O’Gill.« Sie hasste Brusthaare. Männerhaut musste glatt sein wie ein Babypopo, damit sie eine wohltuende sexuelle Spannung aufbauen konnte.
»Verzeihen Sie die Unannehmlichkeiten. Ich hoffe, Patreagh hat sie mit seinem groben Charme nicht allzu sehr verschreckt?« Erstmals blickte er sie an. Seine Augen waren grün. Hellgrün.
»Patreagh? Ach, Sie meinen Pat. Nein, er hat sich mir gegenüber ... formvollendet verhalten.«
»Sie sind eine überaus charmante Lügnerin, Miss Oreso. Wäre Patreagh so nett, wie Sie ihn hinstellen, hätte ich ihn längst entlassen.« Er lachte. »Was halten Sie davon, wenn wir gemeinsam ein spätes Abendmahl zu uns nehmen? Sie sehen hungrig aus, und ich könnte einen ganzen Hirsch verschlingen.«
»Das ... das kommt überraschend. Eigentlich wollte ich mich lediglich ein wenig mit Ihnen unterhalten.«
»Passt ausgezeichnet! Wo spricht es sich besser als bei einem Essen, einem guten Tropfen und in entspannter Atmosphäre? Ich habe mir erlaubt, einen Tisch im Eborachonn reservieren zu lassen; einem der besten Restaurants der Stadt, das sicherlich auch für Ihren kontinentalen Geschmack einiges zu bieten hat. Wenn Sie sich umziehen wollen, wird sich Miss Chalke um eine passende Garderobe kümmern.« Noch immer kämpfte er mit seinem Hemd, das vom muskulösen Oberkörper gesprengt zu werden drohte. Er schnippte beiläufig mit den Fingern. Seine Assistentin, die mehrere Schritte hinter Nadja gewartet hatte, nickte und verließ das Zelt.
O’Gill überrollte sie! Es war nicht nur seine körperliche Präsenz, die Nadja drückend spürte. Er schien ihr mit all seinen Gedanken einen Schritt voraus zu sein, ihre Argumente vorhersehen zu können und stets passende Antworten bereitliegen zu haben. Sie musste sich wehren, konnte nicht zulassen, dass er mit ihr umging wie mit einer beliebigen dummen, kleinen Pute, die er abzuschleppen gedachte.
»Ich freue mich über Ihre Einladung zum Abendessen, Mister O’Gill«, hörte sie sich sagen. »Ich bin es allerdings gewohnt, meine Rechnungen selbst zu bezahlen.« Nadja dachte an die wenigen verbliebenen Pfundnoten in ihrer Brieftasche. »Mir wäre es recht, wenn wir uns am Buffet verköstigten und im Backstage-Bereich blieben.«
Er sah sie verblüfft an – und begann mit nach hinten gebeugtem Kopf lauthals zu lachen. »Entzückend!«, sagte er schließlich. »Ihr Frauen vom Kontinent besitzt wirklich einen ganz eigenen Charme.« Wieder ganz ernst geworden, fügte er hinzu: »Ich entschuldige mich, sollte ich Sie mit meinem Angebot beleidigt haben. Sie haben mich möglicherweise missverstanden. Ich bin keinesfalls auf eine vergnügliche Unterhaltung für die Nachtstunden aus. Seit Wochen beschäftige ich mich mit den Vorbereitungen für das Guy-Fawkes-Festival und bin ständig von denselben Leuten umgeben: Mitarbeitern, Organisatoren, Honoratioren und Wichtigmachern. Ich bin in jeder Hinsicht ein freiheitsliebender Mann und fühle mich durch diese ungewohnte Arbeit äußerst eingeengt.«
Er trat näher und blickte auf sie hinab. »Ich durfte beobachten, wie Sie mit Ihrer erfrischenden Art versuchten, sich an Patreagh vorbeizuschmuggeln. Sie stellen für mich gewissermaßen einen Lichtblick im grauen Einerlei der letzten Wochen dar.« Er schob die Arme in die Höhe und streckte sich. »Meine Pflichten hier sind erledigt, und ich freue mich darauf, endlich einmal etwas anderes zu sehen als Konferenzräume und Werbebüros.«
Darby O’Gill hatte ein außergewöhnliches Aftershave aufgetragen. Es roch nach Moschus, nach Natur, nach endlosen Weiten. Nadja musste an sich halten, um nicht noch näher an ihn zu rücken und ihn mit weit geöffneten Nüstern zu beschnüffeln.
»Sie wissen, wer ich bin?«, fragte sie.
»Man hat mir die notwendigen Informationen zugetragen. Miss Nadja Oreso, freischaffende Journalistin mit einem außergewöhnlich guten Ruf für eine Vertreterin dieser Branche.«
»Danke sehr. – Sie sind sich also des Zwecks meines Besuches bewusst?«
»Selbstverständlich. Ich bin gerne bereit, Ihnen ein längeres Interview zu geben, wenn ...«
»Ja?«
»... wenn Sie mir erlauben, Sie zum Essen einzuladen. Sosehr dies ihrem Ehrenkodex auch widerspricht.«
Seine Worte hörten sich grundehrlich an. Da klang tatsächlich der Widerwille gegen Büroarbeit durch und der Wunsch, endlich wieder einmal aus den Fesseln des Alltags auszubrechen, um einen Abend zu genießen, ohne über das Morgen nachdenken zu müssen. Nadja schloss die Augen und überlegte. Ja. Sie würde für heute eines ihrer Prinzipien über Bord werfen und Arbeit mit Vergnügen mischen.
»Ich bin einverstanden«, sagte sie und lächelte.
Das Eborachonn befand sich in der Nähe des Bootham Bar, eines der vier großen Tore der mittelalterlichen Stadtmauer, die die Yorker Altstadt umrahmte. Lediglich ein kleines, im Wind schaukelndes und quietschendes Schild wies auf die Existenz des Restaurants hin. Der Snickelway, der am Lokal vorbeiführte, war gut versteckt und wirkte wie ein Hauszugang. Nadja wäre mit Sicherheit daran vorbeimarschiert, hätte sie das Lokal ohne fremde Hilfe zu finden versucht.
»Der oder die Besitzer dürften nicht gerade in Reichtum schwelgen«, sagte die Journalistin leise. Ihre Worte hallten von den engen Wänden wider. »Hierher wird sich wohl kaum jemand verlaufen.«
»Ausgerechnet Sie unterschätzen den Wert von Mundpropaganda?« Darby O’Gill öffnete die schmale Tür zum Lokal und ließ ihr den Vortritt. »Heather und Iain, die beiden Besitzer, legen Wert auf Intimität und Exklusivität. Touristenaufläufe sind ihnen zuwider. Viele Einheimische schätzen die Ruhe, die ihnen hier geboten wird.«
Ausgetretene Stufen wanden sich kreisförmig hinab. In Nischen brannten kleine Petroleumlampen. Die im Wind der Abzugsklappen flackernden Flammen zauberten seltsame Bilder auf die unbehauenen Steinwände.
»Wir müssen uns unterhalb des Grundwasserspiegels befinden«, sagte Nadja nach einer Weile.
»Gut beobachtet. Der Ouse ist nicht weit von hier entfernt. Um es ein wenig zu präzisieren: Das Eborachonn liegt im Keil zwischen Ouse und Foss River. Es heißt, man könne das Wasser an zwei Seiten vorbeirauschen hören, wenn es im Lokal ruhig ist.« Er lachte dröhnend. »Allerdings wird es hier unten selten einmal ruhig.«
Die Treppe endete in einem breiten Absatz. Zwei Türen warteten links und rechts. Darby O’Gill quetschte sich an Nadja vorbei und öffnete das linke Eichentor. Es war massiv, mit schweren Beschlägen, und schwang nur langsam auf.
Ein herber Essensduft schwappte ihr entgegen, genauso wie ein wildes Durcheinander aus Gelächter, Schreien, Gezeter und vergnügtem Gesang. Die Luft war von feinen Rauchschwaden durchzogen, die darauf hinwiesen, dass die Klimaanlage dringend einer Nachjustierung bedurfte – wenn es denn eine gab.
Ein rauchig harziger Beigeschmack, den Nadja nicht einzuordnen vermochte, machte sich im Hintergrund ihrer Wahrnehmung bemerkbar. Seltsam ...
»Da bist du endlich!« Ein kleiner, dicker Mann wuselte an den eng beieinanderstehenden Tischen vorbei und kam auf sie zu. »Was für ein bezauberndes Kind du da mitgebracht hast! Enchanté, mein Fräulein. Wenn ihr mir bitte folgen wollt; ich habe den üblichen Tisch für dich reserviert, Darby. Einen Muntermacher zum Beginn, ja? Zweimal, natürlich, selbstverständlich, augenblicklich. Macht es euch bequem, Heather wird euch die Tageskarte bringen und euch mit Rat und Tat beiseitestehen ...«
Iain eilte davon, ohne Nadja oder ihren Begleiter zu Wort kommen zu lassen. Darby zuckte entschuldigend die Achseln. »Ich habe ihn noch niemals anders erlebt. Er scheint ständig unter Strom zu stehen, und das mindestens sechzehn Stunden am Tag.«
Nadja blickte sich interessiert um. Der Wirt hatte sie in den hinteren Bereich seines Lokals geführt. Ihr Tisch stand ein wenig wackelig an einen massiven, runden Holzblock gelehnt, dessen borkige Außenrinde mit unzähligen Schnitzereien übersät war. Die Journalistin sah die üblichen Sprüche wie »Kilroy was here«, sowie Herzchen mit Initialen und einer Unmenge von Jahreszahlen.
Ein Schatten huschte vorbei. Eine Frau mit verkniffenem Gesicht, die zwei mit dunkelbrauner Flüssigkeit gefüllte Cognacschwenker abstellte und handgeschriebene Blätter Papier daneben legte. Wortlos verschwand sie, wurde wiederum zum Bestandteil jener fröhlich feiernden Menschenmasse, die den Rest des Lokals ausmachte. Nur um ihren Tisch existierte eine Schutzzone, vielleicht vier oder fünf Meter breit, die niemand betrat.
Nadja griff nach dem Glas und schnüffelte misstrauisch daran. Es handelte sich um Whisky. Er besaß ein rauchiges, harziges Aroma. Vorsichtig nippte sie daran und kümmerte sich anschließend wieder um die Schnitzereien. »Sechster Februar zweiundvierzig«, las sie vor, »und daneben die Initialen A. B. Wirklich beeindruckend. Ist dieses Lokal denn tatsächlich seit mehr als sechzig Jahren in Betrieb? Wurde es vom Vater auf den Sohn weitergegeben?«
»Was den Familienbesitz betrifft, haben Sie recht. Iains Vorfahren haben das Eborachonn vor sehr langer Zeit als Trinkstube eröffnet. Als Alehouse, wie es damals genannt wurde.« Darby beugte sich vor und betrachtete die Schnitzerei mit zusammengekniffenen Augen. »Sehen Sie die beiden kleinen senkrechten Striche vor dem Vierer? Ja? – Diese Kennzeichnung entstammt altem Brauchtum beziehungsweise einer älteren Zeitrechnung. Sie deutet darauf hin, dass ein gewisser A. B. hier feierte, und zwar im Jahre des Herrn siebzehnhundertzweiundvierzig.«