27 Nadja
Zusammenhänge

Nachdem sie den Polizisten mit ein paar belanglosen Informationen abgewimmelt hatte, tat sie das, was sie am besten konnte: die eigenen Probleme so weit wie möglich nach hinten schieben und ihren journalistischen Instinkten folgen. Sie ließ sich durch die Straßen treiben und sog die Bilder auf, die aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch zu stammen schienen. Die Tore der Hölle taten sich auf und entließen Dämonen und Plagegeister in die Straßen Yorks. Allerorten wurde gelitten und gestorben, kämpften Menschen verzweifelt um ihr Leben, ohne dass irgendjemand etwas unternehmen konnte.

Irgendwann konnte Nadja nicht mehr. Sie war voll. Ein Internet-Café in der Tower Street, das von einem bärtigen Pakistani betrieben wurde, hatte selbst noch kurz nach vier Uhr morgens Betrieb. Es bot ihr Platz, um abzuschalten und die Dinge, die sie gesehen hatte, zu verarbeiten. Nadja setzte sich neben einen übernächtigten Poker-Zocker, dessen Augen blau unterlaufen waren. Er hatte offenbar nichts von der Tragödie mitbekommen, die sich in den Straßen Yorks abspielte.

»Eibe« war der Begriff, den sie über eine der großen Suchmaschinen ausfindig machen wollte. Weit über 10.000 Treffer verzeichnete sie, und bereits über den ersten Link geriet sie an jene Informationen, die sie zu finden gehofft hatte. Eine lange Liste an Begriffen und chemischen Formeln erschien auf dem Bildschirm. Schädliche Substanzen und Gifte waren es, die aus fast allen Teilen der Eibe zu gewinnen waren. Blätter, Stamm, Rinde – überall fanden sich hochkonzentrierte Giftstoffe. Geringste Mengen der Säfte und Konzentrate wirkten tödlich. Wissen und Ahnungen, die frühere Generationen mündlich weitergegeben hatten, waren im Zeitalter der Moderne längst verschwunden. Dass die Eibe als Baum galt, dem man tunlichst ausweichen sollte, wussten nur noch die wenigsten und schon gar nicht eine Städterin wie Nadja.

Gut. Dies war nichts anderes als eine Bestätigung für das, was Darby O’Gill ohnehin zugegeben hatte. Die Dosierung machte das Gift, so hatte er selbst gesagt. Und hier lag wohl der Hund begraben: Die Zugabe des Eibensubstrats in das Springwater-Alcopop war wohl hochkonzentriert gewesen.

Nahm der Schotte bewusst den Tod der hauptsächlich jugendlichen Kunden in Kauf? Beobachtete er in diesen Augenblicken die Wirkung aus der Ferne?

Nadja blieb sitzen und faltete die Hände ineinander. Auch wenn es sie drängte, so rasch wie möglich einen Verantwortlichen der städtischen Polizei über ihre Vermutung zu informieren, so musste sie doch ein wenig mehr Grips investieren, um all ihre Gedanken in eine Form zu gießen.

Springwater.

Sie hatte den Begriff mit »Frühlingswasser« übersetzt. Was aber, wenn er ... »Quellwasser« bedeuten sollte?

Nach den Erlebnissen der letzten Wochen in Paris ergab sich eine weitere Assoziation: Quelle des Lebens. Das Wasser, das Leben schenkte. Ein Getränk, das aufgrund seiner exotischen Bestandteile eine besondere Wirkung ausübte.

Darby O’Gill war ein Verführer, in jeglicher Hinsicht. Er hatte es nicht nur geschafft, sie mit einem Augenaufschlag, ein paar Scherzen und der passenden Atmosphäre zu bezirzen; er hatte die Verantwortlichen der Stadt auf seine Seite gezogen und die Bühne des Guy-Fawkes-Festivals dazu benutzt, sein giftiges Schlabbergetränk großflächig an den Mann zu bekommen.

Nadja schüttelte den Kopf. Nur mal angenommen, sie hatte mit ihren Vermutungen recht: Warum riskierte Darby O’Gill das Leben Zigtausender Menschen? Sicherlich nicht, weil er zu den »Guten« gehörte.

War er denn überhaupt ein Mensch? Strahlte er nicht etwas aus, was ihn anders – mächtiger, kräftiger, intensiver – erscheinen ließ?

Nach ihrem derzeitigen Wissensstand über die sich anbahnende Tragödie im Elfenreich gab es neben König Fanmór eine weitere Figur, die sich sehr intensiv dafür interessierte, den beginnenden Alterungsprozess der Elfen aufzuhalten.

Bandorchu. Die Dunkle Frau. Wie auch Fanmór suchten ihre Anhänger auf der Erde nach dem Quell des Lebens. Ein mystisches Etwas, das in den Büchern der Menschen und in ihren Erzählungen immer wieder seinen Platz gefunden hatte. Ewiges Leben und immerwährende Gesundheit waren nicht nur in der Suche nach dem Heiligen Gral und anderen frühchristlichen Sagenkreisen thematisiert worden. David und Rian, die beiden Kinder des Königs Fanmór, verfolgten zum Beispiel jetzt, in diesen Augenblicken, eine Spur, die an den Rhein führte.

Nadja rieb sich die Augen. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Als hätte sie die Flucht aus dem Haus Darby O’Gills all ihre physischen und psychischen Energiereserven gekostet.

Sie ließ sich vom Pakistani ein Mineralwasser bringen und trank gierig, bevor sie sich wieder ihren Überlegungen widmete.

Der Getreue: eine üble Gestalt, der jede Bösartigkeit zuzutrauen war und die ihr mehr oder weniger offen gedroht hatte. In einem Pariser Hinterhof hatte Nadja bereits seine Bekanntschaft gemacht. Hatte der Getreue seine Kapuze abgelegt und war ihr hier in Gestalt Darby O’Gills entgegengetreten?

Unwahrscheinlich. Das hätte sie gespürt. Auch passten die zeitlichen Abläufe nicht. Die Einführung des Springwater-Alcopops hatte sicherlich Monate der Vorbereitung in Anspruch genommen; und dem Getreuen war sie erst vor ein paar Wochen in Paris begegnet.

Ihrer Meinung nach war ein weiterer Spieler auf den Plan getreten. Einer, der der einen oder der anderen Seite zuspielte und sich möglicherweise an den Meistbietenden verkaufte. Ein freier Agent sozusagen. Ein trickreicher, betrügerischer Kerl, der vor nichts zurückschreckte. Er hatte die Stadt York als seine Spielwiese verwendet, um großflächig zu testen, ob aus Eibenextrakten ein »Heilmittel« gegen den Alterungsprozess der Elfen zu gewinnen war. Vielleicht war er Hinweisen nachgegangen, die auf die Keltenvölker zurückgingen. Vielleicht fanden sich gar auf der Eibe in seiner Wohnung eingekerbte Hinweise darauf?

In Darby O’Gills schönen Worten konnten sich Hinweise befinden, wer oder was er eigentlich war. Diese unglaublich dichte Schilderung der Geburtsstunde der Stadt York mochte einer davon sein; die Eibe in seinem Schlafzimmer ein anderer.

Sie benötigte Kontakt zu Rian. Die Elfenprinzessin besaß möglicherweise Informationen über diesen ... Trickster.

Nadja stand auf und schaltete die geöffneten Browserfenster weg. Vordringlich musste sie den Autoritäten ihr Wissen und ihre Vermutungen über den Zusatz von Eibenextrakt zukommen lassen. Alle weiterreichenden Spekulationen würde sie tunlichst für sich behalten. Die Gummizellen in Großbritannien galten nicht unbedingt als gemütlich.

Nadja rief all das ab, was ihr in dieser prekären Situation zur Verfügung stand: Charme, Verbissenheit, ein energisches Auftreten und ein kleines Quäntchen Glück.

Trotz des Chaos, mit dem Rettungsdienste, Polizei, Spurenforscher von Scotland Yard, Spitalverantwortliche und die Stadtobersten zu kämpfen hatten, gelang es ihr, mit viel Geduld und Spucke zu einem der koordinierenden Oberärzte vorzudringen. Sie beließ es dabei, ihre Rolle als Journalistin klein zu halten. Bereits jetzt schwärmten die Kollegen der britischen Haifisch-Tabloids aus und machten sich mit Theorien unbeliebt, welche die Panik in der Stadt weiter schürten. Unter keinen Umständen wollte sie mit diesen Leuten in einen Topf geworfen werden, deren Blätter auf überdimensionierte Schlagzeilen und eine reißerische Aufmachung setzten. Der Wahrheitsgehalt der gelieferten Informationen blieb dabei denkbar gering.

»Eibenextrakte?«, fragte der Arzt und blickte misstrauisch über seine achteckigen Brillengläser hinweg. »In den Springwater-Alcopops? Hmm ... wäre eine Möglichkeit, nach den gezeigten Vergiftungssymptomen. Wir hatten ohnehin schon einen Verdacht. Wir lassen das Gesöff bereits testen; aber der Hinweis auf Eibenextrakt hilft uns sicherlich weiter ... Der Produzent des Teufelszeugs heißt Darby O’Gill, und er wohnt wo? Hallo, Miss! Wo laufen Sie denn hin?«

Nadja drängte sich an Polizisten, Schaulustigen und Mitarbeitern der Rettungsdienste vorbei. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan. Nachdem die Verantwortlichen sich ohnehin bereits auf die richtige Spur gesetzt hatten, würde es hoffentlich nicht mehr lange dauern, bis die unzähligen Opfer richtig behandelt werden konnten.

Nadja schluckte, als sie an die Zahlen dachte.

Mehr als 2000 Verletzte, die über die Krankenhäuser Yorks und jene der Umgebung verteilt werden mussten. Knapp an die einhundert Tote. Dutzende, die derzeit um ihr Leben kämpften.

Breitband-Antibiotika wurden bereits knapp, das Personal in den Spitälern war hoffnungslos überfordert. Wie so oft in derartigen Ausnahmesituationen griffen die Befehlsketten nicht optimal. Politiker schoben sich gegenseitig die Verantwortung für scheinbares Fehlversagen zu, und die Nerven lagen blank. Doch das waren Dinge, die sie nicht ändern konnte.

Wo, verdammt noch mal, war Robert abgeblieben? Er konnte unmöglich das Drama dieser Nacht verschlafen haben – oder doch? Das hätte eigentlich sehr gut zu dem alten Tagträumer gepasst.

Das Handy summte.

Wenn man vom Teufel spricht ... Nadja aktivierte den Empfang. »Gerade habe ich in aller Freundlichkeit an dich gedacht«, sagte sie. »Schwing deine Hufe hierher, wo auch immer du gerade bist, und unterstütze mich bei meiner Reportage. Und bringe einen Hektoliter Kaffee mit, damit ich wieder halbwegs auf die Beine komme. Ich befinde mich gerade ...«

»Hoa, Mädel! Lass mich auch mal zu Wort kommen.« Robert stockte kurz, bevor er fortfuhr: »Ich habe dir auch ein paar Dinge zu berichten. Und es wäre mir recht, wenn du mich an Ecke Petergate und Stonegate abholen könntest. In der Polizeistation. Und das so rasch wie möglich, bitte ...«