24 Nadja
Erste Hilfe
Das junge Mädchen litt unter katatonischen Krämpfen. Schaum drang aus seinen Mundwinkeln. In den Augäpfeln waren mehrere Adern geplatzt und hatten die Iris rot gefärbt. Es würgte, als würde es keine Luft bekommen.
Ein letztes, intensives Zucken – und dann blieb das Mädchen ruhig liegen. Nur noch der Brustkorb hob und senkte sich flach, ganz langsam.
»Ruft einen Arzt!«, hörte sich Nadja sagen. Sie drängte ihre eigenen Ängste beiseite und zwang sich zu regelmäßiger Atmung. »Neun-neun-neun! Rasch!«
Eine ältere Frau reagierte. Als Einzige zog sie ihr Handy hervor und begann zu telefonieren. Die anderen Menschen ringsum blieben stehen wie Götzenstatuen und starrten auf die Sterbende hinab. Manche wankten betrunken auf der Stelle hin und her, zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Andere schienen schlichtweg überfordert. Sie waren nicht in der Lage, den Ernst der Situation richtig einzuschätzen.
Nadja bückte sich, legte das Mädchen zur Seite und öffnete ihm den Mund. Grüner Schaum blubberte hervor, begleitet von kleinen Stückchen Erbrochenem.
Die Angst war vergessen. Darby O’Gill und sein Haus waren weit weg. Hier konnte Nadja nichts geschehen – und hier wurde sie gebraucht. Mit den Fingern räumte sie den Mundraum leer und ließ das Mädchen sanft auf den Rücken zurückgleiten. Ein junger Skin kniete sich neben sie. Er stopfte seine nach Schweiß stinkende Jacke unter den Nacken der Bewusstlosen.
»Versteh nich’, was mit Rhoda los is’«, sagte er in breitem, kaum verständlichen Dialekt. »Is’ einfach umgekippt, während wir rumgemacht ham.«
Nadja blickte ihn beiläufig an, während sie das Mädchen wieder in die Rückenlage brachte. Seine Kleidung drückte Aggressivität aus. Unzählige Tattoos zogen sich vom Handrücken bis zum Oberarm hoch, eines hässlicher als das andere. Der Hals des Jungen war stiernackig, der Kopf kahl rasiert, der Bauch breit und massig von zu viel Bier. Auf der Unterlippe hatte er das Wort »Hate« tätowiert. Aus den Nasenlöchern hingen zwei breite Ringe bis zum Mund herab und gaben ihm das Aussehen eines Zuchtstiers, dem bloß noch das Zugseil fehlte, mit dem man ihn zu einer Viehversteigerung schleppen konnte.
Und dennoch wirkte er in diesen Momenten wie ein kleines, völlig verunsichertes Kind, das Angst hatte.
»Sie atmet noch«, sagte Nadja, um den Burschen zu beruhigen. »Der Puls schlägt langsam, aber stetig.« Sie tastete über den flachen Bauch Rhodas. Die Muskulatur spannte sich ohne bewusstes Zutun an, immer wieder. Sie musste unter starken Schmerzen leiden. »Habt ihr heute irgendwas Seltsames gegessen?«
»Nay. Fish ’n’ Chips von einem Stand und ’n paar Lollies. Sonst ham wir uns flüssig ernährt. Hauptsächlich von Energy Drinks und Springwater. Geiles Zeug, das.«
»Hat sie irgendetwas gesagt, bevor sie zusammengeklappt ist?«
»Dass sie sich nich wohlfühlt. Schwindlig und so.« Reflexe erwachten in ihm. Wahrscheinlich das Misstrauen gegen alle, die »normal« aussahen. »Hör mal, Lassie, weißt du eigentlich, was du tust? Bist ’ne Ärztin oder so?«
»Nein. Aber da sich niemand von den Hornochsen rings um uns rührt, bin ich derzeit Rhodas beste Freundin.«
Das Mädchen richtete sich plötzlich auf, stammelte Unverständliches, schrie wie wild und schlug unkontrolliert mit den Armen um sich.
»Halte ihre Arme fest!«, wies Nadja den Jungen an. »Sie verletzt sich sonst selbst.«
Noch bevor der Skin reagieren konnte, klappte Rhoda wieder zusammen. Erneut tropfte Schaum aus ihrem Mund ...
»Sie atmet nich mehr!«, rief der Junge. »Jetzt mach endlich was, du olle Trulle!«
Nadja räumte Rhoda wieder den Mundraum frei, störte sich nicht am erbärmlichen Gestank. Dann legte sie sie auf den Rücken und begann mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Fünf mal fest drücken, einmal zuatmen. Immer wieder, mit aller Kraft.
Nichts.
»Jetzt komm schon, Rhoda!«, schrie der Junge neben ihr. »Mach kein’ Scheiß!«
Nadja ließ sich nicht irritieren. Sie fuhr fort. Blies ihr Atemluft in den Lungenraum. Wartete, bis sich der Brustkorb hob, und drückte dann mehrmals gegen das Brustbein.
Das war alles, was sie tun konnte. Vielleicht hatte das Mädchen zu viel Alkohol gehabt, zu viele Tabletten, vielleicht zu viel von beidem.
Weitermachen. Immer wieder atmen, drücken, atmen, drücken. Sich ja nicht über die gaffenden Esel ringsum aufregen. Weitermachen. Weitermachen ...
»Ist in Ordnung, Lady«, sagte jemand und schob sie sanft beiseite. »Wir übernehmen jetzt.«
»Was ...?« Nadja wollte sich nicht abdrängen lassen, erkannte den roten Kittel des Red-Cross-Mitarbeiters erst nach ein paar Sekunden. »Sorry, ich wollte nur ...«
»Ist schon gut, aber jetzt sind wir dran.« Er schenkte ihr ein berufsmäßiges Lächeln, bevor er sich mit einem Beatmungsbeutel an Rhoda zu schaffen machte. »Wir haben einen Puls; sie ist noch da. Haben Sie gut gemacht.« Das Mädchen wurde von zwei weiteren Mitarbeitern des hiesigen Roten Kreuzes auf eine Rolltrage gehoben und in Richtung eines breit gebauten Erste-Hilfe-Wagens geschoben. »Kennen Sie das Mädchen? Nein? Dann dürfen Sie nicht mit. Dort drüben steht ein Bobby. Er wird sich sicherlich mit Ihnen unterhalten wollen.«
Nadja drehte sich beiseite und blickte in die angegebene Richtung. Ein groß gewachsener Uniformierter mit im Stoff eingearbeiteten Leuchtstreifen kam auf den Wagen zu. Er wechselte ein paar Sätze mit dem Fahrer des Erste-Hilfe-Fahrzeugs. Er wirkte verwirrt, überfordert.
Nadja achtete nicht auf die Menschenansammlung, die sich nun enger um sie drückte. Die Instinkte der Reporterin schlugen an. Sie sperrte ihre Ohren weit auf, konzentrierte sich ganz auf die beiden miteinander tuschelnden Männer. Was sie nicht verstand, konnte sie anhand der Lippenbewegungen deuten. Es war ihr noch nie schwergefallen, Fremdsprachen nicht nur zu verstehen, sondern auch zu verinnerlichen.
»... ist gerade noch gut gegangen«, sagte soeben der Fahrer.
»... bei den anderen nicht so viel Glück«, meinte der Polizist.
»... kommen kaum zur Ruhe. Seit Mitternacht ... zwölfter Einsatz.«
»In der ganzen Stadt ... weit über hundert ähnliche Fälle ... mehr als zwanzig Tote.«
Sie nickten sich müde zu und trennten sich. Der Polizist kam auf Nadja zu. Er zückte Block und Bleistift und setzte einen berufsmäßig nüchternen Blick auf.
Hatte sie sich verhört? Das konnte doch nicht wahr sein! Zwanzig Tote?!
Ihr schwindelte, und mit einem Mal fühlte sie eine zentnerschwere Last auf ihren Schultern.
Wo zur Hölle war Robert? Sie brauchte ihn, wollte sich im Gespräch an ihm reiben, wie sie es so gerne tat. Dieses oft geübte Ritual half Nadja, ihr journalistisches Gespür zu Höchstleistungen zu treiben.
Der Instinkt sagte ihr, dass all die Dinge, die sie während der letzten paar Stunden erlebt hatte, miteinander zusammenhingen. Aber noch waren die einzelnen Hinweise nicht an ihrem Platz, noch saß Nadja vor einem Haufen ungeordneter Puzzleteile, ohne zu wissen, wie das Bild aussehen sollte. Ihr fehlte ein Anstoß.
Der Polizist trat vor sie hin, nickte knapp, hob seine flache Mütze und wischte sich trotz der Novemberkälte Schweiß von der Stirn. »Wir müssen uns unterhalten, Lady«, sagte er mit einem traurigen und müden Grinsen. »Sie scheinen eine der wenigen zu sein, die keinen Alkohol intus haben. Noch niemals zuvor habe ich so viele desorientierte Menschen auf einem Haufen gesehen ...«
Alkohol. Springwater.
Das war’s!
Spring. Water.