9 Gofannon
Die neue Heimat
Rings um ihn ächzten und schrien die Verbannten vor Schmerz. Sie wanden sich am Boden, hieben wahllos um sich oder spien fürchterliche Flüche aus – die keinerlei Wirkung zeigten.
Gofannon erhob sich. Seine Beine fühlten sich müde und lahm an. Der Schmerz in König Fanmórs Folterkammern war von fürchterlicher Intensität gewesen; hier und jetzt aber bemerkte er, dass er längst nicht alle Facetten körperlicher Qual kennengelernt hatte.
Der Boden der weiten Ebene, in der sie gelandet waren, reflektierte Sonnenlicht. Riesige schwarze Wolkenfelder trieben vor dem heißen Gestirn dahin, als würden sie von ihm gejagt werden. Lange Schatten griffen übers Land; bald hierhin, bald dahin, scheinbar ohne Zweck und Ziel.
Viele elfische Verbündete der Königin suchten nach Verstecken, die sie vor dem Dunkel der Wolken schützen würden. Sie fürchteten und hassten den Schatten. Die Lichtschlucker brachen ihre Zauber, und sie lehrten den Elfen die Wahrheit von der Vergänglichkeit ihres Daseins. Sie zeigten ihnen die Leere, die sie anstelle einer Seele besaßen, und beschworen Wahnsinn herauf.
Auch Gofannon, der ehemalige Gott, war nicht gegen die Wirkungen der Schatten gefeit. Spiegel, Licht, Schatten ... überall! Sein Magen revoltierte. Am liebsten hätte er seine letzte Mahlzeit hochgewürgt. Doch es war zu lange her, sicherlich drei- oder vierhundert Jahre, dass er feste Nahrung zu sich genommen hatte. Übrig geblieben war bloß eine Erinnerung, die seinen Körper nunmehr in schmerzhafte Krampfzustände zu versetzen drohte.
Mehr fühlte als sah er, dass sich Königin Gwynbaen nach dem Durchgang ins Schattenland erhob. Sie tat dies mit seltsamer Grazie, die völlig fehl am Platze schien.
Sie begann zu singen. Ein Lied, ein Lament. Worte des Bedauerns und des Verlustes verbanden sich mit einer traurigen Melodie zu einem Etwas, das das Elfenvolk und die anderen Verbündeten der Königin innehalten ließ und sie in einen Moment der Ruhe zwang.
Gwynbaens Stimme erreichte ungeahnte Höhen. Sie fand zu einer Fülle und einer Intensität, die den Anbeginn der Schöpfung in prächtigen Gedankenbildern wiederauferstehen ließ, Mut und Willen der ersten Bewusstseinswesen interpretierte und Tugenden heraufbeschwor, die Gofannon längst verloren geglaubt hatte.
Er fiel in den Gesang ein. Mit brummiger, kratziger Stimme, die nach wenigen Momenten zu jener Reinheit fand, die er während der Jahrtausende seiner Jugend entwickelt hatte.
Gwynbaen zeigte leichte Irritation, ließ ihn aber gewähren. Fließend passte sie sich seinem Bass an, und gemeinsam erinnerten sie sich uralter Worte, die stärker und stärker wurden, je intensiver sie sich damit beschäftigten. So, wie aus einem groben Kiesel ein prächtig geschliffener Stein werden konnte, so rieben sie in vielfachen Wiederholungen die Staubschichten moderner Sprache ab und fanden zu den urtümlichen Bedeutungen der Worte zurück. Sie minimierten weiter, während die Getreuen der Königin in ihrem Selbstmitleid innehielten. Wo auch immer sie standen oder lagen, konzentrierten sie sich nun auf die Töne, auf den Gesang, den immer ursprünglicher werdenden Klang des Lebens.
Schlussendlich blieb ein Lied mit sechs Worten übrig. Urtümlich kräftige Kadenzen überzogen die Spiegelfläche, ließen sie stumpf und leidlich angenehm erscheinen. Schnalz- und Kiekslaute schenkten Mut, während die borstigen Akkorde des dritten und vierten Wortes Hoffnung schürten.
Gwynbaen deutete ihm, den Gesang für eine Weile zu unterbrechen. Sie drehte sich im Kreis. Ihre Anhänger scharten sich zögerlich um sie; Elfen, Spriggans, Zwerge, Basilisken und all die anderen. Mit halb geschlossenen Augen glitten sie über die Spiegelfläche dahin und kamen näher. Drei Gestalten blieben liegen. Sensible Wulkbäume, die im glasierten Untergrund keinen Wurzelhalt gefunden und in quasitödlichem Schock umgestürzt waren.
»Dies ist das Schattenland«, begann die Königin ihre Rede. »Ein Land, wie es grausamer nicht sein könnte. Es bietet uns, die wir vom und im Zauber leben und Anzeichen der Vergänglichkeit als intime Verletzungen spüren, große, ungeahnte Schmerzen.« Sie breitete ihre Arme aus. »So weit das Auge reicht, gibt es kaum Änderung in dieser schrecklichen Landschaft. Die Hügel sind milde und abgerundet. Sie erzeugen umso grausamere Reflexionen jener Wolkenschatten, die die Sonne vor sich hertreibt.«
Wie zur Bestätigung griffen lange, dünne Schattenfinger über die versammelte Menge, ließen die Verbannten kollektiv stöhnen und erschaudern. Manche verdrehten die Augen, ein Basilisk würgte halb verdaute Strohbüschel hoch.
»Wir wurden hierher verbannt; unsere einzige ... Schuld besteht darin, die Verlierer eines Kampfes zu sein.« Gwynbaen nickte mehreren ihrer Untergebenen zu, als wollte sie sich für deren Treue bedanken. Gofannon ließ sie bei diesen Höflichkeitskundgebungen tunlichst außen vor. »Unser Weg ist aber noch lange nicht zu Ende! Fanmór mag sich im Licht des Erfolges sonnen und die Elfenwelt eine Zeit lang nach seinen Vorstellungen gestalten. Ich aber garantiere euch: Wir werden zurückkehren, und wir werden uns für all die Schmach und das Leid rächen, das wir nunmehr erdulden müssen!«
Viele ihrer Getreuen nickten, manche murmelten Treueschwüre. Ein Kentaur stellte sich müde auf seine Hinterbeine und meinte: »Das sind schöne Worte, Königin, und ich spüre die Hoffnung in meinem Herzen. Aber wie, so frage ich mich, sollen wir überleben? Wie können wir uns gegen Spiegelflächen und Wolkenschatten wehren?«
Gofannon beobachtete ganz genau die Reaktion der Königin. Gwynbaen presste die Lippen zusammen, bis sie jegliche Farbe verloren. Noch vor Stunden hätte sie den Kentauren mit einem Wink ihrer Hand getötet; nun aber war sie zu schwach dazu.
»Ich konnte, so wie ihr, nichts in die Schattenwelt herüberretten, was uns nun weiterhelfen würde. Nichts – außer hilfreichem Wissen.« Sie deutete an ihre Schläfe. »Ich weiß von Dingen, die mir Mut machen. Schließlich sind wir nicht die Ersten, die hierher verbannt wurden. Es gibt mögliche Verbündete, die uns helfen können. Sie müssen nahe sein. Deshalb seid wachsam: Vom ersten Moment an werden wir ihnen deutlich machen, wer von nun an hier das Sagen hat.« Gwynbaen holte tief Luft. Für einen Augenblick verdrängte die Angst die Zuversicht in ihren Augen. Dann fuhr sie fort: »Jenseits des Hügellandes befindet sich Land, das mir für unsere Zwecke geeignet erscheint. Es handelt sich um den ältesten Teil des Schattenlandes; um Spiegelgrund, der im Laufe der Zeiten brüchig und porös geworden ist. Dort soll es uns gelingen, eine Ansiedlung zu errichten, die uns vor den Auswirkungen der Schatten schützt. Hinter hohen Mauern werden wir uns verbergen, Pläne schmieden und Kräfte sammeln, um im geeigneten Moment ein Tor zu den anderen Welten aufzubauen.«
Der Wolkenschatten löste sich von den Versammelten. Lichtfinger umschlossen sie, sorgten aber für keinerlei Erlösung. Denn nun gerieten die Spiegelungen des Bodens umso heftiger. Sie zogen alle Blicke auf sich und zeigten ihnen jene Leere, die sie anstelle von Seelen trugen.
»Wie lange?«, fragte einer der beiden Äskulappen. »Wie lange wird es dauern, bis wir das Schattenland verlassen können?«
»Es wird mir schwerfallen, hier ausreichend Kraft zu sammeln«, antwortete Gwynbaen nach einem Moment des Zögerns. »Viele von uns werden den Augenblick der Rückkehr in die Anderswelt nicht mehr erleben.«
Sie marschierten dicht an dicht, gaben sich gegenseitig Schutz vor den Schatten und munterten sich immer wieder mit alten, kräftigen Liedern auf. Schatten und Spiegelbilder waren nicht ursächlich tödlich. Sie schwächten lediglich und konnten empfindliche Gemüter in den Wahnsinn treiben. Andere Wesen mochten irgendwann ihren Lebenswillen verlieren und liegen bleiben, bis sie ihre eigene Existenz vergaßen. Und die Zähesten von ihnen würden wohl auch den Endlosen Tag überdauern: Ragnarök, Armageddon, das Letzte Gericht, das Ende des Wegs. Dann träten sie in den nächsten Zyklus über, um dort in der Bedeutungslosigkeit niederster Existenz neu zu erwachen.
Eine steil hochragende Felsspitze wies dem Zug von Gwynbaens Getreuen den Weg. Sie warf keinen Schatten. Schmerzwehen umflirrten in der Sonnenhitze die Basis des Gesteins. Links vom Wegweiser marschierten die müden Verbannten auf Geheiß der Königin vorbei, auf das sanft ansteigende Spiegelhügelland zu.
Gofannon scherte aus den Reihen aus. Reste von Neugierde und eine seltsame Anziehungskraft ließen ihn die Nähe zur Felsspitze suchen. Er scherte sich nicht um die zornigen Rufe seiner Begleiter, die seine körperliche Stärke wie einen Schutzmantel um sich gebreitet wissen wollten.
Die Nadel ragte so hoch in den Himmel, dass sie die Schwarzwolken zu berühren schien. Gofannon berührte vorsichtig das Gestein. Es fühlte sich warm und lebendig an, und es sandte eindeutige Gedankensignale aus.
»Was bist du?«, fragte er müde. »Was machst du hier?«
Das Lallen eines Idioten antwortete ihm, unterbrochen von wenigen vernünftigen Worten. Ja – es handelte sich um einen Versteinerten. Um ein Wesen, das sich selbst aufgegeben, sich selbst vergessen hatte, um zu einem Ding zu werden. Seit Jahrtausenden oder länger mochte der/die/das hier stehen, in Grüblereien versunken, ob und wie es sich weiterbewegen konnte. Irgendwann war auch diese Idee im Abgrund des schwindenden Geistes verschwunden, um einer oberflächlichen Beschäftigung mit dem eigenen Ich Platz zu machen. In absehbarer Zeit würde er/sie/es mit allem aufhören. Der Geist würde verschwinden, der Fels in weiteren Jahrmillionen zu feinstem Sand abgeschmirgelt und schlussendlich, als bösartige Ironie des Schicksals, Teil der verhassten Spiegelfläche werden.
»Kannst du mich hören?«, hakte Gofannon nach.
»Ja ...« Ein Echo, so schwach wie ein einzelner Spinnenfaden, antwortete ihm. War es in seinem Kopf, oder hörte er die Stimme wirklich? Gofannon wusste es nicht.
»Warum hast du ... aufgehört?«
»Es gibt keinen Sinn, der einen Sinn macht. Es gibt kein Leben im Leben. Alles ist tot im Tod ...«
Das waren die Ideen eines Schwachsinnigen. Reduziertes Wahrnehmungsvermögen, das gemeinsam mit dem Wort- und Denkschatz schrumpfte. Wort für Wort, Sinnbild für Sinnbild.
»Kannst du mich spüren oder sehen?«, fragte Gofannon.
»Beides.«
»Siehst du, wie ich gehe? Wie ich weitermache – und dadurch lebe?«
»Vielleicht bist du eine meiner Fantasien? Oder die Erinnerung an ein früheres Selbst? Ich zweifle daran, dass du echt bist. Dafür bist du auch viel zu hässlich.«
Erneut begann die Felsspitze sinnloses Gebrabbel auszusenden. Täuschte sich Gofannon, oder schwankte sie? Besaß das Wesen noch einen Rest eines Bewegungselements?
»Ich bin wahr«, sagte er nachdenklich. »Ich entwickle eigene Gedanken. Ich bin ein Selbst.«
»Mag sein. Möglicherweise aber rede ich mir das auch nur ein. Dum-di-dum ...«
Gofannon hasste die Felsspitze mit einem Mal. Wütend hieb er auf das Gestein ein und brüllte: »Ich werde jetzt von hier weggehen! Du wirst sehen und spüren, wie ich mich entferne, wie ich hinter der Hügelkette verschwinde. Ich bin nicht so wie du, dass ich grundlos mit allem aufhöre; ich werde weitermachen, genau wie die Königin. Sie wird es nicht dulden, dass wir uns vergessen. Sie hält uns fest und gibt uns Kraft. So lange, bis wir uns aus der Schattenwelt befreien können ...«
»Ein interessanter Gedanke – wenn er von mir selbst stammt. Das würde bedeuten, dass meine Ideen selbst Ideen entwickeln. Das ist eine neue Form der Verrücktheit, und das wiederum erscheint mir schon wieder als ganz normal ...«
Gofannon fühlte ein Grummeln in seinem Magen. Er begann lauthals zu lachen. Für einen Moment vergaß er all sein Elend und labte sich am Wahnsinn seines »Gesprächspartners«. Der Gedanke, noch weitaus besser dran zu sein als dieser versteinerte Idiot, hatte etwas Kräftigendes, Sättigendes an sich.
»Hör mir gut zu, mein Freund«, sagte Gofannon. »Hinter dem Hügelland wird die Königin einen Ort aus dem Boden stampfen, der uns vor Schatten und Spiegellicht schützt. Dort könntest du wieder zu dir kommen und dein Leben neu beginnen. Alles, was du tun musst, ist, dich in Bewegung zu setzen und uns zu folgen.«
»Bewegung? Dieses Konzept ist lächerlich. So weit und solange man auch geht – man gelangt nirgends hin. Ich kann mich noch gut daran erinnern ...«
»Und wie steht es mit deiner Neugierde? Willst du nicht wissen, was hinter den Hügeln geschehen wird? Ob ich dich anlüge oder ob ich recht habe?«
»Ich weiß nicht ...«
»Denke darüber nach. Vielleicht verstehst du, was ich meine, wenn ich aus deiner Wahrnehmung entschwinde.«
»Einer meiner Gedanken marschiert davon und macht sich selbstständig. Wie überaus interessant ...« Der Felsen grummelte einen Ton, der von einem anderen, noch tieferen, umschränkt wurde. In der eng umsäumten Welt der Felsspitze mochte dies eine wunderschöne Melodie sein, die von Glück und Ruhm erzählte.
Gofannon sah sich um. Die Königin und die anderen Verbannten hatten mittlerweile die erste Kuppe in einer Kette immer höherer Hügel erreicht. Allmählich verschwanden sie in der dahinter liegenden Senke. Er musste sich beeilen; sonst drohte ihm Gefahr, in diesem schrecklichen Land voller Spiegelungen und Schatten die Orientierung zu verlieren. Mit aller verbliebenen Kraft schritt er aus, Gwynbaen hinterher. Die Felsspitze blieb hinter ihm zurück. In Gofannons Gedanken schwang der Name nach, den sich das unnütze Ding gegeben hatte. Es nannte sich der Kau.
In späteren Zeiten würde man die Reise der Verbannten als Todesmarsch bezeichnen. Manch einer der Gefährten stürzte um und gab sich auf. Seine Substanz verschmolz in einem schrecklich anzusehenden Vorgang mit der Spiegelfläche. Ein Kinderknospen tragender Katapunder, wahrscheinlich der Letzte seiner Art, verbrannte. Die Familie der Hundegötter beschloss, sich auf eine rudimentäre Intelligenz zurückzuziehen und erst dann wieder den ihnen zustehenden Status einzunehmen, wenn die letzte Wolke verschwunden war. Die wilden Horden der Dendroiden zerfleischten sich gegenseitig und fielen augenblicklich dem Vergessen anheim. Wahrwölfe mutierten zu tumben, kaum eines vernünftigen Gedankens fähigen Werwölfen.
»Wer sich aufgibt, hat verloren«, rief Gwynbaen zu allen Gelegenheiten. »Er unterliegt jenem Schicksal, das er in seinen Vorstellungen heraufbeschworen hat. Dies ist die grässliche Magie der Spiegelfläche ...«
Die Königin schöpfte aus einer schier unerschöpflichen Kraftquelle. Zu keinem Augenblick ließ sie in ihren Mahnungen und Anfeuerungen nach, trieb ihre Verbündeten vorwärts, kümmerte sich um die Angeschlagenen. Und doch bereitete ihr jeder Verlust Schmerzen. Nicht, weil sie Trauer empfand! Für sie bedeutete der Tod eines Kameraden, dass Rückkehr und Rache noch schwerer, noch langwieriger würden. Sie zehrte von der Vorstellung, Fanmórs Sieg in eine Niederlage zu drehen. In den wenigen Stunden, die sie schlief, warf sie sich so wild hin und her, dass sich niemand in ihre Nähe wagte. Ihre Fingernägel bohrten sich dann in den glasierten Untergrund, als bestünde er aus Gelee, und der Speichel, der aus ihrem Mund träufelte, erzeugte ätzenden Rauch im Gestein.
Gofannons Stärke überraschte ihn selbst. Stets marschierte er an vorderster Front oder stützte die Dahinsiechenden. Er tat alles, um sich das Wohlwollen der Königin zu sichern. Doch mit keinem Wort, mit keinem Blick gab Gwynbaen ihm zu erkennen, dass sie ihm Versagen und Verrat verzieh. Sie behandelte ihn mit grausamer Gleichgültigkeit, die ihn umso mehr verletzte, als er seine Begierden für sie immer stärker, immer drängender in sich wachsen fühlte.
Doch was waren diese Empfindungen schon im Vergleich zum Hass, der die Herrscherin antrieb? Der sie selbst und ihre Begleiter am Leben erhielt, bis die Hügel überwunden waren?
Es war ein hässliches und graues Land, das sie betraten – und dennoch ein Paradies im Vergleich zu den endlosen Spiegelflächen, die sie hinter sich ließen. Hier gab es Risse und Schluchten; scharfgratige Gesteinsblöcke mit blind gewordenen Reflexionsflächen, die sich im Laufe der Jahre hoch- und übereinandergeschoben hatten. Im ihrem Schutz wuchsen Kräuter mit blassen Blättern, von denen Feuchtigkeit zu Boden träufelte. Wasser entsprang aus einem Felsriss. Als Rinnsal mäanderte der Bach ins Tal hinab.
Und es gab ... andere.
Erbärmlich anzusehende Lager waren übers freie Gelände verteilt. Davor saßen einsame Gestalten. Gebeugt, gebückt, in ihren Qualen versunken. Kaum in der Lage, die Köpfe zu heben und dem Zug der Neuankömmlinge mehr als ein paar Blicke aus stumpf glänzenden Augen zu widmen.
»Ich kann es vor mir sehen«, sagte Gwynbaen mit fester Stimme. »Hier, in diesem Landstrich, der uns jetzt noch wie der eitrige Ausfluss einer Wunde vorkommt, wird ein Königreich entstehen. Aber es wird nicht das neue Land der Weißen Frau sein, wie mich die Elfen früher nannten.« Sie lachte hässlich. »Meine alten Namen besitzen hier keine Gültigkeit. Sie klingen falsch und entsprechen nicht mehr ihrem ursprünglichen Sinn. Deshalb nenne ich mich von heute an ... Bandorchu.«
Es war ein grässliches Wort. Eines, das in Gofannon nachschwang, Erinnerungen an alte Zeiten hochtrieb und Schmerzen bereitete. Niemals war es als Name gedacht gewesen, sondern als Bezeichnung für ... für ...
Er hatte es vergessen. Das Gefühl der Vergänglichkeit, das ihm gegeben worden war, als ihm Fanmór sein Gottsein gestohlen hatte, reduzierte ihn mehr und mehr auf ein einfaches, unbedeutendes Lebewesen. Mit all seinen Schwächen.
Bandorchu trieb sie ins Tal hinab. Jene Begleiter, die auf Wasser angewiesen waren, labten sich am trüben Fluss.
Andere kauten an kargen Ästen und Blättern; die Mehrzahl der Überlebenden drängte sich ins schatten- und lichtlose Zwielicht, welches das Gesteinslabyrinth in manchen Teilen dieses Landes schuf. Sie grunzten und seufzten, genossen die Erleichterung nach all den Tagen der Qual.
Die Königin gestattete ihnen nicht mehr als ein paar Augenblicke der Ruhe. Dann ertönten abermals ihre Befehle: »Treibt mir die unnützen Hungergestalten, die diesen Ort bevölkern, zusammen und seht, ob sie von irgendeinem Wert sind. Manche von ihnen sind uralt und wissen vielleicht Dinge, die uns weiterhelfen können. Alle anderen vertreibt oder tötet – es ist mir gleich.«
Bandorchu sprach die Worte mit klirrender Kälte in der Stimme. Bereits jetzt legte sich die Bedeutung ihres neuen Namens über sie; hüllte sie ein, formte sie zu einem dunklen Geschöpf um, das nur zu gut in diese Landschaft passte.
»Die Vorderzwerge zu mir!«, fuhr sie fort. »Sucht nach Werkzeug. Nach allem, mit dem man das Glasgestein bearbeiten kann. Zerhackt und zersplittert es, sodass es die Steininge kauen und mahlen können. Der Brei soll hier gelagert und mit Pflanzenmehl vermischt werden. Aus Tüchern, Leinen und Blättern fertigt Bottiche, in denen das Wasser aufgefangen wird. Wir brauchen Walzflächen, Gussformen, Schneidegerät, Feuerholz, Paraffin ...«
Bandorchus Liste schien kein Ende nehmen zu wollen. Ihre Hände und Arme entwickelten ein Eigenleben. Die Herrscherin dirigierte ihre Untergebenen, schickte sie hier- und dorthin, ließ sie tanzen, wie sie wollte. Niemand wagte Widerspruch. Macht und Präsenz der Königin legten sich drückend auf ihre Untergebenen.
Hektische Betriebsamkeit nahm trotz der über den Himmel jagenden Schatten ihren Lauf. Jedermann hatte seinen Platz in diesem Arbeitsorchester gefunden – nur Gofannon nicht.
»Was ist mit mir, Königin?«, fragte er leise.
»Ich kann und will dich nicht um mich haben, Verräter«, antwortete sie, ohne ihn eines Blicks zu würdigen. »Irgendwann ist mein Zorn möglicherweise verraucht. Vorerst rate ich dir, dich nicht in meiner Nähe blicken zu lassen.«
Sein Herz, der diamantenen Schutzhülle beraubt, tat mit einem Mal weh. »Ich ... verstehe. Wohin soll ich gehen?«
»Durchwandere die Schattenwelt. Merke dir, was du siehst, und vermesse das Land. Ich möchte wissen, wie mein zukünftiges Reich aussieht. Finde Verbündete. Künde von meinem Eintreffen und schüre die Hoffnung, dass es einen Weg zurück geben mag.«
»Ihr verlangt von mir, dass ich mich den Wolken und den Spiegeln aussetze? Allein, ohne Euren Schutz?«
»So ist es. Kommst du zurück, ist es gut. Stirbst du, bedeutet es nichts für mich.«
»Gwynbaen ...«
»Gwynbaen ist tot. Es gibt nur noch Bandorchu. Und jetzt verschwinde gefälligst, Verräter!«
Gofannon warf einen letzten Blick auf das sich verändernde Antlitz der Königin. Es wurde herber und schmaler.
»Ich gehorche«, sagte er und marschierte davon. Er erinnerte sich an den Kau und dachte darüber nach, ob ihn ein ähnliches Schicksal ereilen würde.