18 Robert
Trost und Rat

So ist es damals gelaufen«, flüsterte er. Nur ganz allmählich fand er in die Realität des King’s Arms zurück. Die Schatten und Schemen der Vergangenheit wichen langsam, unendlich langsam in jene Winkel seines Geistes zurück, in denen sie sich eingenistet hatten. »Mir ist jedes Detail dieses Tages vor genau fünfzehn Jahren in Erinnerung geblieben. Jede Geste meiner Frau, jedes Wort. Der Geruch ihres Parfums. Die Worte, das Lispeln meiner Tochter durch ihre Zahnlücken. Ihr Lächeln ...«

»Was ist mit ihnen passiert? Was ist nach der Explosion geschehen?« Die Hand Anne Lanschies lag schwer auf Roberts Unterarm. Hitze ging von ihr aus. Als wollte sie ihn mit der Berührung aufwärmen und den kalten Klumpen, der sich in seinem Inneren bildete, durch eine bloße Berührung beseitigen.

»Es handelte sich um ein Attentat der Irischen Befreiungsarmee, die zu dieser Zeit den bewaffneten Widerstand in das Kerngebiet Englands tragen wollte. So wurde es zumindest in den Zeitungen verbreitet. Offizielle Stellen hielten sich eher bedeckt. Du weißt Bescheid über den Nordirland-Konflikt?«

»Ja.« Anne zündete zwei Zigaretten an und reichte eine an ihn weiter. »Wer tut das nicht?«

Ein Krieg der Religionen, zwischen englischen Protestanten und irischen Katholiken. Oder ein Konflikt zwischen Besatzern und Unterdrückten. Oder ein Streit zwischen halsstarrigen alten Männern, die zu keinerlei Kompromiss bereit waren. Ein Aufeinanderprallen zweier politischer Weltanschauungen, zwischen dem einstmals so großen britischen Weltreich und einem Volk, das sich Selbstbestimmung wünschte. Oder ein wenig von alledem; wer wusste das schon zu sagen, mehr als neunzig Jahre nach Gründung der IRA?

»Der oder die Attentäter wurden nicht ermittelt; auch hat niemand je die Verantwortung für den Anschlag in London übernommen.« Robert blies blauen Zigarettendunst hoch zur Decke des Lokals. Seine Finger zitterten. »Er war nur ein Teil einer Anschlagsserie, die damals das Land in Atem hielt. Die Toten waren ... Kollateralschäden in einem größeren Kampf.« Robert blickte Anne Lanschie an und lachte bitter. »Sind sie das nicht immer? Verluste, die man in Kauf nehmen muss, wenn man ein strategisches Ziel verfolgt?« Er dämpfte die Zigarette ab. Sie schmeckte ihm mit einem Mal nicht mehr. »Als ich im Krankenhaus erwachte«, wechselte er abrupt das Thema, »sagte mir eine Beamtin von Scotland Yard mit dem unendlichen Ausdruck des Bedauerns, dass Sandra und Lisa sehr nahe an der Sprengbombe gewesen wären, als sie hochging. Sie lägen im Koma und ihre Überlebenschancen seien gering. Ich solle sie sicherheitshalber identifizieren, da sie ziemlich verunstaltet seien.«

»Das war wohl keine besonders mitfühlende Dame«, sagte Anne Lanschie.

»Ich war niemals zuvor und danach so nahe daran, jemandem körperlichen Schmerz zuzufügen. Ich lag in einem Bett, mit einem Brustgurt gesichert. Auch mich hatte es ganz schön erwischt. Da waren ein gutes Dutzend Fleischwunden, eine Gehirnerschütterung, beschädigte Trommelfelle und so weiter. Aber ich erinnere mich noch gut, wie ich mich daranmachte, aufzustehen. Mich abzustützen, den Gurt zu öffnen. Mir die Kanülen aus der Armbeuge zu ziehen, auf die Beamtin loszugehen und ihr das kleine blaue Täschchen, das so nett zu Jacke, Rock und Käppchen passte, in den Hintern zu stopfen. Quer selbstverständlich. Ich hätte gerne zugesehen, wie sie vor mir verblutet wäre. So stellte ich mir das vor, damals.«

»Aber du hattest nicht die Kraft.«

»Und auch nicht den Mut.« Verzweifelt schüttelte Robert den Kopf. »Manchmal wünschte ich, ich hätte es geschafft.«

»Wahrscheinlich warst du so zugedröhnt mit Medikamenten, dass du gar nichts tun konntest.«

»Es waren nicht die Medikamente. Es ist auch niemals der Alkohol. Es ist diese gottverdammte Schwäche, die in mir steckt!« Robert wurde laut. »Ich besuchte also Lisa und Sandra. Nichts an ihnen war so, wie es einmal gewesen war. Sie waren zu ... Fleischklumpen verkommen. Und wenige Stunden später starben sie, in einem Abstand von wenigen Minuten. Es war eine Erlösung für sie.«

Manche der Feiernden ringsum warfen ihm irritierte Blicke zu, um sich gleich darauf wieder ihren Unterhaltungen zu widmen. Sie taten so, als existierten Anne und er lediglich am Rande ihres Wahrnehmungsvermögens.

»Bleib ruhig«, sagte Roberts Gesprächspartnerin. »Es ist lange vorbei. Dieses Erlebnis ist Teil deiner Vergangenheit. Du aber solltest nach vorne blicken und an deine Zukunft denken. Eine neue Frau ...«

»Wer nimmt schon einen Loser wie mich?«, unterbrach Robert Anne barsch. »Ja, möglicherweise für eine Nacht oder zwei. So lange, bis die Mädels draufkommen, wie ich wirklich ticke. Die Einzige, die es länger in meiner Nähe aushält, ist Nadja.«

Anne Lanschie tötete nun ebenfalls ihre Zigarette ab. Sie blies ineinandergreifende Ringe aus und kniff die Augen zusammen. »Läuft wirklich nichts zwischen euch beiden?«

»Sie könnte meine Tochter sein. Sandra wäre, würde sie heute noch leben, bloß fünf Jahre jünger. Nein. Das kleine Biest ist nichts für mich. Sie ist viel zu lebendig und unruhig. Immer wieder zieht sie mich in Sachen rein, die unglaublich sind und mich nahe an den Rand des Herzinfarkts bringen. Erst neulich ...«

»Ja?« Anne Lanschie beugte sich interessiert vor.

»Ach, nichts, gar nichts.« Robert wischte sich über die schweißbedeckte Stirn und suchte verlegen nach einem anderen Gesprächsthema. Die Erinnerung an Sandra und Lisa hatte ihn aufgewühlt. Wie immer. Sein Hemd war schweißnass, und seine Beine zitterten. Und beinahe hätte er Anne von Nadjas und seinem gemeinsamen Abenteuer in der Anderswelt erzählt.

»Whow – die Flasche ist fast leer!«, sagte er letztlich. »Ich wusste gar nicht, dass wir so viel gebechert haben.«

»Das hat der Bowmore so an sich.« Anne Lanschie zeigte sich ausreichend sensibel, um nicht näher in ihn zu dringen und mehr über seine Andeutungen in Erfahrung zu bringen. »Er geht runter wie Wasser – und er beschert dem Genießer keine Kopfschmerzen oder Übelkeit, im Gegensatz zu den meisten Konkurrenzprodukten.«

»Freut mich zu hören. Denn ich hatte wirklich den einen oder anderen zu viel.«

Anne Lanschie zog die Hand von seinem Arm und blickte auf ihre Uhr. »Es ist bald Mitternacht,« sagte sie. »Das King’s Arms hat zwar bis zwei Uhr geöffnet, so wie die meisten Pubs in York, aber ich denke, dass ich mich zurückziehen sollte.«

»Schade«, sagte Robert und lachte traurig. »Kaum finde ich eine arme Seele, die sich das traurige Geschwafel eines Halbbesoffenen anhören will, da bin ich sie auch schon wieder los.«

Sie lächelte. Ihre schlanken, grazilen Finger spielten mit der halb leeren Zigarettenpackung. »Eigentlich meinte ich, dass wir uns beide zurückziehen sollten. Meine Wohnung befindet sich ganz in der Nähe. Ich fände es schön, wenn du mich nach Hause begleiten würdest, Robert.«

Anne Lanschie beugte sich vor und küsste ihn zärtlich auf den Mund.

Sie schmeckte gut. Sie schmeckte nach mehr.