3 Gofannon
Täuschung und Tarnung
Gofannon überlegte während des langen Fußmarsches, inwiefern Fanmórs Tod der Königin nutzte. Immerhin besaß er als Hoher Herr das Recht, den Grauen Herrn von Annuyn um drei Prüfungen zu bitten, um in seinen Lebensbereich zurückkehren zu dürfen.
Zweifelsohne war der alte, erfahrene Elfenriese dazu in der Lage.
Aber, so dachte Gofannon, spekulierte Gwynbaen damit, in der Abwesenheit ihres Widersachers das Reich der Sidhe Crain vollends zu erobern und ihre Machtansprüche so weit einzuzementieren, dass Fanmór ihr nicht mehr gefährlich werden konnte? Ja – so musste es sein.
Er nutzte die alten Wege. Sie führten ihn sicher über Schlachtfelder, an Ruinen und Heldendenkmälern vorbei. Die Gesänge der Erynnen, die um die Gefallenen beider Seiten trauerten, rührten ihn nicht. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen. Nichts und niemand würde ihn davon abhalten.
Biá trug sich angenehm. Das Wasser an seiner Oberfläche zeigte keinerlei Auswirkung auf seine eigene Befindlichkeit.
Nun – er war kein Elf. Er war ein Gott. Seine Schwachstellen lagen ganz woanders. Bereits vor Jahrtausenden hatte er sie in den Hinterkämmerchen seiner Erinnerungen abgelegt. Nur ein einziges Wort, das vielleicht eine Handvoll Wesen der Weltenkreise noch sprechen konnte, würde ihn dazu bringen, sich diese Erinnerungen bewusst zu machen – und damit seine Schwächen zu offenbaren.
Kentauren, die an Fanmórs Seite kämpften, blähten ihre Nüstern auf und witterten. Sie blickten in seine ungefähre Richtung, während er unsichtbar zwischen ihren Reihen hindurchglitt. Sie mochten mit ihren phänomenal gut ausgeprägten Riechorganen seine Witterung aufnehmen, ihn aber sicherlich nicht entdecken.
Zwerge aus einer verhassten, abtrünnigen Sippe sicherten den äußeren Lagerkreis Fanmórs ab. Sie grölten laut vor sich hin, schlugen schartige Bronzeschwerter gegeneinander und spuckten sich gegenseitig in die Bärte. So, wie sie es taten, wenn sie schlechter Laune waren. Und Zwerge waren fast immer schlechter Laune.
Es war ihm ein Leichtes, ihre Sperre zu durchdringen. Gofannon trat den Anführer der Knollennasigen in den Hintern und flüsterte ihm ein paar unflätige Bemerkungen über den Kinnbart seiner Schwester ins Ohr. Der Zwerg zog sein Breitschwert, tat einen mächtigen Brüller und hieb mehreren Umherstehenden die Flachseite der Klinge über das Haupt. Binnen Kurzem war eine heftige Auseinandersetzung im Gange. Das Lager geriet in Aufruhr. Schlafende schreckten hoch, sinnlose Kommandos wurden gebrüllt, erste Steine geworfen.
Gofannon marschierte unberührt weiter. Leider waren nicht alle Völker, die Fanmór zur Seite standen, derart blöd wie die Zwerge dieser Sippe.
Ein mystischer Flammenteppich war das nächste Hindernis, das es zu überwinden galt. Achtarmige Wächter zeichneten auf der anderen Seite des Schutzwalls seltsame Bilder in die Luft und stabilisierten Schutzgeister, die auf dem Feuermeer dahintrieben. Die ektoplasmischen Wesen flüsterten gefährliche Flüche, die selbst in ihm, dem Gott, Gefühle des Unbehagens erzeugten.
Nun galt es, sich in Geduld zu üben. Die Aerins genannten Wächter galten als unzuverlässig. Irgendwann würde einer von ihnen in seiner Aufmerksamkeit nachlassen und seinen Posten verlassen. Besonders, wenn er ...
Ja. Die Idee schien ihm durchführbar.
Er ließ ein wenig Ohrenschmalz zu Boden träufeln und tränkte es mit einer Träne der Trauer. Gofannon massierte den Sud in den vom Blut der Kämpfenden roten Boden ein und murmelte ein paar Worte. Der Ermunterungsspruch beschleunigte das Wachstum des herbeibeschworenen magischen Dornengewächses, ließ es rasch dem Himmel entgegenwachsen.
Eine halbe Stunde musste Gofannon warten. Dann entfaltete sich der Geruch der dunkeldunkelschwarzen Blüten. Pollenknäuel zerplatzten, verteilten weiteren Samen über das ehemalige Schlachtgelände.
Er blies die Wangen auf und erzeugte Wind. Die Brise glitt über den Flammenwall hinweg, erreichte binnen Kurzem die achtlöchrigen Riechorgane der Aerins.
Der Klangteppich ständiger Beschwörungen verlor an Kraft. Die ektoplasmischen Schutzgeister versanken fluchend im Feuer und vergingen dort leise zischend.
Grollen erklang. Fürchterliches, unüberhörbares, erschreckendes Grollen, das aus den achtgeteilten Mägen der Aerins stammte. Die Wächter mussten stets knapp gehalten werden. Waren sie satt, starben sie an der Seuche der Zufriedenheit, versanken im Boden und wurden zu stinkendem Wurzelwerk.
Die Samen, die Gofannon verteilt hatte, trugen weitere Pflanzen. Ein mehrere Meter breiter Gürtel an Blüten reckte sich in den Himmel. Er musste den Atem anhalten, um nicht selbst der sinnesbetäubenden Wirkung seines Erzeugnisses zum Opfer zu fallen.
»Kommt!«, lockte er leise und blies die Worte mit dem Wind zu den Aerins, »kommtkommtkommt ...«
Der Beschwörungsteppich erlosch. Der erste Wächter zog stöhnend und ächzend seine Beinwurzeln aus dem Boden und taumelte schweren Schritts auf die Feuerwand zu. Er glitt hinein, fächelte sich mit seinen knorrigen Händen begierig den Duft der schwarzen Blüten ins warzige Gesicht. Er ging weiter, obwohl er bereits bis zur Hüfte in Flammen stand. Und er starb mit weit ausgestreckten Armen, ein einziges dunkeldunkelschwarzes Blütenblättchen vor die Nase gepresst.
Seine Artgenossen folgten ihm. Sie marschierten in einer Reihe. Ihre Glieder zuckten konvulsivisch, wie in Ekstase.
»Dumme, dumme Aerins«, sagte Gofannon zu sich selbst und schüttelte den Kopf. »Sie mögen mächtige Zauberwesen sein, sind aber auf der anderen Seite so dumm wie Fischfutter. Würde mich nicht wundern, wenn sie irgendwann aussterben.«
Der letzte Wächter verbrannte in einer knisternden Lohe. Der Flammenteppich wurde träger, immer träger. All das magische Flussmaterial – die Flüche, die Beschwörungen, die Bannsprüche – verfestigte sich zu einem glasierten Einerlei. Eingekapselte Schutz- und Gedankenbilder wollten die Trennfläche von unten her durchbrechen. Sie klopften mit ihren weit verästelten Fühlern dagegen und suchten sich einen Weg zurück in die Wirklichkeit zu bahnen – vergebens. Sie vergingen, fielen der Vergessenheit anheim.
Vielleicht würde das magische Gestein in ein paar Jahrtausenden zerbröseln und einige wenige Zauberspruchrelikte freigeben. Ahnungen der alten Kraft oder seltsame Melodien, die empfindsame Wesen in den Irrsinn treiben konnten.
Gofannon stieg auf die glasierte Fläche und rutschte darüber hinweg; anfangs vorsichtig, dann immer schneller werdend. Es war wie Schlittschuhlaufen.
Das Zelt Fanmórs kam in Sicht. Seine Giebel, von denen kichernde Basiliskenbabys ihr Wasser herabtropfen ließen, ragten spitz in den Himmel. Ringsum befanden sich kleine Lagerkälter; stetig aus sich selbst herauswachsende Eisblumen, an denen sich die Frostsöldner eines fernen, ihm unbekannten Landes die klobigen Körper kühl hielten. Das gemäßigte Klima des Elfenlandes behagte ihnen nicht allzu sehr.
Gofannon hatte sie bei der Schlacht von Farwynn kämpfen sehen. Sie kannten keinen Tod und fürchteten sich bloß vor einem Zustand, den sie selbst Schmelze nannten. Wenn sie während des Kampfes zu Boden gestreckt und nicht innerhalb einer gewissen Frist von Artgenossen ausreichend gekühlt werden konnten, zerrannen sie durch die Berührung mit der Erdwärme. Jene Tröpfchen, in denen die Bewusstseine und Partikelchen ihrer Persönlichkeit gespeichert waren, verbanden sich mit Quell- und Flusswasser. Im Laufe der Jahre trieben die Teilchen in die Ozeane, um dort, weit voneinander getrennt, in fürchterlichem Scheinleben weiterzuexistieren. Ohne Erinnerung, ohne Lebensfunken, ohne Selbstgefühl.
Gofannon achtete nicht weiter auf die Frostsöldner. Er war ein Gott, und er war unsichtbar.
Das Zelt war durch einen Sicherungszauber geschützt, der ihm einen gewaltsamen Zutritt verbot. Die Seitenplanen glänzten und glitzerten von magischem Staub. Das Pulver bereitete ihm leichte Übelkeit, da es seine bösen Absichten spürte und bereits aus einer Entfernung von gut und gern zwanzig Schritten auf ihn reagierte.
Er musste es also durch den Eingang des Giebelzelts probieren. Schnurstracks hielt er darauf zu. Zwei junge Crain-Elfen mit angespannten Gesichtern standen Wache. Sie rochen nach Lauch und Gras, hatten also gerade gegessen. Goldglänzende Epauletten hingen von ihren Schultern, als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum innersten Kreis der Wächter.
Gofannon war geschickter, als man es anhand seiner Körperfülle annehmen konnte. Und er besaß Intuition. Just im richtigen Moment, als sich einer der Jungen hustend ein wenig zur Seite drehte, schlüpfte er durch die entstandene Lücke. Er verharrte vor dem schweren Tuch des Eingangs, blies die Wangen ein wenig auf und erzeugte eine natürlich wirkende Luftbrise. Keiner der Kindersöldner, die den Zeltzugang im Auge behielten, wunderte sich über die schmale Lücke zwischen den beiden sich überlappenden Stoffbahnen. Gofannon glitt hindurch, rollte sich geschickt ab – und blickte erschrocken zur Zeltwand.
Hatte er zu spät reagiert? Ein alter Allesseher tat hier Dienst; ein verkrüppelt wirkender Paradiesvogel, auf einer Stange sitzend, dessen Geifer ständig aus einem Mundwinkel zu Boden träufelte. Die halbintelligenten Wesen, von denen es angeblich nicht mehr als ein Dutzend gab, waren für ihre seherischen Fähigkeiten bekannt. Wahrscheinlich waren sie sogar in der Lage, seine Tarnung zu durchschauen. Doch dazu würde es nicht kommen – wenn er der Verlockung widerstand, ihnen ins Gesicht zu blicken. Denn nur dann entfalteten sie ihre seltsame Fähigkeit.
Gofannon konzentrierte sich, widerstand dem unterschwelligen Locken des Allessehers. Sein Herz, das er vor etlichen Jahrhunderten mit einer diamantenen Schutzschicht umgeben hatte, schlug so schnell wie schon lange nicht mehr.
Er schob mit Schwarzperlen bestickte Gazevorhänge beiseite und stand im Schlaf- und Wohnbereich des Herrschers. Sein Opfer befand sich unmittelbar vor ihm. Selbst im Sitzen wirkte Fanmór wie ein Riese – der er in der Tat auch einmal gewesen war. Fanmór war einer der Letzten des alten Geschlechts, das vor langer Zeit beschlossen hatte, sich aus den Intrigen und dem Wirken im Geflecht der Anderswelt zurückzuziehen. Er jedoch war geblieben und hatte die elfische Seelenleere angenommen, um hier allmählich seinen Einfluss auszubauen.
Fanmór ließ soeben mithilfe seiner magischen Feder Nachrichten und Briefe schreiben. Sein wallendes, meterlanges Haar bewegte sich mit jeder seiner Gesten und bildete einen seltsamen Kontrast zu der sonst so deutlich spürbaren Körperbeherrschung des Kriegsführers.
Er wirkt hochnäsig, aber auch elegant und würdevoll, dachte Gofannon neiderfüllt. In nichts kann ich mich mit diesem Wesen vergleichen. Er und Gwynbaen gäben ein perfektes Paar ab. Er unterdrückte ein hämisches Lächeln. Aber die Königin hat den Weg der Konfrontation gewählt. Ich werde in Bälde ihre Decke wärmen. Nicht dieser eingebildete Geck.
Aus dem Vorraum war kein Geräusch zu hören, und schon gar nicht aus dem riesigen Heerlager. Die Gazedecken der Abtrennung waren mit Stummzauber belegt. Der Kriegsführer konnte hier schalten und walten, wie er wollte. Sicherlich wälzte er bereits Einsatzpläne für die letzten, entscheidenden Schlachten, bevor er das Schloss Gwynbaens erobern wollte.
Gofannon zog an einem kleinen Glöckchen, das vom Mittelgiebel des Zelts herabhing. Es klingelte zart und leise.
Fanmór schreckte aus seiner Arbeit hoch und stand auf. Er überragte ihn um gut und gern drei Köpfe. »Wer da?«, fragte er und blickte sich irritiert um.
Gofannon genoss den Augenblick. Er umrundete den Anführer der Crain-Elfen, blies ihm einen leichten Windhauch über die Schulter, duckte sich unter der schnellen Drehung und dem blind geführten Faustschlag Fanmórs weg.
Er gehört mir!, jubilierte der Gott. Und damit auch die Königin!
In aller Gemütsruhe griff er zur Holzschatulle, die er in einem Beutel bei sich trug. Mit spitzen Fingern zog er den Woyn heraus. Das gesponnene Netz entwickelte eine Art Eigenleben. Die einzelnen Fäden legten sich wie die Arme eines Kraken um seine Hand. Lockende Gedanken tauchten in ihm auf, wollten ihn verführen und böse Dinge tun lassen ...
Er widersetzte sich mit all seiner göttlichen Kraft den Wünschen des Woyn. Mit einem Hauch von Enttäuschung zog sich das magische Netz von seiner Faust zurück. Es war nun bereit, eingesetzt zu werden.
Noch immer irrte Fanmór durch das Zelt. Ein anderer, weniger stolzer Mann hätte längst die Wachen herbeigerufen. Der alte Elfenanführer jedoch glaubte nach wie vor, die Lage unter Kontrolle zu haben. In der Linken hielt er sein angeblich niemals fehlendes Schwert – Graul hieß es wohl – und schnitt damit Löcher in die Luft.
Gofannon fühlte innere Ruhe und Befriedigung. Mit einer raschen Bewegung aus dem Handgelenk warf er den Woyn. Das magische Netz schien sein Ziel ganz genau zu kennen. Es senkte sich auf Fanmór. Auch ein letzter Abwehrversuch half dem elfischen Riesen nichts. Graul zischte an den gesponnenen Fäden vorbei und sang dabei ein Lied der Verzweiflung.
Der Woyn landete und verfing sich augenblicklich im schwarzen Haarschopf. Silberne Fäden zogen sich eng um Fanmórs Hals und Gesicht und zeichneten ein seltsames Muster.
Erstaunen war in seinen Augen zu lesen – und vielleicht ein Hauch von Angst. Der Morpheussand tat augenblicklich seine Wirkung. Die sonst so beeindruckende Willenskraft des Elfenanführers erlosch nach wenigen Momenten. Der Riese taumelte; nach vorne, nach hinten und wiederum nach vorne. In einem letzten, viel zu späten Versuch, Hilfe herbeizuholen, wollte er sich an einer Art Gardinenschnur festklammern. Gofannon schob sie unter dem Deckmantel seiner Unsichtbarkeit beiseite.
Der König stürzte. Er plumpste über die schwere Tischplatte seines Arbeitsplatzes und zerdrückte sie unter seinem Körpergewicht. Auch der prächtig intarsienbesetzte Stuhl zerbrach. Holzsplitter sausten durchs Zelt, bohrten sich in die Gazeplanen, um gleich darauf vom verzauberten Gewebe wieder ausgespuckt zu werden. Fanmór prallte mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf.
Gofannon verharrte für einen Moment und wartete. Hatte der Allesseher mit seinen unerklärlichen Fähigkeiten die Geschehnisse hier drinnen wahrgenommen? Würde er handeln?
Nein; es blieb ruhig. Das laut einsetzende Schnarchen Fanmórs bildete das einzige Geräusch.
Gofannon griff nach Graul. Was für eine delikate Ironie! Der Heerführer würde von seiner eigenen Klinge gefällt werden.
Das Schwert war hitzig und strahlte Widerwillen aus. Gofannon unterwarf es mit einem kurzen geistigen Impuls. Es musste sich seiner göttlichen Willenskraft beugen. Er überprüfte die Schärfe der Klinge, ließ einen Zeigefinger daran entlanggleiten, bis sich ein dünner Blutfaden bildete. Ein Tropfen fiel auf den Schlafenden hinab. An dieser Stelle würde nach dem Tod des elfischen Riesen stinkendes Lotterkraut aus dem Fleisch hervorwachsen. Jedermann konnte – und sollte! – wissen, dass er den mächtigen Fanmór getötet hatte.
Gofannon lächelte. Unter dem Gespinst Biás verborgen, holte er zum entscheidenden Schlag aus – und ließ die magische Klinge mit aller Wucht hinabsausen.
Sie sang laut und fröhlich. Sie roch das Blut ihres ehemaligen Besitzers.