28 Bandorchu
Leckereien
Gofannon war ein erbärmlicher Wicht. Stets hatte sie darauf gehofft, dass er sich einmal wehren, dass er ein einziges Mal ihren Anordnungen widersprechen und so etwas wie Selbstständigkeit zeigen würde.
Aber es kam nichts. Wie ein Wurm kroch er vor ihr und leckte den Boden ab, auf den sie irgendwann einmal ihren Fuß gesetzt hatte.
Der Getreue war ein ganz anderes Kaliber. Seine physische wie psychische Präsenz stellte selbst für sie eine Herausforderung dar. Es war nur logisch, dass sie beide immer wieder zu körperlicher Vereinigung fanden und sich in nahezu animalischer Art aneinander rieben.
Jahrhunderte und Jahrtausende in der Menschenrechnung waren ihr wie ein Tag. Augenblick reihte sich an Augenblick, und sie hielt ihr Reich in der Schattenwelt durch die Kraft ihres unbändigen Willens aufrecht. Ihre Begleiter und Verbündeten wären nichts, gar nichts, wenn sie in ihrer Konzentration nachließ. Sie würden verschwinden, versteinern, in den spiegelnden Ebenen elendiglich zugrunde gehen, zu geistlosen Nichtsen verkommen.
Bandorchu strauchelte. Bevor einer ihrer Untergebenen die Schwäche erkennen konnte, zog sie sich in ihre Privatbereiche zurück. In jenen Teil der Zitadelle, den sie als Prunkstück betrachtete und den sie als einen der letzten fertiggestellt hatte.
Angenehme Schreckensstille erwartete sie hier. Dazu Körper gewordene Bilder, mit denen sie sich umgab, die ihr schweres Schicksal erleichtern und unerwünschte Eindringlinge verschlingen sollten.
Sie sehnte sich nach mehr Kraft. Der Getreue befand sich schon allzu lange in der Menschenwelt. Nur er war in der Lage, ihr zu liefern, was sie benötigte. So lange hatte sie ihr Hungerbedürfnis nicht stillen können. Nun stand das Portal in die Menschenwelt für manche ihrer Untergebenen offen. Sie mussten ihr Nahrung beschaffen: wohlschmeckende Seelensubstanz. Nur dann würde es ihr gelingen, irgendwann das für sie selbst passende Portal zu errichten.
Andere Elfen kannten dieses prickelnde, im Leib kitzelnde Etwas der Seelen nicht; es gab ihr Kraft – und bereitete zugleich unermesslichen Schmerz.
Wenn Gofannon gewusst hätte, dass sie einem ähnlichen Fluch unterworfen war wie er – wie hätte der ehemalige Gott reagiert? Hätte er gelacht und sie verspottet oder kriecherisch wie immer Beileidskundgebungen abgegeben?
Sie sollte nicht so viele Gedanken an diesen Wicht verschwenden. Es raubte ihr nur dringend benötigte Kraft.
»Der Getreue ist soeben angekommen!«, ließ sie ein Wach-Taure über das raffiniert angelegte Röhrensystem wissen, das sich Bandorchu erdacht hatte. »Darf er in Euren Privatbereich kommen, Herrin?«
»Er soll sich unterstehen!«, befahl sie. »Er wird mich im Thronsaal erwarten.« Die Königin blickte sich um und verinnerlichte für einen Augenblick all die Sicherungszauber, Flüche und Banne, die sie wie ein undurchdringliches Netz gewoben hatte, um jedermann außer ihr selbst den Zugang zu ihren Privatgemächern zu verweigern.
War alles bereit für die Zeit nach der Nahrungsaufnahme?
Sie nickte unwillkürlich, dachte sich ein neues, paillettenbesetztes Kleid aus, schuf es und ließ es über ihre Haut gleiten. Es fühlte sich kühl und geschmeidig an, wie sie es sich gewünscht hatte. Eingearbeitete Pölsterchen massierten bei jeder Bewegung ihr Fleisch und schafften körperliches Wohlbefinden. Aus einem Topf zog sie ein paar Tröpfchen mit zerriebenen Eulenhoden angereicherten Drachenschweißes hoch; Substanzen, die fast unmöglich zu beschaffen gewesen waren. Sie sprenkelte die Flüssigkeit über ihren Hals. Die Mischung gaukelte ihrem jeweiligen Gegenüber jenen Geruch vor, den er am meisten schätzte.
Ein letzter, kritischer Blick in den grauenvollen Spiegelsplitter, um ihr Aussehen zu überprüfen. Eine bewusste Kontrolle ihres Seins; das leichte Zittern ihrer Hände verschwand. Ein tiefes Durchatmen, das ihr die von ihren Untergebenen so bewunderte Beherrschung verschaffte. Dann war sie bereit, dem Getreuen gegenüberzutreten und sich die dringend benötigte Nahrung abzuholen.
Er wehrte sich gegen ihren Einfluss, so gut er konnte. Vielleicht war er der Schwächere, vielleicht spiegelte er seine Unterlegenheit nur vor, um sich irgendwann mit all seiner Kraft an ihr zu versuchen. Es erschien Bandorchu unwahrscheinlich, war aber nicht zur Gänze auszuschließen.
Er hatte seine Kapuze weit übers Gesicht gezogen; schließlich waren sie nicht allein. Mindere Berater wollten ihre Aufmerksamkeit erregen. Sie strafte sie mit Missachtung und konzentrierte sich auf die Aura, die den Getreuen ausmachte. Auch den Kau und Cor, die sich hinter dem Saum seiner Kutte verbargen, ignorierte sie.
»Gibt es neue Erkenntnisse, was die Suche nach dem Quell des Lebens betrifft?«, fragte sie. Der Gedanke an ein Altern hatte sich erst vor Kurzem in ihr Reich geschlichen. Sie wusste, dass Fanmór seine beiden Bälger als Agenten in die Menschenwelt gesandt hatte, um nach jenem mythischen Heilmittel gegen die Alterskrankheit zu fahnden, das in Dutzenden Legenden erwähnt wurde.
»Wir verfolgten eine Spur in Paris, aber sie erwies sich nicht als zielführend. Derzeit laufen Nachforschungen in mehreren anderen Städten. – Doch hat das nicht ein wenig Zeit, Königin? Denn hier habe ich, was Ihr Euch wünscht.« Er reckte einen Sack hoch in die Luft. Er war mit blutroter Silberwolle gewoben und bot größtmögliche Sicherheit gegen das Diffundieren der Seelensubstanz.
»Gib her!«, forderte sie – und schalt sich im selben Moment dafür, ihre Gier so deutlich zur Schau zu stellen.
»Gern.« Der Getreue trat einen Schritt näher. Seine Aura vereinte sich mit der ihren. Sie passten zu einem Gutteil zusammen, bildeten aber keine perfekte Einheit. Winzige Bestandteile stießen einander ab. Bandorchu hatte sich noch niemals in den Zeiten ihres Zusammenseins die Mühe gemacht, den Grund für diese geringfügigen Abweichungen herauszufinden. Sie empfand es als durchaus reizvoll, dass sich auch Aspekte des Hasses und des Widerwillens in die riesigen Flächen körperlicher Anziehung mischten.
Sie nahm den Sack entgegen. Er vibrierte. Die Seelen darin fühlten die Präsenz der Königin und suchten verzweifelt nach einem Fluchtweg. Bandorchus Erregung stieg.
»Ich ziehe mich jetzt zurück«, sagte sie würdevoll. »Ich werde dich später sehen.«
»Sollte ich Euch nicht begleiten und auf Euch aufpassen, während Ihr Euch ... satt esst?« Seine Präsenz wuchs wie eine schier unüberwindbare Mauer vor ihr. Er testete sie, wollte sich einmal mehr an ihrer Widerstandskraft versuchen.
»Nein!«, sagte sie schroff. »Du wartest auf meine Rückkehr.« Und leiser fügte sie hinzu: »Zügle indes deine Gelüste. Die Beschwerden über deine sinistren Spielchen in den Katakomben häufen sich.«
Der Getreue verneigte sich, verschränkte die Arme und zog sich einige Schritte zurück. Ihre Auren trennten sich voneinander. Ein Gefühl des Bedauerns blieb zurück.
Bandorchu packte ihren Seelensack um die Mitte und quetschte ihn ein wenig zusammen. Die Essenz darin sandte vage Gefühle der Panik aus. Sie hallten als Schreie eines kleinen, ungeübten Chors in ihr wider.
Sie beschleunigte ihre Schritte immer mehr, je näher sie dem Privatbereich kam. Die Tore öffneten sich mit einem lauten, schrillen Quietschen. Winzige Herztöter, rote und pulsierende Klumpen, die sich durch geheimnisvolle Kräfte in der Luft hielten, schreckten aus den Winkeln hervor. Sie stürzten sich auf sie, erkannten sie aber noch rechtzeitig und winselten um Vergebung. Die Königin winkte sie beiseite und kümmerte sich nicht weiter um die Wächter.
Sie fläzte sich auf ihre Liegestatt und ordnete mit dem letzten Rest ihrer Vernunft einen Schutzfluch rings um sich an. Die Schnürung des Seelensacks wollte nicht aufgehen. Ungeduldig nestelte sie daran herum, zog die Fäden durch die metallenen Ösen und warf sie dann achtlos beiseite. Noch im Flug verwandelten sie sich in dünne, knallrote Giftschlangen. Sobald sie den Boden berührten, schlängelten sie davon, von ihrem Eibenschrank wie magisch angezogen. Dort würden die Tiere laichen; irgendwann würde sie die Eier aufstoßen und sich den glitschigen Inhalt in die Haut einmassieren. Doch jetzt ...
Bandorchu steckte ihre Nase vorsichtig in die Öffnung des Beutels. »Zwei Menschenkinder«, flüsterte sie. »Kommt doch näher, meine Lieben ...« Gedankenverloren sprach sie aus, was sie fühlte: »Ihr seid so schöne, unberührte, unschuldige Wesen und besonders nahrhaft. Voll von Träumen, Hoffnungen und fantasievollen Vorstellungen. Und da? – Ein Künstler! Ein Sänger.« Ekstatische Schauder durchliefen ihren Körper. »So rein und so wahrhaft. Bis zum letzten Funken von seinen Idealen überzeugt. Dazu ein alter Wucherer. Bösartig bis in die Knochen, von wohltuender Schlechtigkeit. Ein Mädchen. Siebzehn Jahre alt und noch jungfräulich. Den Kopf voller Flausen und romantischen Ideen. Was für ein Hochgenuss!«
Bandorchu atmete tief ein, nahm einen ersten, vorsichtigen Zug von der Essenz, die weder fest noch flüssig, noch gasförmig war. Sie legte sich wie eine Schutzschicht über all ihre Sinne, durchdrang sie, stärkte sie.
»Ein reifer Mann«, fuhr die Königin in ihrer Begutachtung fort. »Melodramatisch im Geschmack, beherrscht von Selbstmitleid und Ängsten. So oder ähnlich würde Gofannon schmecken, wenn er denn ein Mensch wäre.« Etwas Neues kitzelte ihre Wahrnehmung. »Ein altes, geplagtes Mütterchen mit lange verdrängten Erinnerungen. Da ist Kriegsleid. Eine Vergewaltigung. Zwangsarbeit. Ein Mann, der sie schlug und missbrauchte. Die Erinnerungen an ein Kind, das vor seiner Zeit starb, und an ein anderes, das sich von ihr abwandte.« Die Mischung war interessant.
Bandorchu nahm einen tiefen Atemzug. Kleinste Seelenteile vaporisierten und machten sich in ihr breit. In einem Raum, den es eigentlich gar nicht geben durfte. Mit zunehmendem körperlichem Wohlbefinden kehrten lange verloren geglaubte Kräfte zurück. Ihr Willensvermögen steigerte sich, Euphorie füllte sie aus. Die Königin stieg in ihrer Vorstellung eine breite Empore hinauf. Chöre sangen, gemeines Volk jubelte ihr zu. Der Weg hinauf zum letzten Absatz dieser Treppe wurde von einer sexuellen Energie begleitet, die ihren Körper vibrieren ließ.
Mit einem tiefen Atemzug nahm sie den großen Rest der Seelensubstanz in sich auf. Sie erreichte die breite Balustrade am Ende der Treppe, drehte sich in alle Richtungen und grüßte ihr Volk. Milliarden und Abermilliarden von Angehörigen aller Welten hatten sich unter ihr versammelt. Sie jubelten Bandorchu zu, feierten sie als unumschränkte Herrscherin. Der Augenblick ihres Triumphs war gekommen; sie hatte gesiegt. Die Wirkung der gestohlenen Seelensubstanz raubte der Königin schier den Verstand, versetzte sie in einen Rausch ungeahnter Hochgefühle. Die Bilder, an denen sie sich berauschte, waren absolut lebensecht. Irgendwann, so fühlte sie, würde dieser Augenblick wahr werden.
Sie verharrte auf dem Gipfel des Triumphs, solange es ging. Zitternd, bebend kostete sie diese Momente mit den letzten Fasern ihres Bewusstseins aus. So lange, bis es zu schmerzen begann und sie zurückstürzte in das Elend ihres derzeitigen Daseins.
Die Wandlung, die sie so sehr fürchtete und die nach jeder Seelenverkostung eintrat, geschah auch diesmal.
Bandorchus dunkles Ich trat in den Hintergrund, und die »alte« Gwynbaen kehrte zurück.
»Was habe ich getan!«, flüsterte die Königin. Sie weinte glitzernde Tränen. Sie tropften hinab auf die Kissen ihres unfassbar widerlichen Ruhebetts. Rings um Gwynbaen befanden sich Hässlichkeit und Schlechtigkeit. Da war nichts, aus dem auch nur ein Fünkchen Gutes zu gewinnen gewesen wäre.
Die Schuld, welche die Königin auf sich geladen hatte, legte sich wie ein tonnenschweres Gewicht auf ihre Schultern. Wie hatte es nur dazu kommen können?
Sie erinnerte sich:
All ihre Pläne waren einmal von Hoffnung und Zuversicht getragen gewesen. Ihre Untertanen sollten in Frieden und Einigkeit leben. Sie wollte ihnen Mutter, Freundin und Ratgeberin zugleich sein. Gwynbaen war Güte. Liebe. Hingabe.
Irgendwann, still und leise, machte sich eine dunkle Seite in ihren Gedanken breit. Sie flüsterte ihr Dinge zu, immer wieder, immer öfter, bis sie irgendwann so breit und groß ausgewachsen waren, dass sie ihr Tun bestimmten. Gwynbaen wurde dunkel. Gwynbaen wurde zu Bandorchu. Zuerst im Inneren, dann auch dem Namen nach.
Die Königin hustete; sie wollte die Seelen, die sie verschluckt hatte, hochwürgen. Leben war unter fürchterlichen Umständen genommen worden, um ihr böses Alter Ego mit Kraft zu versorgen.
Sie stand auf, eilte von einer Ecke zur anderen. Überall fand sie Abweisung und offenen Hass. Manche der Wächter ihres Zimmers knurrten sie an. Sie spürten, dass Bandorchu den Raum verlassen hatte.
Wenn sie doch etwas unternehmen konnte; ein Zeichen setzen, ihr jetziges Ich für längere Zeit bewahren! Doch Bandorchu machte sich bereits bemerkbar. Sie kämpfte um die Vorherrschaft im gemeinsamen Denken, strampelte sich nach dem übergroßen Schock der Seelenverdauung wieder hoch, um Gwynbaen abermals zu unterdrücken.
Vage Erinnerungen an frühere Versuche, sich gegen Bandorchu zu stellen, kamen ihr hoch. Stets hatte sie diese Auseinandersetzungen verloren. Das Böse hatte sich in allen Winkeln ihres Bewusstseins eingenistet. Nur zu bald würde es wieder vorbei sein mit Gwynbaen. Dann musste sie auf die nächste ... Nahrungsaufnahme warten, um für kurze Zeit zu sich selbst zurückzufinden.
Nein! Kampflos würde sie sich diesmal nicht geschlagen geben! Es musste ihr gelingen, zumindest ein symbolisches Ausrufezeichen zu setzen. Bandorchu sollte wissen, dass es sie noch gab und dass sie nicht aufgegeben hatte.
Gwynbaen konzentrierte ihre verbliebenen Kräfte auf einen der Herztöter und rief ihn herbei. Schrill kreischend kam er herangeflattert. Sein unförmiger Leib bog und wand sich unter ihrem Kommando. Er sonderte gelben Eiter der Empörung ab, während sie im Geist ihren Zauberspruch formulierte.
Der Herztöter wehrte sich gegen die Transformation, und doch konnte er nichts gegen ihre gemurmelten Worte unternehmen. Langsam sank er zu Boden, so sanft wie eine Feder. Noch bevor er den kühlen Steinboden berührte, verzerrte und verbog sich seine Gestalt. Kristalline Ablagerungen bildeten sich, wurden zu Stiel und schmalen, elegant geschwungenen Blättern. Eine blauviolette Kornblume, so perfekt geformt, dass sie unmöglich einer Laune der Natur entspringen konnte, blieb liegen.
Bandorchu kam. Heftig und drängend. Rücksichtslos kämpfte sie sich aus ihrer Lähmung hoch und durchbrach die dünne Wand um jene Katharsis, die Gwynbaen hatte errichten wollen, als wäre sie nichts als ein Spinnennetz.
Die Weiße Frau ließ eine letzte Träne fallen. Sie wässerte die Blume, lockte weitere Aspekte ihrer unnatürlichen Schönheit hervor. Das nächste Mal, so hoffte sie, würde es nicht eine einzelne Blume der Hoffnung sein, die sie hervorbrachte, sondern ein ganzer Strauß oder ein Beet.
Dann ging Gwynbaen unter, in einem Ozean voller zorniger Wellenberge und -täler. Bandorchu zerfetzte und zerteilte ihren Willen und manifestierte sich mit grausamer Deutlichkeit im gemeinsamen Körper.
Die Königin streckte ihren Leib. Spürte die wiedergewonnene Kraft, die durch das Seelenfutter verursacht worden war. Gwynbaen, dieses einfältige Geschöpf, spielte keine Rolle mehr. Bandorchu war zurück, stärker als je zuvor.
Sie lachte wie irr und zertrat die Kornblume. Die anderen Welten sollten sich vor ihr in Acht nehmen.