12 Nadja
Geschichte und Geschichten

Nadja verschluckte sich, musste husten und prustete einen Teil des Whiskys zur Seite, auf den kahlen Steinboden. Darby O’Gill klopfte ihr kräftig auf die Schultern, bis sie wieder ausreichend atmen konnte.

»Siebzehnhundertzweiundvierzig?«, wiederholte sie keuchend. »Sie wollen mir weismachen, dass das Eborachonn seit mehr als zweihundertsechzig Jahren besteht?«

»Schon viel länger.« O’Gill lächelte. »Sie vergessen, dass York eine alte, eine uralte Stadt ist. Die Steinmauern, die uns umgeben, wurden vor nahezu zweitausend Jahren errichtet. Und es gibt ausreichend Funde und Überlieferungen, die beweisen, dass schon vor den Römern an diesem Fluss lebhafter Handel betrieben wurde. Wir befinden uns auf historischem Boden.«

»Wasgefundendarbyundbegleitung?« Die Frau mit dem lächerlich wirkenden Kopftuch, die ihnen vor wenigen Minuten bereits den Whisky auf den Tisch geknallt hatte, stand wie hergezaubert vor ihnen. Sie war mindestens so groß wie Nadja. Ihr glattes, jugendliches Gesicht wirkte ausdruckslos. Verärgert blies sie eine struppige Haarsträhne aus den Augen.

»Wir nehmen das Tagesmenü«, bestimmte O’Gill, weiterhin freundlich lächelnd. »Ich bin mir sicher, es ist ausgezeichnet.«

»Gutewahldarby.« Heather nahm die Blätter an sich und marschierte davon. Sie schob sich zwischen zwei streitenden Männern hindurch, nutzte jede noch so kleine Lücke, um zur langen Bar im Hintergrund des Lokals zu gelangen.

»Heather redet nicht viel«, sagte O’Gill, der Nadjas Blicke richtig deutete. »Das, was sie sagt, kommt allerdings ohne Punkt und Komma aus ihrem Mund. Manchmal glaube ich, dass sie eine eigene Zeitrechnung für sich gefunden hat.«

»In York scheint man im Umgang mit der Zeit generell ein gewisses Problem zu haben.« Neuerlich betrachtete sie die Schnitzereien. Jetzt, da sie genauer hinblickte, sah sie Jahreszahlen und Zeichen, die übereinander geritzt worden waren. Schicht über Schicht hatten sich die Bürger Yorks hier verewigt, seit vielen Jahrhunderten.

»Was ist das für ein Holz?« Nadja stand auf und ließ ihre Finger über das Halbrund des Blocks gleiten.

»Eibe.« Auch O’Gill erhob sich. »Das heilige Holz der Stadt. Es ist hart und biegsam. Ideal, um daraus Bögen zu fertigen.« Er schloss die Augen und lehnte sich gegen den Stamm. »Wenn du dich konzentrierst, meinst du, die Vergangenheit spüren zu können.«

Nadja nahm das Du kommentarlos hin. Es schien ihr in diesem Umfeld nur natürlich.

»Denk dir endlose Wälder«, sagte Darby O’Gill mit entrückter Stimme. »Dunkelheit, von wenigen vereinzelten Sonnenstrahlen durchdrungen. Zwei Flüsse durchteilen das Gestrüpp, treffen nach seltsamen Irrwegen aufeinander und vereinigen sich. Die silbrig glänzenden Leiber der Lachse kämpfen gegen die Wasser an, wollen mit all ihrer Kraft zurück an die Quellen, um dort in einem letzten Kraftakt Nachwuchs zu zeugen und so ihren Lebenskreis zu schließen.«

Nadja ließ sich ebenfalls gegen den Stamm sinken. Sie meinte, eine geheimnisvolle, ewige Kraft zu spüren, die hinter der geschwärzten Borke verborgen war. Das Stimmengewirr der Yorker wurde leiser, verstummte endgültig. Um sie war das, was ihr Darby beschrieb ...

»Seltsame Gestalten schleichen durch den Wald«, fuhr der seltsame Mann fort. »Kelten sind sie. Halbwilde, die dennoch mit bemerkenswerter Überlebensintelligenz ausgestattet sind. Ihre Oberkörper sind blau und braun bemalt, die Zähne zum Teil angeschliffen. Sie halten einfache Bronzewerkzeuge und Schleuderwaffen in ihren Händen. Frauen und Kinder verschwinden im Gehölz. Sie werden nach Beeren und Feuerholz suchen. Die Männer und Halbwüchsigen hingegen steigen ins Wasser, dünne und biegsame Speere in den Händen haltend. Sie bewegen sich sachte im ufernahen Flusswasser. Sie tun dies so langsam und so unendlich vorsichtig, dass man meinen könnte, die Zeit stünde still.«

Darby O’Gills Hand legte sich über Nadjas. Sie ließ es geschehen. Es schien ihr nichts Unanstößiges in dieser Situation. Dies alles war so merkwürdig und fremd, dass sie froh darüber war, die Anwesenheit des Mannes zu spüren. Wer wusste schon, was geschah, wenn sie die Augen wieder öffnete? Würde sie sich dann im Lager der Kelten befinden – oder zurück am Ausgangspunkt dieser gedanklichen Reise, im Eborachonn?

»Die Männer jagen mit einer Geduld, die uns neuzeitlichen Menschen völlig fremd ist. Stundenlang stehen sie da, mehrere Schritte voneinander entfernt, sodass keiner die Kreise des anderen stören kann. Plötzlich, unvermittelt, stößt einer der Krieger zu. Sein Speer ruckt hinab, trifft auf zappeliges Fleisch. Er bringt seine Beute rasch hoch, lässt sie die meiste Energie an der ungewohnten Luft verlieren und beißt ihr nach geraumer Zeit an einer bestimmten Stelle in den Nacken. Das Zappeln endet. Der Mann schleudert den Lachs ans Ufer, dorthin, wo bereits ein Dutzend oder mehr dieser prächtigen, fast meterlangen Tiere liegen.«

Darby O’Gill holte Atem. Nadja konnte hören, wie er einen Schluck vom Whisky nahm.

»Am späten Nachmittag kehren die Männer zurück ans Ufer. Ihre Leiber sind blau von der Kälte, und sie zittern. Kinder und Frauen haben mittlerweile mehrere Feuerstellen und Holzgerüste errichtet. Die Lachse werden aufgebrochen, an einfache Haken gesteckt und an grobem Schnurwerk über breite Äste gehängt. Manche bereitet man fürs Abendmahl zu, andere werden geräuchert, um dem Stamm viele nahrhafte Tage zu garantieren.

Alle sind zufrieden. Dies ist ein Fleck, der dank des Flussverlaufs Sicherheit nach drei Seiten hin bietet. Die Wälder sind reich an Wild und Früchten, das Wasser frisch. Krebse, kleine und große Fische garantieren ausreichend Nahrung für die dunklen Jahreszeiten.

Der Stammesführer beschließt, dass sie hier ihr Winterquartier aufschlagen werden. Bäume werden gefällt, Fallen gelegt, erste und primitive Waldhäuser entstehen, deren Fundamente nach und nach mit Steinen verbessert werden, welche die Kelten in der Umgebung finden. Dank mehrerer umsichtiger Raubzüge gelangen sie an Vieh, das sich in engen Stallungen halten lässt. Schafe und Waldrinder.

Das erste Jahr vergeht. Ein Wanderer, der sich dank kleiner, aber wichtiger Handelswaren ein bescheidenes Leben erwirtschaftet, entdeckt den Stamm. Er tauscht Haken, Gemmen sowie Speerspitzen gegen gegerbtes Leder, und er verspricht, in regelmäßigen Abständen wiederzukommen.«

Darby O’Gill seufzte entrückt. »Was auch immer die Kelten dazu bewogen hat, ausgerechnet hier ein provisorisches Lager aufzubauen – sie beschließen nun zu bleiben. In ihrer seltsamen, gutturalen Sprache geben sie dem Platz, an dem sie siedeln, eine Bezeichnung. Ein einfaches Wort, das ihre neue Heimat am besten beschreibt. An einem der letzten großen Bäume, die im spitzen Winkel zwischen den beiden Flussbetten übrig geblieben sind, ritzen sie Zeichen ein.«

O’Gill zog Nadjas Hand mit sich und ließ sie über eine Stelle weiter unten, in Kniehöhe, gleiten. Sie spürte zwei ineinandergeschnittene Rauten, um die ein Kreis gelegt worden war.

»Dieser neue Ort sollte ›Platz der Eibenbäume‹ heißen. Oder, um im Keltischen zu bleiben: Eborachonn. Die Römer lateinisieren später diesen Begriff und nennen den wachsenden Ort Eboracum. Angelsachsen, die die Besatzer vertreiben, formen den Begriff Eoforwic, der ähnlich klingt, aber eigentlich Wildschweinstadt bedeutet. Erst die nächsten Besatzer, wilde Wikingerstämme aus dem heutigen Schweden, vergeben einen eigenständigen Begriff. Sie nennen den Fleck Jorvik, was in den nordischen Sprachen so viel wie Pferdebucht bedeutet. Erst die einfallenden Normannen etablieren nach ihrer Invasion im Jahre 1066 den letztgültigen Namen York ... «

Nadja fand in die Wirklichkeit zurück, in das überfüllte, von Rauchschwaden durchzogene Lokal. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Was war mit ihr geschehen? Die Bilder, die sie vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte, waren so intensiv und deutlich gewesen, dass sie gemeint hatte, selbst ein Mitglied dieses keltischen Stammes gewesen zu sein. Sie hatte Blütenduft gerochen, rauchiges Feuer und die Ausdünstungen der Tiere, die durch die Ansiedlung getrieben worden waren ... Diese Reise durch die Zeit, zum Ende hin stark gerafft vorgetragen, hatte Nadja beeindruckt.

»Nimm noch einen Schluck«, empfahl Darby O’Gill und reichte ihr das Glas. Sie nippte daran und genoss die innere Wärme.

Eine seltsame Hitze in Nadjas Nacken erschreckte sie. Sie stieß sich vom zerkratzten und zerschnittenen Holzstamm ab und setzte sich hin.

»Und?«, fragte ihr Gegenüber. »Gefällt dir meine Geschichte?«

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht recht, was ich damit anfangen soll. Sie klingt wie eine wahre, überlieferte Schilderung, die all die Jahrtausende überdauert hat. Aber das ist unmöglich ...«

»Ist es das?« Darby O’Gill lächelte. »Wir befinden uns in England; in jenem Land, das seine Historie wie kein anderes lebendig hält und pflegt. Denk an den Kreis der Artussagen, die selbst heute noch Schriftsteller im Dutzend inspirieren. Denk an die Erzählungen um Richard Löwenherz und Maid Marian. Oder an all die Märchen um Elfen und Feen, das Kleine Volk und Kobolde. All dies besitzt einen wahren Kern oder einen gewissen historischen Hintergrund.«

Nadja hielt die Luft an. War dies Zufall, oder wusste Darby aus welchen Gründen auch immer über Rian, David und die Anderswelt Bescheid?

Was für ein seltsamer Kerl! Mit allem, was er tat und sagte, brachte er sie in Verlegenheit und kratzte an ihrer Selbstsicherheit.

»Ich bin Journalistin.« Mühsam fand Nadja zu sich zurück. »Ich benötige Fakten und Wahrheiten, um glauben zu können. Was du mir erzählt hast, ist meiner Meinung nach ein schönes Märchen ...«

»Das sind die Ansichten der Journalistin«, unterbrach sie Darby. »Was aber sagt die Frau?«

»Dass du ein charmanter, aber auch ein sehr manipulativer Mensch bist. Du tust alles, um mich um den Finger zu wickeln.« Nadja lächelte unverbindlich. »Ich vermute, dass du diese Begabung im Geschäftsleben ausnützt.«

»So unverblümt wie möglich.« Darby O’Gill erwiderte ihr Grinsen. »Es hat aber weniger mit Charme als mit echter Leidenschaft zu tun. Was auch immer ich mache – es kommt aus dem Herzen.«

»Das soll ich glauben?«

»Vertraue einem alten Mann wie mir.«

Darby O’Gill mochte vierzig Jahre alt sein und damit nicht viel jünger als Robert. Aber was für ein Unterschied war zwischen den beiden zu erkennen! Dort ihr treuer Fotograf, Robert, der Zweifler und Nörgler. Eine schwierige Persönlichkeit, die immer wieder einen Schubs benötigte, um irgendeine Entwicklung durchzumachen. Hier der erfolgreiche Geschäftsmann, der stets vorwärtsstrebte. Ein streitbarer Mensch, zweifelsohne – aber einer mit Charakter.

»Dabittedasessen!«

Heather erschien, knallte ihnen voll beladene Holzteller, Garlic Toast, Besteck und billige Einwegservietten vor die Nase und verschwand wieder.

Angeekelt blickte Nadja ihre Mahlzeit an. »Bewegt sich da drin noch irgendetwas, oder kann man es essen?«, fragte sie misstrauisch und deutete mit der Gabel in den weißgrauen Matsch.

»Nur keine Angst. Du kannst beruhigt zugreifen. Es wird dir schmecken, auch wenn der Anblick ein wenig ungewöhnlich erscheint.«

»Ich esse ungern Dinge, die ich nicht kenne.«

»Das ist Haggis«, sagte Darby und fuhr mit seinem Esswerkzeug in die Riesenportion vor seiner Nase. »Eine schottische Spezialität, wie du vielleicht weißt.«

»Schafsinnereien! Bäh!«

»Lunge, Herz und Nieren des Schafs, klein gehackt, mit Zwiebeln, Hafermehl und viel Pfeffer versehen. Ausgeschwemmt mit Whisky und anschließend in einem Naturdarm zur Lagerung verpackt. Über einer Flamme leicht angeröstet, bis der leicht alkoholische Beigeschmack in den Haggis eingezogen ist.« Er kostete und verdrehte genussvoll die Augen. »Köstlich!«

»Ich dachte, du bist Ire?« Nadja stocherte lustlos in dem dunklen Essensbrei herum. Sie kostete eine Gabelspitze voll und fand ihren Verdacht bestätigt; ihre Geschmacksnerven revoltierten gegen den ungewohnten Geschmack. Zu guter Letzt nahm sie vom Kochgemüse und den Kartoffeln, die das Hauptmahl garnierten.

»Sowohl – als auch«, sagte Darby O’Gill mampfend. Er schwang seine Gabel wie einen Dirigentenstab, während er munter weiterredete. »Lass dich von meinem Namen nicht täuschen. Meine Vorfahren stammen aus vielen Teilen der Britischen Inseln. Aus Nordengland, von der Westküste Schottlands, von den Aran Islands am Rande Irlands – dort überall sitzen nahe und ferne Verwandte.«

»Und deine Destillerie?« Nadjas Neugierde und ihre journalistischen Reflexe kehrten mit einem Schlag zurück. »Wo befindet sie sich?«

»Ganz in der Nähe. Dreißig Meilen nördlich von York. Näher an seinem Quellgebiet ist das Wasser des Ouse an einigen Teilstrecken von kristallklarer Konsistenz. Beste Trinkwasserqualität, meine Liebe!«

»Und dort stehen deine Abfüllanlagen?«

»So ist es.«

»Wie lange arbeitest du denn schon in dieser Branche?«

»Nicht lange genug. Ich war früher in der Immobilienbranche tätig und machte ein kleines Vermögen, das ich teilweise in den Aufbau der Destillerie investierte. Vor fünf Jahren wurden die ersten spanischen Eichenfässer gefüllt. Noch besitzen die Jahrgänge nicht die notwendige Reife und Güte, um den großen schottischen und irischen Firmen den Kampf ansagen zu können. Du weißt sicherlich, dass der Alkohol über Jahre oder Jahrzehnte hinweg gelagert gehört, bis er sein Bukett entfaltet? – Um die Zeit bis dahin zu überbrücken und gewährleistet zu bekommen, dass mein Geld arbeitet, bin ich auf das Springwater-Konzept gekommen. Ich verwende geringe Teile meines Whisky-Bestandes und vermenge sie mit Fruchtsäften und mehreren Würzstoffen, die ich zum Teil aus dem Saft der Eibe gewinne.«

»Moment mal! Sind Eiben nicht giftig?«

»›Allein die Menge macht das Gift!‹, um es mit Paracelsus zu sagen.« Darby lächelte. »Eibensaftextrakte werden zum Beispiel auch bei der Gewinnung von Zytostatika, also von Krebsmedikamenten, verwendet. Ich werde den Teufel tun und dir etwas über die Zusammensetzung des Springwater verraten, und wenn du mich noch so viel löcherst. – Kann ich deine Haggis-Portion haben, wenn du sie partout nicht anrühren willst? Danke. – Ich investiere viel in Werbung und Public Relations. Diese Guy-Fawkes-Veranstaltung bot sich an, um herauszufinden, wie gut mein Springwater-Konzept ankommt. – Köstlich, was Iain da gekocht hat! Du weißt nicht, was du versäumst.«

»Die Idee mit Springwater hat also nichts mit deinen ursprünglichen Plänen in der Destillerie zu tun?«

»Keinesfalls!« Darby blickte Nadja verwundert an. Als ob er nicht glauben könnte, dass sie eine derartige Idee wälzte. »Das Springwater-Konzept entspringt einzig und allein einem wirtschaftlichen Kalkül. Mein eigentliches Ziel ist es, den besten Whisky landesweit zu brennen und damit den Großen den Kampf anzusagen.«

»Das hört sich sehr kriegerisch an. Glaubst du denn, dass du den Schotten, Iren und vor allem Amerikanern auf dem internationalen Markt beikommen kannst?«

»Selbstverständlich.«

Darby O’Gill sagte es leise und dennoch mit viel Selbstvertrauen. So als wüsste er, dass er sein Ziel auf jeden Fall erreichen würde.

Nadja lehnte sich zurück. Sie meinte, das Rauschen des Ouse und des anderen kleinen Flusses – wie hieß er doch gleich? Ach ja: Foss River! – hören zu können. Sie fühlte sich seltsam aufgekratzt und nach wie vor hungrig. Das Mischgemüse und ein paar Bissen Kartoffel hatten sie nicht satt gemacht.

Heather tauchte wieder einmal wie aus dem Nichts auf und räumte den Tisch sauber. Sie brachte zwei Portionen glitschigen Puddings mit sich, die Nadja mit Darbys Erlaubnis beide aß. Sie brauchte ein paar Augenblicke Ruhe, um nachzudenken. Sie musste verarbeiten, was ihr Begleiter erzählt hatte. Sein beruflicher Ehrgeiz war groß, und seine Ansätze klangen vernünftig, wenn die Ziele auch sehr hochgesteckt waren. Und dennoch; irgendetwas erschien ihr faul an der Sache. Bei den wichtigsten Informationen blieb Darby seltsam schwammig. Sie würde nach dem Abendessen noch ein paar Recherche-Einheiten absolvieren müssen, um mehr über seine Familie und sein geschäftliches Umfeld herauszufinden.

»Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte er, nachdem er eine Weile geschwiegen und mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl auf und ab geschaukelt hatte.

»Eigentlich bin ich so müde, dass ich auf der Stelle einschlafen könnte.«

»Du lügst und nicht einmal besonders charmant.« Darby O’Gill beugte sich weit zu ihr vor. »Bin ich denn so uninteressant, dass du nicht noch eine halbe Stunde für mich opfern willst?«

»Na schön. Aber nicht länger. Mein Aufpasser wird unruhig, wenn ich nicht vor Mitternacht in unserem gemeinsamen Hotel auftauche.«

»Dieser Fotograf? – Mach dir keine Sorgen. In York herrscht heute Ausnahmezustand. Da geht niemand vor den frühen Morgenstunden zu Bett. Sicher auch nicht dein Kumpel.«

»Wofür wahrscheinlich deine bildhübschen Damen vom Catering-Service verantwortlich sind, nicht wahr? Sicherlich sind sie angewiesen, Springwater die ganze Nacht hindurch gratis anzubieten.«

»Du kannst in mir lesen wie in einem Buch.« Darby grinste spitzbübisch.

Das Lachen stand ihm gut. Es wischte die Züge des harten Geschäftsmanns beiseite und ließ ihn noch jugendlicher aussehen, als er ohnehin schon wirkte.

Er übte einen unerklärlichen Reiz auf sie aus. Nadja war kein Mädchen, das sich von Reichtum und Erfolg blenden ließ. Doch bei Darby verspürte sie ein seltsames Kribbeln, das ihr selbst ganz und gar nicht recht war.

»Eine halbe Stunde also«, sagte sie. »Wohin willst du mich bringen?«

»Es ist nicht weit. Und es soll eine Überraschung sein. Also lass dich von mir führen.«

Sie standen auf. Darby ließ ausreichend Geld auf dem Tisch liegen, grüßte Iain aus der Ferne, und gemeinsam verließen sie das Eborachonn. Nadja fühlte, dass seltsame Schwummrigkeit ihren Kopf erreichte. Offenbar setzte ihr der Whisky mehr zu, als sie geglaubt hatte.

Zum Teufel: Hatte Darby gesagt, dass er sie führen oder verführen wolle?

Mehr als hundert Stufen ging es hoch, raus aus dem tief liegenden Kellergeschoss, zurück an die frische Luft. Nadja atmete kräftig durch. Überall knallten Feuerwerkskörper. Durch den Snickelway hatte sie Ausblick auf ausgelassenes Treiben, das in einem der größeren Straßenzüge herrschte. Ein paar ernsthaft dreinblickende Würdenträger trieben ein Rollgestell vor sich her, auf dem eine Guy-Fawkes-Puppe aus Stroh verbrannt wurde. Dahinter bewegte sich ein zweiter Wagen, auf dem eine Bischofsfigur ein ähnliches Schicksal ereilte.

»Diese Figur stellt den Papst dar«, sagte Darby O’Gill gut gelaunt. »Der Brauch stammt noch aus den alten Tagen. Als Guy Fawkes hingerichtet wurde, befand sich die anglikanische Kirche noch in den Anfangsjahren. Der Feiertag des fünften November steht deshalb für eine gelungene Emanzipation von Rom.«

»Hm.« Das Treiben, so ausgelassen und heiter es auch wirkte, barg trotz alledem einen gewissen Konfliktstoff. Und es zeigte ihr, wie anders die Inselbewohner im Grunde genommen waren.

»Können wir?«, fragte Darby. Sein Gesicht leuchtete im Feuer der Fackeln. Es verlieh ihm einen diabolischen Anstrich.

»Ja, gerne. Wohin müssen wir gehen?«

O’Gill deutete nach oben.

»Ich verstehe nicht ...«

»Zurück ins Haus, hinauf in den ersten Stock. Der Eingang ist hier.« Er zog Nadja mit sich. Eine hölzerne Tür, die durch einen rostigen Eisenring zu öffnen war, gab dem kräftigen Zug ihres Begleiters nach.

»Ich glaube, das ist keine gute Idee. Ich sollte jetzt wirklich gehen ...« Nadja fühlte sich von Augenblick zu Augenblick unbehaglicher. Wo war sie da hineingeraten? Zeigte der Wolf im Schafspelz endlich sein wahres Gesicht?

»Vertraust du mir denn so wenig?«

Licht aus einer trüben Funzel sprang an. Die Glühbirne besaß eine altertümliche Form. Es dauerte lange, bis sie zu einigermaßen ausreichender Leuchtstärke fand. Sie zeigte Nadja die ersten Stufen einer steinernen Wendeltreppe, ähnlich jener, die ins Eborachonn hinabgeführt hatte. Diese hier krümmte sich in engem Radius nach oben.

»Das Haus gehört mir«, sagte Darby O’Gill. »Es ist nicht nur wegen des Eborachonn etwas Besonderes. Ich möchte dir zeigen, was es oben zu bieten hat.«

»Warum hast du mir das nicht früher gesagt?« Nadja schüttelte den Kopf. Darby verabreichte seine Informationen in sparsam bemessenen Apothekerdosen. »Ich hätte es lieber, wenn du in Zukunft mit offenen Karten spieltest.«

Ihr Begleiter blieb am Treppenabsatz stehen und drehte sich zu ihr um. Ernst sagte er: »Ich bin Geschäftsmann. Ein erfolgreicher noch dazu, wenn ich den Zahlen meiner Bankkonten vertrauen darf. Misstrauen ist Teil meiner beruflichen Existenz. Würde ich nicht gewisse Vorsichtsmaßnahmen treffen, wäre ich bereits vor vielen Jahren gescheitert. Du musst verstehen, dass ich jedes Wort abwäge, das ich in der Öffentlichkeit von mir gebe. Umso mehr, als du als Aufdeckungsjournalistin sozusagen meine natürliche Todfeindin bist.«

»Hast du denn etwas zu verbergen?« Sie wischte ihren eigenen Einwand mit einer Handbewegung zur Seite. »Vergiss, was ich gesagt habe. Doch bevor wir uns deine Überraschung ansehen, möchte ich eine Klarstellung von dir: Was an unserem Essen war offiziell? Stammten die Erzählungen über die Gründung der Stadt York und deine geschäftlichen Ambitionen vom Geschäftsmann oder vom Privatier Darby O’Gill? Wolltest du einen Abend in angenehmer Gesellschaft verbringen, oder wolltest du der Reporterin Rede und Antwort stehen? Zeige mir bitte schön, wo die Grenzlinie verläuft, damit ich mich darauf einstellen kann!«

Darby setzte zu sprechen an, ließ es aber bleiben und blickte sie lange Zeit bloß stumm an. »Du entwickelst eine besondere Schönheit, wenn du wütend bist. Dann zeigst du die wahre Nadja; dein Kämpferherz und deine stürmische Natur.«

»Du tust es schon wieder!« Empört stampfte die Journalistin mit dem rechten Bein auf dem Boden auf. »Du gibst keine zufriedenstellenden Antworten und lenkst vom Thema ab. Du schämst dich nicht einmal, mir halbseidene Komplimente zukommen zu lassen und mich offen zu umgarnen!«

»Gefällt es dir etwa nicht?«

»Hör gefälligst auf!«, rief sie. Wütend über sich selbst; darüber, dass sie diesen Mistkerl anziehend fand, und darüber, dass er wusste, welche Wirkung er auf sie ausübte.

Ein dumpfes, gefährliches Knurren ertönte. Es kam von oben.

»Was war das?«, fragte Nadja leise.

»Du hast Cara aufgeweckt«, antwortete Darby O’Gill, »meinen Hund. Er ist sanftmütig und besitzt ein goldenes Herz. Aber er mag es ganz und gar nicht, wenn man unhöflich zu mir ist.«

»Dann sollte ich wohl nach Hause gehen«, wiederholte Nadja patzig.

»Jetzt hör endlich auf! Ich garantiere dir, dass du etwas zu sehen bekommst, was du dein Lebtag nicht vergessen wirst. Etwas, das nur die wenigsten Menschen kennen.«

»Sprichst du nun mit der Reporterin oder mit dem Menschen Nadja Oreso?«

»Mit beiden.« Er fasste sie an der Hand und zog sie mit sich. Er tat es mit überraschender Sanftmut. Nadja sträubte sich kurz, folgte ihm aber schließlich doch. Ihre Neugierde, ihr journalistisches Interesse besiegte das ungute Gefühl im Magen, das sich immer dann einstellte, wenn es aus irgendeinem Grund gefährlich wurde.

Die steinerne Wendeltreppe wand sich eine ganze Drehung nach oben. Kabel lagen blank am Mauerwerk, mit billigen Wandhaken fixiert; nackte Glühbirnen erzeugten Licht, das Nadja gerade ausreichte, um nicht über die unregelmäßig geformten Stufen zu stolpern.

Eine blitzblank polierte Stahltür überraschte sie am Ende des Aufstiegs. Zwei winzige Kameras lugten aus gegenüberliegenden Ecken auf sie und Darby herab.

»Das kommt ein wenig unerwartet«, sagte Nadja, als ihr Begleiter an einem weichen Pad einen Fingerscan durchführte. »Hier hätte ich eine derartige Hightech-Ausstattung am allerwenigsten erwartet.«

»Ich möchte weder auf Komfort noch auf die Annehmlichkeiten moderner Technik verzichten. Und schon gar nicht auf ausreichenden Schutz. Nur weil das Haus alt ist, heißt das nicht, dass ich selbst wie im Mittelalter hausen muss.«

Die Knurrgeräusche hinter der Tür wurden immer lauter, immer intensiver. Erst als der Eingang langsam nach innen aufglitt und sich Darby hineinquetschte, schlug der bedrohliche Ton in begeistertes Jaulen um.

»Ist schon gut, Cara«, sagte Darby, »beruhige dich! Ich mache dir ja gleich dein Fressen. Es wäre mir recht, wenn du zuerst meine Begleiterin begrüßt. Du brauchst keine Angst vor ihr zu haben; sie tut dir nichts.«

Nadja betrat den Vorraum. Er war schmal und niedrig, septisch weiß und ließ kaum ausreichend Platz für sie und Darby ...

... und dieses ungeheure Monster von einem Hund, das seine Vorderpfoten auf die Schultern seines Herrn gelegt hatte und ihm begeistert übers Gesicht schlabberte.

»Ist ... ist das eine Art Rind?«, fragte Nadja. Sie war mehr verwundert denn erschrocken.

»Nein. Cara ist ein irischer Wolfshund. Einer der Größeren seiner Art. Ein absolut liebenswürdiges Tier. Treu und gut erzogen, ohne irgendwelche Marotten.«

»Bist du dir sicher, dass Cara mir nichts tut?«

»Mein Wort reicht. Ich besitze eine besondere Affinität zu Hunden.« Darby kraulte Cara hinter dem strubbeligen Ohr und klopfte ihm dann fest gegen die Rippen. Es hörte sich an, als würde er gegen einen Stahlbehälter trommeln.

Endlich ließ Cara von Darby ab und fiel auf seine zotteligen Pfoten zurück. Das Vieh, sicherlich fünfzig Kilogramm schwer, trabte auf Nadja zu, beschnüffelte sie sorgfältig auf Brusthöhe und drehte sich dann gleichgültig um. Ein letzter, irgendwie hochmütig wirkender Blick, dann kümmerte sich der Hund nicht mehr um sie.

»Komm weiter«, forderte Darby Nadja auf. »Du kannst die Schuhe anlassen, wenn du willst.«

Nein, wollte sie nicht. Ihre Füße taten weh. Seit mehr als zwölf Stunden war sie in der Stadt unterwegs. Sie sehnte sich danach, die Beine auszustrecken und hochzulegen.

Darby wartete geduldig, bis sie ihr Schuhwerk abgelegt hatte. Erst dann öffnete er die angelehnte Tür. Er ließ sie einen Schritt vorbei machen und legte ihr, bevor sie sich umsehen konnte, die Hände schwer auf die Schultern. Er flüsterte ihr ins Ohr: »Bitte schließe die Augen. Ich möchte dich die letzten paar Schritte führen.«

Nadjas Herz schlug rasend schnell. Ein seltsames Gefühl überkam sie. Sie würde jegliche Kontrolle über die Situation verlieren, wenn sie sich seinem Wunsch beugte. Und dennoch ... der Augenblick barg etwas ungeheuer Reizvolles. Als würde sie auf der Plattform eines Turms stehen, nur durch ein Bungee-Seil gesichert, und in den Abgrund hinabblicken.

Sie entspannte sich, schloss die Augen und ließ Darby gewähren. Sie war zu weit gegangen, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Nadja fühlte sich ein paar knarrende Holzstufen hinabgeführt. Es hallte leicht. Das Zimmer musste groß und hoch sein; sehr ungewöhnlich für alte Bausubstanz.

»Es riecht frisch«, sagte Nadja und atmete tief durch, »und ich spüre einen leichten Luftzug. Hast du dir eine Art Terrassenwohnung bauen lassen?«

»Es ist etwas anderes. Ruhig jetzt. Stell dich hier hin und gib mir deine Hand. So ist es gut. Was fühlst du?«

»Holz. Es fühlt sich so ähnlich wie der Block unten im Eborachonn an. Rissig, und ich glaube, da sind auch wieder diese Schnitzereien. Hast du mich etwa hierher geschleppt, um mir einen ähnlichen Holzstumpf zu zeigen?«

Darby O’Gills Hände entfernten sich. »Öffne jetzt die Augen«, sagte er sanft.

Nadja musste blinzeln. Sie drehte den Kopf nach oben und blickte in grelles Licht, das teilweise von Blätterwerk verdeckt wurde, an dem hagebuttenähnliche Früchte hingen.

»Du hast dir einen Baum in deine Wohnung verpflanzen lassen!«, staunte sie.

»Nein.« Darbys Stimme klang verärgert. »Du siehst bloß das, was du sehen willst, anstatt deine Fantasie spielen zu lassen. Was habe ich dir während des Essens erzählt?«

»Du meinst die Geschichte von der Gründung der Stadt?« Nadja blickte nach unten. Wie sie es sich gedacht hatte, war der Baum über und über mit Schnitzereien bedeckt. Nach wie vor hielt sie eine Hand gegen das Holz gepresst.

Da war keine aufgeschüttete Erde, kein Boden, in dem der Baum – eine Eibe? – Wurzeln schlagen konnte. Rings um den Stamm befand sich ein schmaler Spalt, durch den sie nach unten sehen konnte. Es war dunkel. Eine Steinmauer umgab dort den kerzengeraden Stamm des Baumes, der von viel weiter unten hochragte. Gelächter und leise Stimmen wehten herauf.

»Klingelt’s?«, fragte Darby O’Gill. Wiederum war er näher getreten. Sein Atem streifte über ihre Schultern.

»Das dort unten war kein ausgeschnittener Holzblock, der das Eborachonn verzierte«, sagte Nadja, »sondern der unterste Teil des Stammes.« Sie konnte das Zittern in der Stimme nicht vermeiden.

»Und? Findet die Journalistin auch noch zu einem weiteren Schluss, so unwahrscheinlich er auch sein mag?«

Seine Hände tasteten über ihre Schultern und begannen zu massieren. Sie fühlte sich seltsam leicht und ... entrückt. Als schwebte sie außerhalb ihres Körpers und würde auf sich selbst hinabblicken.

»Dies ist der Baum aus deiner Geschichte, und sie ist wahr. Er hat York seinen ursprünglichen Namen gegeben. Die Kelten haben ihre Zeichen hier eingeritzt, die Römer ihre Steinwälle ringsum gebaut. Angelsachsen, Sachsen, Skoten, Wikinger und Normannen eroberten die Stadt. Sie kamen und gingen. Der Baum jedoch blieb. Er ist ... wie alt?« Sie schob Darbys Hände sanft beiseite und drehte sich zu ihm um.

»Er muss bereits mehr als zehn Meter hoch gewesen sein, als sich die Kelten ansiedelten. Und das war vor mehr als zweitausendfünfhundert Jahren.« Ernsthaftigkeit sprach aus seinen Augen. »Wenn du es so willst, ist er der Wächter der Stadt.« Darby lächelte und wechselte abrupt das Thema. »Wusstest du, dass die beerenähnlichen Früchte der Eibe, Arillus genannt, in alten Zeiten als starkes Aphrodisiakum galten? Schon ihr Geruch, so sagte man, verwirre die Frauen.« Er beugte sich zu ihr herab und küsste sie sanft auf die Stirn.

Nadja ließ es geschehen.