14 Robert
Ein Feiertag in London
Damals:
Die butterweiche Landung am Flughafen London-Heathrow verlief bei
prächtigem, für London um diese Jahreszeit völlig ungewohntem
Wetter. Der Transit ins Zentrum der Stadt wurde zum Abenteuer der
besonderen Art: Sandra plapperte pausenlos vor sich hin und zeigte
mit ihren kleinen Fingerchen aufgeregt auf alles, was ihr bedeutend
vorkam.
Fünf Jahre war sie alt; seit drei Monaten besuchte sie die Vorschule. Wenn man den Lehrern vertrauen durfte, war sie sprachlich und künstlerisch hochbegabt und besaß dafür ein kleines Manko, wenn es ums Rechenverständnis ging.
Es war Robert einerlei, wie sich Sandra in der Schule anstellte. Sie war sein Sonnenschein, sie erfüllte sein Herz mit Freude, sobald sie lächelte oder eine ihrer altklugen, todernsten Bemerkungen fallen ließ.
Er umarmte Lisa und küsste sie. So intensiv und heftig, dass die englischen Passagiere der U-Bahn pikiert wegsahen.
»Wofür war das?«, fragte seine Frau erstaunt – und glücklich.
»Für dieses kleine Plappermonster hier«, gab Robert zur Antwort und deutete auf Sandra. »Das habe ich ausgezeichnet hinbekommen. Da du auch einen gewissen Teil der Arbeit erledigen musstest – neun Monate Schwangerschaft und drei bis vier Jahre mit durchwachten Nächten –, wollte ich mich bedanken. Natürlich hatte ich während dieser Zeit die Hauptarbeit; ich erinnere mich an mindestens drei Momente, da ich eigenhändig die Windeln wechseln musste, und einmal habe ich das Fläschchen um drei Uhr morgens aufgewärmt ... Urks!«
»Urks, ganz richtig!« Lisa schaute ihm tief, ganz tief in die Augen. Der entzückende Mund wurde zu einem geraden, lippenlosen Strich. »Wenn du nicht augenblicklich ein paar Dinge geraderückst und dich bei mir entschuldigst, drücke ich dort noch fester zu, wo sich meine Rechte gerade befindet. Ich vermute, dass du es nicht darauf ankommen lässt?«
»Aber Lisa! Was ... was sollen die Leute von uns denken? Urks!«
»Sie sollen denken, dass du in wenigen Augenblicken laut aufschreien wirst, und zwar in einem eunuchischen Tonfall.«
»Ist ... ist schon gut, ich entschuldige mich«, krächzte Robert heiser. »Ich gebe dir in allem recht.«
»Ach ja?« Sie lächelte ihn an. Wie eine Raubkatze, die mit ihrer Beute spielte.
»Es tut mir ehrlich leid.« Robert fühlte, wie der Druck um seine Leibesmitte nachließ. »Wir verdanken dieses wunderhübsche, liebenswerte Geschöpf dir.« Er küsste sie sanft.
Lisa erwiderte seine Zärtlichkeiten. »Dann hast du sicherlich nichts dagegen, wenn ich mit meiner Massage ein wenig sanfter fortfahre?«
»Aber Schatz! Was sollen die Leute von uns denken? Urks!«
London bot auch im Spätherbst viel. Piccadilly Circus, Trafalgar Square, die Kronjuwelen im Tower, Madame Tussaud’s, ein Spaziergang entlang der Themse ...
»Heute ist ein besonderer Tag, Sandra«, sagte Robert.
»Ach ja? Ist Weihnachten? Bekomme ich Geschenke?«
»Nein – dafür ist es noch zu früh, Schatz. Außerdem musst du richtig brav sein und deinem alten Papi jeden Morgen den Kaffee ans Bett bringen, damit das Christkind auch wirklich kommt.«
»Was hat dein Kaffee mit Geschenken zu tun?« Sandra ließ seine Hand los und lief vorneweg. Sie kletterte auf eine Parkbank und balancierte eine der Sprossen entlang.
»Das Christkind und ich haben eine Art Abmachung«, rief ihr Robert nach. »Es kann natürlich nicht immer und überall kleine Kinder wie dich beobachten und verlässt sich deswegen manchmal auf die Berichte der Eltern.«
»Ich glaube, du schwindelst, Papa! Das Christkind will mit Erwachsenen sicher nichts zu tun haben. Die sind viiiel zu alt!« Sandra sprang von der Bank herab und landete beidbeinig. »Aber jetzt sag endlich, was heute so Besonderes passiert!«
»Hier in England feiert man heute Guy Fawkes. Menschen verkleiden sich und ziehen durch die Straßen. Überall gibt es viel Krach und Feuerwerke. Es kann sogar ein wenig gruselig werden ...«
»Gruselig? Mit Skeletten und Toten und so? Toll, Papa! Gibt’s auch Süßigkeiten?«
»Das Blutrünstige hat sie von dir«, raunte ihm Lisa ins Ohr.
»Und die Sucht nach Schokolade von dir.« Robert grinste.
Sie marschierten weiter, hinein in den Hyde Park, vorbei an Speakers’ Corner, auf dem eine kleinwüchsige Frau von Parallelwelten und Märchenfiguren faselte. Sie achtete nicht auf die spottenden Halbwüchsigen, die sich vor ihrem kleinen Podest versammelt hatten, und redete ungerührt weiter.
»Ich wollte, ich besäße so viel Mut wie sie«, sagte Robert seufzend. »Sich einfach vor die Menschen hinzustellen und zu sagen, was man sich denkt – das war noch nie meine Sache.«
»Und das aus dem Mund des Starreporters der Münchener Abendzeitung?« Lisa lehnte sich an seine Schulter. »Du besitzt so viel Mut, dass es mir manchmal mulmig wird. Du recherchierst im Sumpf der Politiker und Wirtschaftsbosse, ziehst ihre Schweinereien ans Tageslicht und lässt die halbe Staatskanzlei in München schlecht aussehen.«
»Das ist etwas ganz anderes. Dazu gehören ein Netz an Informanten, ein wenig Köpfchen und ein stilles Kämmerlein, um meine Schreibmaschine zu malträtieren.«
»Apropos Schreibmaschine: Du solltest dir endlich einen PC zulegen, Liebling. Die sind viel praktischer ...«
»Lass mich doch zufrieden mit diesem modernen Kram. Der wird sich sicherlich nie durchsetzen.«
Es begann zu nieseln. Maskierte und Betrunkene strömten in die Richtung einer der größeren Wiesen, auf der ein riesiger Scheiterhaufen errichtet wurde. Sandra klatschte begeistert in die Hände, als Arbeiter unter dem Gejohle der Zuseher eine übermannsgroße Strohfigur daran befestigten. Staunend sah sie eine Weile zu, um irgendwann das Interesse zu verlieren und sich um die vielen seichten Pfützen auf den asphaltierten Wegen zu kümmern. Sie hüpfte trotz Roberts strenger Ermahnungen darin herum. Wasser spritzte beiseite. Sie lachte den strengen Gesichtsausdruck ihres Vaters fort und wurde prompt mit einer Riesenportion Zuckerwatte belohnt.
»Sie wickelt dich um den kleinen Finger«, sagte Lisa.
»Ich weiß. Und ich genieße es.«
»Sie wird sich in dich verlieben und mir Konkurrenz machen. Das werde ich verhindern müssen.«
»Zu spät.« Robert grinste. »Wir haben uns versprochen, in fünfzehn Jahren zu heiraten. Wenn du alt und welk bist und ich in meine besten Jahre trete.«
»Rede nur so weiter, Mann! Wenn du es am wenigsten erwartest, werde ich dich für deine Sünden büßen lassen.«
Ein wunderbarer Tag. Einer der wenigen, an denen er sich nicht den Kopf mit Ermittlungen und Recherchen zerbrechen musste. Er konnte sich entspannen und voll und ganz der Familie widmen.
»Du siehst so aus, als wärst du in Gedanken bei deinem nächsten Auftrag«, sagte Lisa.
Robert bewunderte sie für ihre rasche Auffassungsgabe – und dafür, sprunghaft von einem Thema zum nächsten zu wechseln.
»Ist das denn so offensichtlich?«
»Ich kenne deinen geistesabwesenden Blick. Dann hast du einen virtuellen Notizblock vor deinen Augen und überlegst, wie du’s angehen sollst. Also: Was ist es diesmal? Drogen? Wirtschaftskriminalität? Ein bigotter CSU-Politiker?«
»Nichts von alledem, Lisa.« Sie schlenderten am Scheiterhaufen vorbei, in Richtung ihres Hotels. Es dunkelte bereits. »Man will mich auf die Isle of Man schicken. Ich soll einen Bericht über Land, Leute und ein Motorradrennen schreiben, das dort im Frühjahr stattfindet.«
»Das hört sich nach Kulturressort an.« Sie blickte ihn streng an. »Wurdest du etwa strafversetzt?«
»Leider. Du weißt ja, wie es ist ...«
»Das ist nun das sechste Mal während der letzten drei Jahre, Robert! Kannst du dich denn nicht ein wenig zurücknehmen?«
»Noch vor wenigen Minuten hast du mir vorgeschwärmt, wie tapfer ich sei, und mich in meinen Ansichten bekräftigt.«
»Das bedeutet aber nicht, dass du’s übertreiben sollst, Mann!«
Robert lachte. »Ach was! Die Leute in der Führungsetage der Abendzeitung wissen, was sie an mir haben. Sie beugen sich – scheinbar – dem Druck der Politiker und setzen mich bei erstbester Gelegenheit wieder in meinem alten Job ein. Und die ergibt sich dann, wenn ich jemand von der gegnerischen Partei zu Leibe rücken kann. Ich muss also nur darauf achten, dass ich abwechselnd einen Roten und einen Schwarzen erwische. Ist alles eine Sache des richtigen Rhythmus. Wie beim Tanzen.«
»Weiche von mir, Satan!« Lisa gaukelte Empörung vor. »Das ist ein schmutziges Spiel, was du da spielst. Wenn ich gewusst hätte, wes Geistes Kind du bist, hätte ich niemals in deinen Heiratsantrag eingewilligt.«
»Gebettelt hast du darum, dass ich dich nehme, Weib!« Robert zog sie an sich. Ihr wunderschönes, blasses Gesicht war feucht vom Regen; sie schloss ihre grünen, kurzsichtig blinzelnden Augen, als er sie küsste. Ihre Zunge schmeckte süß, und sie roch so gut ...
»Ihr tut schon wieder doof herumschmusen!«, meldete sich eine empörte, piepsige Stimme. Sandra drängte sich zwischen sie und schob sie auseinander. »Ich mag das nicht! Meine Schulfreundinnen haben mir erzählt, dass man so Kinder bekommt. Und ich will keine Schwester!«
»Und wie wär’s mit einem kleinen Bruder?«
»Bäh! Mami, du bist unpappentitlich oder wie das heißt! Jungs stinken, sie furzen laut, und sie setzen sich nicht auf die Kloschüssel. Ihr bleibt ab jetzt auseinander, und Papi schläft heute bei mir, verstanden? Sonst macht ihr mit der Kindermacher-Schmuserei in der Nacht weiter.«
»Aber Liebes ...«
»Nein! Sagt ihr nicht immer, ich sei das Wichtigste auf der Welt? Also! Wenn ich so wichtig bin, dann darf ich auch bestimmen, was ihr macht.«
Sandra marschierte zwischen ihnen dahin und hielt sie dabei so fest, dass ihre Handrücken weiß wurden.
»Das Tyrannische hat sie von dir, Lisa!«, murmelte Robert glücklich.
»Ruhe! Ich hab dir nicht erlaubt zu sprechen, Papa!«
Das Wyatt Inn lag in einer schmalen Seitengasse der Oxford Street. Es handelte sich um ein schmuckes Hotel gehobenen Standards, und dennoch war der Straßenlärm bei offenem Fenster unerträglich.
»Und wir sollen Sandra wirklich zum Abendessen mitnehmen?«, flüsterte Lisa.
»Willst du sie allein im Hotel zurücklassen? Wenn sie aufwacht und niemand ist bei ihr ...«
»Aber sie ist doch schon so müde. Sieh nur – ihr fallen bereits die Augen zu.«
»Sie wird durchhalten, keine Sorge. Wenn wir ihr eine Portion Spaghetti versprechen und als Nachspeise Schokoladeneis, hält sie locker bis morgen Mittag durch.«
»Jetzt arbeitest du sogar schon im Familienverbund mit Bestechung, Robert Waller! Du bist ein wahres Monster.« Lisa zog ihre Strümpfe hoch und streckte ihm, eher unbewusst denn gewollt, ihren bezaubernd knackigen Hintern entgegen. Er hätte gut und gerne auf das Abendessen verzichten können. Doch er wusste, dass sich seine Frau schon den ganzen Tag auf das Dinner im topschicken »Galaxy’s« freute, dem In-Lokal der hippen Londoner Szene.
»Gefällt dir, was du siehst?«
»Öhm ...«
»Leugnen nützt nichts. Ich kann deine Blicke spüren.« Lisa richtete sich auf. »Würdest du mir bitte den Reißverschluss zumachen?«
»Das ist die billigste Anmache, die ich jemals gehört habe, gnädige Frau.«
»Erregt es dich, wenn du weißt, was ich unter dem kleinen schwarzen Kleid anhabe? Einen Hauch von Satin und halterlose Strümpfe.«
»... und einen Duft, der mich wahnsinnig macht. Wollen wir uns nicht eine Pizza aufs Zimmer kommen lassen?«
Lisa ließ sich mit ihrem Rücken gegen ihn fallen, drehte ihren Kopf zu ihm und hauchte ihm einen Kuss auf den Hals. »Die Vorfreude macht doch alles doppelt so schön. Findest du nicht?«
Sie rieb ihre Hüften an seinen Beinen auf und ab. Robert fühlte ihre Bewegungen, ihre Hitze, das Aneinanderscheuern ihrer Strümpfe.
»Wie stellst du das bloß an, dass ich dich nach all den Jahren noch immer so begehre«, seufzte Robert und küsste ihre Stirn. »Ich hatte gehofft, dass diese Gefühle nach ein paar Jahren vergehen. Ich wollte mir ein oder zwei Mätressen zulegen, einen anständigen Bauch anfressen und satt und zufrieden meinem Ende entgegendämmern. Stattdessen überraschst du mich Tag für Tag und hältst mich auf Trab. Das war so nicht geplant!«
»Irgendwann einmal könnte ich dich ernst nehmen, mein lieber Starjournalist. Und als Strafe bekommst du das!« Lisa streckte sich zu ihm hoch und steckte ihm die Zunge ins linke Ohr. Sie seufzte und stöhnte, während ihre Hände über seinen Körper wanderten. Sie packte ihn am Hintern und presste ihn so eng wie möglich an sich – um ihn im nächsten Moment wieder loszulassen. »Darüber kannst du die nächsten Stunden nachdenken.« Sie lächelte unschuldig wie ein kleines Kind. »Wenn du während des Abendessens nett zu mir bist, setzen wir diese ... Angelegenheit fort. Und im Übrigen kannst du den Mund jetzt wieder schließen.«
Robert schluckte schwer. Dann zählte er von zehn rückwärts, um seinen angeschwollenen Hormonspiegel wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen. »Sandra, wir gehen!«, krächzte er. »Papi hat Riesenhunger, und er hat’s verdammt eilig.«
Sandra spielte auf ihrem Notbett mit zwei Plüschtieren. Ihre Augen waren schwer. Wenn sie zurückkehrten, würde sie schlafen wie ein Stein.
Gut so.
Nicht jedermann beteiligte sich an dem bunten Guy-Fawkes-Treiben.
Es gab sie wirklich, diese steifen Londoner, die Melonen und Regenschirme bei sich trugen, die »Times« unter den Arm geklemmt. Sie lebten in ihrer Wirtschaftswelt und reagierten verärgert, wenn man sie aus ihrem trübseligen Leben riss.
Dann gab es die Heerscharen an Arbeitslosen, die von der seit einer schieren Ewigkeit amtierenden konservativen Regierung in eine düstere Ecke gedrängt worden waren. Die Gewerkschaften waren zerschlagen, die Sozialfonds auf das Minimum zusammengestrichen. Den Randschichten der Gesellschaft wurde eingeredet, dass sie wertlose Mitglieder einer Leistungsgesellschaft seien. Schmarotzer, die es nicht verdienten, mit ernährt zu werden. Pakistanische Kleinkrämer, indische Restaurantbesitzer, aus den ehemaligen Kronkolonien heimgeholte Farmer, Veteranen des Nordirland-Konflikts – sie alle bevölkerten die Straßen Londons. Wie auch Hunderttausende Jugendliche, die keinen Sinn in ihrem Leben fanden, und dies offen zur Schau trugen. Aggressionen waren allerorts spürbar; eine Zeitbombe hatte zu ticken begonnen, die sich irgendwann entladen würde.
Hoffentlich, so dachte Robert, sind wir dann nicht hier ...
»Du machst es schon wieder!« Lisa stampfte wütend mit einem Fuß auf.
»Wie bitte?«
»Du arbeitest! Deine gedanklichen Zahnräder bewegen sich und mahlen vor sich hin. Du beobachtest und denkst an eine Geschichte, die du schreiben könntest, statt dich auf Sandra und mich zu konzentrieren.«
»Entschuldige, Schatz. Ich hab’s nicht einmal bemerkt. Es ist nicht leicht, die Arbeit abzuschalten. Überall gibt es Anreize, in winzigen Details sehe ich den Ansatz für eine Story.« Robert seufzte. »Ich kann meinem Kopf leider nicht befehlen, dass er zu denken aufhören soll.«
»Reiß dich bitte zusammen«, flüsterte Lisa. »Zumindest für dieses Wochenende. Dies ist unser erster gemeinsamer Urlaub seit einer Ewigkeit. Sandra soll, wenn sie uns nicht mehr braucht, einen Vater in Erinnerung haben, der für sie da war und sie aufwachsen sah.« Sie stockte kurz. »Von den ... Problemen, die nur uns beide angehen, will ich heute besser nicht sprechen.«
Sie hatte recht. All die Eintracht, die sie gestern und heute bemüht zur Schau getragen hatten, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen ihnen leicht kriselte.
Robert war ein Besessener seiner Arbeit. Er empfand ungeheure Befriedigung, wenn er die Schweinereien der Mächtigen aufdecken konnte. Er fühlte sich außerordentlich wohl in seiner Rolle als Rächer des kleinen Mannes und vergaß dabei manchmal seine kleine Familie, die Bedürfnisse seiner Frau. Zärtlichkeiten, Intimitäten, romantisches Beisammensein – dies alles fand viel zu selten statt.
»Ich werde mich bessern«, gab er leise zurück. »Ich verspreche dir: Wenn der Auftrag auf der Isle of Man erledigt ist, trete ich kürzer! Wir könnten noch eine Wochenendreise machen; diesmal du und ich allein. Sandra bleibt bei deiner Mutter, und wir verabschieden uns nach Paris. Danach«, wohlige Wärme füllte seinen Leib, ließ ihn vor Vorfreude erschaudern, »setze ich mich hin und beginne mit meinem Roman. Ich hab dir von meiner Idee erzählt ...«
»Was tut ihr da herumtuscheln?«, fragte Sandra misstrauisch. Sie zupfte nervös am Saum ihres knallroten Regencapes, das sie wie Rotkäppchen aussehen ließ.
»Papa meinte, dass du das hübscheste Kind auf der Straße bist«, antwortete Lisa.
»Das weiß ich sowieso! Das sagt er jeden Tag, und deswegen muss er nicht flüstern.«
»Schon gut, Kleines. Bist du hungrig?«
»Nö. Mir tut ganz fürchterlich der Magen weh.«
Lisa blickte Robert empört an. »Das ist die Zuckerwatte! Eine Portion, halb so groß wie das Kind, hast du gekauft. Warum hast du dich bloß von ihr breitschlagen lassen?«
»Sie hat so entzückend mit den Augen geklimpert ...«
»Jetzt ist nicht der Augenblick für blöde Scherze, Mann! Wie weit ist es noch bis zum Galaxy’s?«
Robert blickte sich nach allen Richtungen um. Ringsum herrschte geschäftiges Treiben. Die Menschen strömten entlang der breiten Gehsteige der Oxford Street. Die Londoner Rushhour erreichte soeben ihren Höhepunkt. Unmengen von schwarzen Taxis, altehrwürdige Doppeldeckerbusse, Rolls-Royce-Limousinen und im Vergleich dazu armselig wirkende Jaguars zeichneten den Straßenverkehr dieses mondänen Geschäftsviertels aus.
»Ich schätze, dass es noch gut zehn Minuten zu Fuß sind«, sagte Robert, nachdem er sich orientiert hatte.
»Zu lange«, sagte Lisa bestimmt und blickte sich nun ebenfalls um. »Dort drüben ist ein kleiner Laden. Du gehst rüber und kaufst ein sanftes Mineralwasser, damit sie aufstoßen kann. Wir warten hier auf dich.«
»Mach ich. Sandra – du passt gut auf deine Mami auf, ja? Achte vor allem darauf, dass sie keinen fremden Männern hinterherschaut.«
»Aber ich darf schon schauen, oder? Vielleicht sehe ich einen, der mir besser gefällt als du.«
»Selbstverständlich.« Robert zwinkerte mit einem Auge, setzte ihr einen Kuss auf die Stirn und marschierte los. Wie immer in England blickte er zuerst in die falsche Richtung. Lisas Warnruf stoppte ihn, bevor er einen Fuß auf die Straße setzte. Er grinste entschuldigend, hauchte seiner Frau einen Kuss zu und konzentrierte sich auf den ungewohnten Linksverkehr. Er wartete, bis die nächstgelegene Ampel Rot zeigte und die Autos stoppten. Dann schlängelte er sich zwischen ihnen über die breite, vierspurige Oxford Street.
Es begann wieder zu nieseln. Ölflecken glitzerten und reflektierten die vielfältige Beleuchtung. Musik aus zwei nebeneinanderliegenden Plattenläden wetteiferte um die akustische Vorherrschaft.
»Oper gegen Punkrock«, murmelte Robert, »ausgerechnet.«
Sicher erreichte er die andere Straßenseite. Er drehte sich um. Lisa hatte sich gegen einen der großen Briefkästen der Royal Mail gestützt und ihre gemeinsame Tochter hochgehoben. Das Mädchen winkte ihm begeistert zu, als wären seine Arme Windmühlenräder.
Das sieht nicht gerade nach großen Schmerzen aus, dachte Robert, aber wer weiß das schon? Kleine Kinder sind nun mal so. Himmelhoch jauchzend und im nächsten Augenblick zu Tode betrübt. Aber es ist besser, wir sorgen uns einmal zu viel als einmal zu wenig.
Er betrat den kleinen Laden. Ein Pakistani oder Inder saß hinter einem schäbigen Tresen. Er trug einen mächtigen Turban und einen ebenso mächtigen Bart. Wie ein Eichhörnchen stopfte er sich Pistazien in den Mund und las dabei in einem Comic-Heft. Seine Backen waren voll mit Nüssen. Es roch nach Curry und anderen Gewürzen. In den eng stehenden Regalen lagen Grundnahrungsmittel, Süßwaren sowie frisches Obst und Gemüse. Neben einem Drehständer, in dem britische und ausländische Tageszeitungen eng übereinandergeschichtet waren, stand ein Drahtgestell mit T-Shirts und billigem touristischen Schnickschnack. Hinter einem Schnurvorhang konnte er Videokassetten erkennen, die wohl aus gutem Grund dort versteckt gehalten wurden.
Das Kühlregal mit den Getränken befand sich am anderen Ende des Ladens. Robert zwängte sich an einem bierbäuchigen Landsmann vorbei, der seiner völlig desinteressierten Frau in fränkischem Dialekt ein Loblied auf den englischen Klubfußball sang und ein viel zu kleines Arsenal-T-Shirt über seinen Leib legte.
Ein Perrier. Das würde der Kleinen sicherlich gut tun. Er nahm es aus der Kühlbox, ärgerte sich über den unverschämten Preis und marschierte zurück zum Eingang, um zu zahlen ...
Ohrenbetäubender Krach.
Ein Fenster, das zerbarst. Splitter, die durch den Raum schossen. Wind, der ihn durch die Luft fegte, als wäre er ein Stück Papier. Schmerz und Schreck. Alles vermischte sich zu einer Melange aus unbestimmten Eindrücken.
Er prallte heftig auf dem Boden auf und rutschte den Gang entlang, zurück nach hinten. Er riss den dickbäuchigen Landsmann und dessen Frau mit sich. Gemeinsam brachten sie ein Regal zum Einsturz, wurden unter Mehl, Bananen, Milch, Säcken voller Cashew-Kerne und Eiern begraben.
Jeder einzelne Eindruck blieb für eine kleine Ewigkeit in ihm haften. Als würde Robert durch eine Welt getrieben, die in Superzeitlupe verging, als hätte jeder Sinneseindruck eine besondere Bedeutung.
Das dumpfe Grollen endete, ein Nachrollen des Echos, das von den Häuserwänden draußen auf der Straße wieder und wieder gebrochen wurde. Ein Sirren blieb in seinen Ohren zurück. Roberts Trommelfelle hatten zweifelsohne etwas abbekommen.
Er war unter der deutschen Touristin zu liegen gekommen. Ihr Mann wimmerte vor sich hin – oder schrie er laut? Robert konnte seine Sinneseindrücke nicht richtig einordnen.
Er musste aufstehen, so rasch wie möglich! Er befreite sich aus seiner misslichen Lage und kam hoch. Ihm schwindelte. Sein Gleichgewichtssinn war völlig durcheinander, und nur unter größten Schwierigkeiten gelang es ihm, in der glitschigen Brühe, die den Boden bedeckte, auf den Beinen zu bleiben.
Roberts Rücken fühlte sich taub an; in seinem linken Arm steckte ein Stück Metall. Rings um die Eintrittsstelle färbte Blut seinen Mantel rot und zog langsam eine Fadenspur nach hinten, zum Ellbogen hin. Viele kleine Glassplitter, die ihn wie eine Voodoo-Puppe perforiert hatten.
Das alles sah ... witzig aus, und es tat überhaupt nicht weh. Robert wollte lachen, doch kamen ganz seltsame Geräusche aus seinem Mund. So etwas Ähnliches wie Schluchzen.
Plötzlich wusste er, was da nicht stimmte: Er stand unter Schock.
Die Explosion. Was war geschehen? Starb er? Waren dies seine letzten bewussten Eindrücke?
Eigentlich durfte er sich unter keinen Umständen bewegen, und es war auch falsch, falsch, falsch, dass er sich den Metallhaken mit einem Ruck aus dem Unterarm zog. Aber sein Geist war vollends von dem abgetrennt, was der Körper tat. Er folgte unverständlichen Mechanismen, die nichts mit Logik oder Richtigkeit zu tun hatten.
Durch die Reste des Mantels hindurch sah er sein faseriges Fleisch und dahinter etwas Weißes. Einen Knochen.
Langsam stolperte Robert nach vorne, auf den Eingang zu. Der Ladenbesitzer lag ausgestreckt auf dem Boden, die Augen weit geöffnet. In seiner Stirn steckte ein spitzer Glassplitter, gut und gerne dreißig Zentimeter lang. Die Zunge hing ihm aus dem Mund; ein Nussbrei tröpfelte langsam übers Kinn hinab auf seinen Hals.
Sandra! Lisa!
Er hatte sie ganz vergessen! Die Explosion war draußen geschehen. Wo waren sie? Oh Gott, bitte mach, dass ihnen nichts geschehen ist ...
Robert kletterte über den geborstenen Fensterrahmen und trat auf die Straße. Erst jetzt bemerkte er, dass er humpelte und dass sich sein rechtes Hosenbein ebenfalls blutrot färbte.
Draußen war es seltsam ruhig. Lediglich in weiter Ferne konnte er Sirenen hören, und aus einem Hydranten schoss eine Wasserfontäne steil nach oben, um sich über all die umgestürzten Autos, Busse und Taxis zu ergießen.
Gespenstische, unheimliche Ruhe, durch den Gehörsturz verursacht, packte ihn ein. Robert schleppte sich auf die Straße. In einem Sportwagen, der auf dem Dach lag und dem die Vorderschnauze zur Gänze fehlte, hingen ein Mann und eine Frau. Im Moment des Todes hatten sie sich umarmt. Er ging an ihnen vorbei, achtete nicht weiter auf sie.
Sandra. Lisa.
Lisa. Sandra.
Wo hatten sie gestanden, als er zum Kiosk gegangen war?
Den Briefkasten gab es nicht mehr. Der Gehsteig war weggesprengt, eine flache Detonationsgrube befand sich an seiner Stelle. Genau dort, wo sie auf seine Rückkehr gewartet hatten.
Nein; es konnte ihnen nichts passiert sein! Wahrscheinlich waren sie ein Stückchen die Straße entlangmarschiert, um Schaufenster anzusehen, bis er zurückkehrte. Lisa konnte keiner gut dekorierten Auslage widerstehen. Sie waren in Sicherheit.
Robert stolperte die völlig zerstörte Häuserfront entlang. So ähnlich musste es in einer von Bomben zerstörten Stadt im Zweiten Weltkrieg ausgesehen haben. Er stieg über Ziegelsteine, zerfetzte Holzteile, Glasscherben und verbogene Metallstreben hinweg. Feinster Staub legte sich über sein Gesicht. Er musste husten, den Dreck hochwürgen. Rauch- und Dampffontänen erschwerten die Sicht. Weiter vorne schoss eine Stichflamme aus einem Kanal, dessen Deckel weggesprengt worden war. Das Gas einer unterirdischen Leitung musste sich entzündet haben.
Eigentlich sollte er so rasch wie möglich das Weite suchen, bevor die Häuser links und rechts von ihm zusammenbrachen oder in einer Kettenreaktion weitere Explosionen passierten. Aber er musste doch nach Lisa und Sandra suchen! Niemals würde er sie in Stich lassen, unter keinen Umständen!
Robert torkelte weiter. Rief nach den beiden. Ließ die Leicht- und Schwerverletzten, die ihn um Hilfe anbettelten, liegen. Diese Menschen kümmerten ihn nicht. Sie waren Angehörige eines ganz anderen Universums. Hatten nichts mit ihm zu tun, schienen ihm wie Schatten. All seine Gedanken waren auf das Schicksal seiner Liebsten konzentriert.
Sie waren sein Lebensinhalt, wurde ihm mit plötzlicher Klarheit bewusst. Die Arbeit, die vielen Überstunden, die Jagd nach Sensationen, nach Ruhm und Anerkennung – es erschien ihm mit einem Mal nebensächlich.
Irgendwann verließ ihn die Kraft. Robert knickte in den Knien ein. Der Schmerz traf ihn wie eine Keule, ließ seinen Verstand zerbröseln. Er fiel nach vorne, zu schwach, den Aufprall des Kopfes mit den Armen abzufangen. Er knallte zu Boden. Seine Sicht verschwamm.
Ein Farbklecks blieb übrig, nur wenige Schritte vor ihm, auf den er sich mit aller Verzweiflung konzentrierte. Rot war er, und unter dem glänzenden Lackmaterial des Regencapes lugten zwei dünne Beinchen hervor.
Mit der Erkenntnis, wen er da vor sich sah, kam die Schwärze.