19 Gofannon
Ein neuer Auftrag
Der Kau war ein früherer Helfershelfer Bandorchus, von ihr in die Schattenwelt »versetzt«. Ungebreiflicherweise hatte sie ihre Ankunft in dieser tristen Umgebung erahnt und so gut wie möglich darauf vorbereitet sein wollen. Gofannon revidierte einmal mehr sein Urteil über die Königin. Noch bevor der Zwist mit Fanmór begann, hatte sie in ihrer Weitsicht damit gerechnet, eines Tages hierher vertrieben zu werden. Vielleicht gab es noch andere wie den Kau, die in ihrem Auftrag weitere Sphären der Anderswelt oder dem Reich der Menschen durchforschten, um ihr irgendwann zu Diensten sein zu können.
»Du hast schrecklich versagt, kleiner Kau«, sagte die Königin. »Ich rechnete viel früher mit deiner Unterstützung. Du hättest mir eine Menge Mühe und Schmerzen ersparen können.«
»Gnade!«, winselte der Kau. »Ich bin schwach, und ich war denkbar ungeeignet, die Schattenwelt zu durchwandern. Ihr wisst doch, Hübscheste aller Hübschen, dass ich kaum einer Versuchung widerstehen kann. Da waren all diese Einflüsterer. Sie umkreisten mich, gaben mir keine Ruhe. Immer wieder sagten sie: ›Vergiss die Königin, vergiss, warum sie dich hierher geschickt hat. Vergiss alles ...‹«
»Einflüsterungen – dass ich nicht lache! Du kannst deine sieben Sinne einfach nicht beisammenhalten. So wie die meisten meiner Begleiter bist du Abschaum, der es nicht wert ist, dass man einen einzigen Gedanken an ihn verschwendet.«
Der Kau duckte sich wie unter Peitschenschlägen – und dennoch lächelte er unterwürfig. Er genoss Bandorchus Gegenwart, als wäre sie seine Sonne, die ihn aufblühen ließ.
»Du hast unverschämtes Glück«, fuhr die Königin fort, »denn du bist in meinen Plänen von gewissem Nutzen. Du und Gofannon, ihr dürft euch entfernen und euch zu den anderen armseligen Gestalten nahe dem Tor gesellen. Ich lasse euch rufen, wenn ich euch brauche.«
Bandorchu verscheuchte sie mit dem Wink einer Hand. Gofannon ertappte sich dabei, wie er rückwärts wegmarschierte, katzbuckelnd, und den kühlen Boden immer wieder mit der Stirn berührte. Jeglicher Stolz war aus seinen Gedanken gewichen. Er war nichts mehr als ein Sklave, der den Launen seiner Königin gehorchen musste.
»Bin ich jetzt von meinen Verpflichtungen dir gegenüber entbunden oder nicht?«, fragte der Kau, der ihm folgte. »Die Königin hat sich nicht besonders klar ausgedrückt.«
»Ich weiß es nicht.« Sie hatten sich weit genug vom Thron entfernt. Gofannon richtete sich auf. »Komm doch her und versuch’s!« Er stellte sich kampfbereit hin. Nur zu gerne hätte er dem kleinen Parasiten die Meinung gegeigt, ihm das hässliche Lächeln für alle Zeiten aus dem Gesicht geprügelt. Den Kau grundlos zu schlagen erschien ihm seltsamerweise ... unfair. Auch wenn er mit seinen vernarbten Armstümpfen nur begrenzt kampffähig war, so hätte er den Winzling doch jederzeit zu Mus zerreiben können.
Der Kau stellte sich ebenfalls aufrecht hin und begann, Gofannon mit tapsigen Schritten zu umkreisen. Er fletschte die Zähne. Sie wirkten klein, spitz und scharf; als wären sie dazu gedacht, Fleisch und Haut abzubeißen. Lange, spitze Barthaare sprossen neuerdings aus Kinn und Wangen.
»Es ... geht nicht!«, stieß der Kleine schließlich hervor. Er hechelte; Schaum spritzte aus dem geöffneten Mund. »Die Kraft des Schwurs hält an. Ich bin ... dein Diener.«
Gofannon schloss die Augen und bemühte sich, seine Empfindungen in den Griff zu bekommen. »Irrtum, Kleiner! Die Königin hat sich etwas Besonderes einfallen lassen. Sie hat uns aneinandergeschmiedet. Mir geht es so wie dir; auch ich kann dir nichts antun.« Die Phantomschmerzen wurden stärker. Hände, die er nicht mehr hatte, öffneten und schlossen sich im Zorn.
Der Kau hingegen bog seinen Körper durch und begann zu lachen. Laut, immer lauter, sodass sein Gekrächze von den Wänden des Monolithen widerhallte.
Sie erstritten sich einen Platz nahe dem Tor. Nebeneinander setzten sie sich hin, Körper an Körper. Wann auch immer jemand die Zitadelle verließ, um Baumaterial oder Nahrung zu holen, fielen Licht und Schatten auf sie beide. Dann kehrten die Erinnerungen an ihre Steinwerdung mit schrecklicher Schmerzhaftigkeit zurück, und der Kau begann erbärmlich zu schluchzen.
Die Armstümpfe verheilten allmählich. Fleisch wuchs aus eitrigen Beulen, die irgendwann platzten. Dünne und fahle Knochen trieben daraus hervor, um die sich im Laufe der Zeit Fleisch sammelte, Schicht für Schicht.
»Warum hast du nie erwähnt, dass du ein Sklave der Königin bist?«, fragte Gofannon nach einer Weile des Schweigens.
»Weil ich es vergessen hatte«, antwortete der Kau nach einem Zeitraum, der 10.000 oder mehr »Tagen« entsprach. Auch wenn die Sonne hier zu jeder Zeit im Himmel stand, so fühlten sie doch beide die Übergänge, die von einem Tag zum nächsten führten. Sie waren wie ein Kribbeln in der Magengrube, und sie machten ihnen die Dauer ihrer Verbannung umso deutlicher.
Ihre Konversation ruhte für lange, lange Zeit. Dann fügte der Kleine hinzu: »Die Erinnerung an meinen Auftrag war mit dem Steinstaub, der mich einschloss, abgefallen. Erst als ich Gwynbaen, die jetzt Bandorchu heißt, an ihrem Thron gegenüberstand, kehrte alles wieder.«
Die Zitadelle vergrößerte sich indes. Die Basismauern schoben sich auseinander, Millimeter für Millimeter. Das schattenlose Halbdunkel des Inneren griff um sich, erleichterte ihnen allen das Leben. Ecken und Kanten der grob gehauenen Quader erschienen bald abgeschliffen; irgendwann tauchten düstere Verzierungen, Intarsien, Schnitzereien auf, deren Sinn ihnen verborgen blieb.
So wie alle Angehörige von Bandorchus niederem Hofstaat fühlten sie große Erleichterung über die Änderungen. Sie fanden mehr Platz für sich selbst. Die Nischen verbreiterten sich so weit, dass sie irgendwann kleinen Kammern ähnelten, die ein Mindestmaß an Komfort boten. Doch blieben der Kau und er, Gofannon, untrennbar aneinandergekettet. Sobald sie sich mehr als zehn Schritte voneinander entfernten, entstand eine schmerzhafte Sehnsucht, die sie augenblicklich die Nähe des jeweils anderen suchen ließ. Oh, wie sie sich hassten!
In unregelmäßigen Abständen wurden sie von mürrischen Zwergen aufgefordert, mindere Dienste im Freien zu erledigen. Sie kümmerten sich um seltsame Kräuter, die im Sonnenschein außerordentlich gut gediehen, zupften sie aus der brüchigen Spiegeloberfläche und zerstampften sie anschließend in kleinen Gefäßen zu einem stinkenden Brei. Zu einer anderen Gelegenheit mussten sie den Angriff einer Horde meterhoher Springschnecken abwehren. Deren winzige, menschenähnliche Symbionten, die aus den innersten Spiralen der Purpurgehäuse giftige Dornengeschosse abfeuerten, wurden zu einer wohlschmeckenden Fleischsuppe verarbeitet. Jedem Mitglied des Hofstaates mundete sie außerordentlich gut.
Auch der Brunnendienst war ein wichtiges Ritual, dem Gofannon und der Kau nachkommen mussten. In silbernen Gefäßen fingen sie tröpfelndes Wasser und brachten es in die Nähe des Thronsaals, ohne Bandorchu jemals zu Gesicht zu bekommen. Was auch immer mit der unnützen Flüssigkeit geschah, sie wussten es nicht. Die Königin bewahrte ihre Geheimnisse, so wie stets.
Gofannon erreichte niemals wieder jene körperlichen und geistigen Kräfte, wie er sie zum Zeitpunkt der Verbannung in die Schattenwelt besessen hatte. Und bereits damals hatte er gemeint, dass der Tiefpunkt seiner persönlichen Entwicklung nach der langen Zeit der Folter in Fanmórs Lager erreicht worden war!
Jeder Ausflug in die Schatten werfende Sonne wurde von grässlichen Schmerzen, Ängsten und tiefster Verzweiflung begleitet. Wenn er zurück in die Zitadelle durfte, fühlte er Steinsand von seinem Körper rieseln; weitere Erinnerungen, die ihm genommen und wahrscheinlich nicht mehr wiederkehren würden.
An jenem Tag, da Gofannon und der Kau Strandgut, das vermummte Händler aus fernen Teilen der Schattenwelt herbeibrachten, von glitzernden Glaskarren luden, bemerkten sie, dass die von der Königin bewirkten Veränderungen allmählich die Außenfront der Zitadelle erreichten. »Sie gewinnt an Stärke«, quietschte der Kleine und warf Gofannon einen schweren Sack zu, in dem irgendetwas verzweifelt um sich schlug. Mit seinen neu gewachsenen, noch rosig glänzenden Fingern fing der frühere Gott ihn auf.
»Siehst du die Erker und Zinnen?«, fragte der Kau. »Die Konusse, die einmal Türme werden könnten?«
»Der Monolith ist für Bandorchu nichts als ein riesiger Riegel an knetbarem Baumaterial, den sie nun nach ihren Vorstellungen umgestaltet.« Eigentlich interessierten Gofannon derlei Dinge nicht besonders. All seine Sinne waren abgestumpft. Seine Vorstellungen von einem akzeptablen Leben beschränkten sich auf das Halbdunkel des Schlosses, möglichst wenig Bewegung und möglichst wenig geistige Beschäftigung. Nichtwissen bedeutete Ruhe. Wissen und scharfe Gedanken erzeugten Sorgen und Ängste. Im gedanklichen Stillstand wartete Erleichterung. Nur ja nicht über die Schattenwelt nachdenken, allen Problemen so weit wie möglich aus dem Weg gehen – so lautete Gofannons neue Lebensmaxime.
»Ich rieche Änderungen«, sagte der Kau, noch bevor der Tag um war. »Bedeutende Dinge gehen im Schloss vor. Ich glaube, dass die Zeit des Wartens und des Leidens vorüber ist.«
»Schade«, entgegnete Gofannon eineinhalb Jahre später.
Kurz darauf wurde er gemeinsam mit dem Kau in den Thronsaal gerufen.
»Nichts ist unveränderbar«, sagte Bandorchu nachdenklich. Sie marschierte auf und ab, quer durch den groß gewordenen Thronsaal. Das tief geschlitzte Kleid zeigte mit jedem Schritt die Blässe der makellosen, ewig langen Beine. »Die meisten von uns leben zu kurz, um den Wandel, dem alle Welten unterworfen sind, wahrzunehmen. Wasser verdunstet, ein Ozean wird zu Land. Land erodiert und macht einer Wüste Platz. Risse im Gestein, durch Erdstöße verursacht, lassen Wasser aus unterirdischen Reservoiren nach oben schießen und erzeugen etwas Neues. So war es immer, so wird es immer sein.«
Die Königin hatte wohl recht. Gofannon konnte sich dumpf daran erinnern, irgendwann einmal ähnliche Gedanken gehegt zu haben.
»In unserem Fall ist es mir gelungen, dem Schicksal ein wenig nachzuhelfen. Darauf zu warten, dass die Sonne erlischt und die verfluchten Wolkenbänke endlich in sich zusammenfallen, hätte noch eine halbe Ewigkeit in Anspruch genommen. Und so viel Geduld bringe ich nun mal nicht auf.« Bandorchu blieb stehen. Sie blickte Gofannon und den Kau nacheinander an. »Es wird mir in Bälde gelingen, ein Portal entstehen zu lassen.«
Ein Portal?
Da war doch irgendwann ein Gedanke gewesen, unendlich wertvoll! Eine Sehnsucht, eine Hoffnung auf Freiheit. Völlig irrational und dennoch immer im Hinterkopf rumorend.
»Ein Portal?«, wiederholte Gofannon mit schleppender Stimme. »Einen Weg zurück in die Anderswelt?«
»Gibt es also doch etwas, das dich aus deiner Lethargie in die Wirklichkeit zurückholen kann, mein kleiner Gott?« Bandorchu lachte verächtlich. »Ja; ich spreche von einem Durchgang, der mir irgendwann die Rückkehr erlauben wird.« Sie nahm ihren unruhigen Marsch durch den deutlich vergrößerten Raum wieder auf. Wachs tropfte schwer von schwarzen Kerzen, die in metallene Wandhalterungen gespannt waren. Irgendwo im Hintergrund klimperten dünne Wasserfontänen auf zarte Metallgefäße und erzeugten seltsam klingende Musik. »Eine Ironie des Schicksals will es, dass ich mich mit Geduld wappnen muss, um diesem ... Gefängnis hier zu entkommen. Euch wertlosen Geschöpfen jedoch wird es möglich sein, das Portal recht bald zu nutzen.«
Was erzählte sie da? Sprach Bandorchu tatsächlich von ihm und dem Kau? Wollte sie sie neuerlich quälen, die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit in ihnen schüren, um sie anschließend wiederum zu vernichten?
Die Schatten, welche sich um sein Gemüt gelegt hatten, lichteten sich allmählich. Sie schmolzen dahin und machten jenem wachen Geist Platz, den er einstmals besessen hatte.
»Oh, keine Angst«, unterbrach die Königin seine Gedanken, »ihr könnt mir nicht entkommen. Beide gehört ihr für immer mir. Ihr werdet springen, wenn ich es befehle. Auch wenn wir durch die Abgründe der Welten voneinander getrennt sind, so verfüge ich doch jederzeit über euch.«
Bandorchu verschränkte ihre langen, schlanken Finger ineinander und murmelte ein paar Worte. Augenblicklich spürte Gofannon einen ziehenden Schmerz. Er schien aus dem Boden zu kommen, durchbohrte seine Zehen, Füße und Beine. Wie eine Schlange wand er sich hoch bis zu seinem Kopf, um sich dort einzunisten. »Dies nur als Vorgeschmack auf das, was euch erwartet, wenn ihr versagt. Ihr kleinen ... Lieblinge.«
Sie zuckte kurz mit den Augenlidern, und die Pein endete. Gofannon stürzte stocksteif zu Boden. Er fühlte Blut in seinem Mund. Es verteilte sich über dem staubigen Boden. Nur ganz langsam ließ die Starre nach. Der Kau und er, dessen Mundwinkel so tief wie noch nie hingen, stützten sich gegenseitig. Auch wenn man es angesichts seiner Statur nicht annehmen konnte, verfügte der Kleine über beachtliche Körperkräfte.
»Ich werde euch zu mir rufen, sobald es mir gelungen ist, das Portal ausreichend zu stabilisieren. Dann werdet ihr durchgehen und mir so rasch wie möglich Bericht erstatten.«
»Woher wisst Ihr, dass wir die Schattenwelt verlassen können, Herrin?«, hörte er sich zu seinem eigenen Erstaunen fragen.
»Ganz einfach: Du, Gofannon, bist mir freiwillig hierher gefolgt. Deswegen steht es dir frei, jederzeit wieder zu gehen, wenn es denn einen Weg zurück gibt. Und diesen habe ich vor zu schaffen. Dasselbe trifft auch auf den Kau zu, den ich selbst hierher geschickt habe. Er gehorchte meinen Befehlen und ist deswegen ebenfalls nicht an die Schattenwelt gebunden.«
»Und warum, Königin Bandorchu, wählt Ihr ausgerechnet uns für diesen ersten Schritt zurück?« Wollte sie ihnen eine Chance geben, sich zu rehabilitieren?
»Der Übertritt ist mit vielen Gefahren verbunden. Ich habe so etwas niemals zuvor gewagt.« Bandorchu blickte ihn kalt an. »Ihr erscheint mir als die entbehrlichsten Lebewesen in meinem Gefolge. Überlebt ihr, ist es gut. Sterbt ihr – nun, es gibt genügend andere Versuchstierchen.«
Sie verkürzten sich die Tage des Wartens mit Streitereien, schliefen zwischendurch und ritzten mit ihren Fingernägeln Zeichen in die grauen Wände. Manchmal hatte es den Anschein, als würden die Mauern schreien, als würden die ehemaligen Wesen, die hier unter dem Bann Bandorchus begraben lagen, ihre Wut über dieses erbärmliche Leben nach ihrem Tod hinausbrüllen. Es kümmerte Gofannon nicht. Er pflegte sein Selbstmitleid, während der Kau die seltsame Kommunikation mit den Totensteinen mit all seiner Gehässigkeit pflegte.
Irgendwann kam der Moment, an dem die Königin sie rufen ließ. Wie viel Zeit war vergangen? Sie wussten es nicht. Ein älterer Elf, dessen wenige Ohrenhaare bis zum Boden hinabreichten, trieb sie vor sich her, hinein in den Thronsaal, der sich erneut verändert hatte.
Gofannon nahm sich die Zeit, sich umzuschauen und sich Details einzuprägen. Da war ein geschlossenes Fenster, dessen Ornamentik ihn vage an etwas erinnerte. Ein plumper Stein ruhte direkt neben dem Thronsessel. Gelbe Farbe triefte aus ihm, wie Schweiß aus Poren. Ein dunkles Juwel tanzte in einer Wasserfontäne und drehte sich dabei beständig um die eigene Achse. Flitter tauchte den Raum in buntes und müdes Licht, ohne schädliche Schatten zu erzeugen. Pergamentene Seiten mehrerer speckiger Lederbücher verbrannten Stück für Stück. Eine Flamme kochte wütend in einer Schüssel direkt neben Bandorchu. Meterhoch war sie, schwebte frei. Unbestimmte Zornesschwingungen gingen von ihr aus. Graue Maden krochen, aus winzigen Bodenlücken kommend, die senkrechten Wände entlang nach oben. Irgendwann verkrallten sie sich ineinander und wurden zu steinernen Arabesken.
»Ich experimentiere noch«, sagte Bandorchu, als sie Gofannons Blicke bemerkte. »Einerseits möchte ich an mein altes Schloss erinnert werden, andererseits will ich den besonderen Geist der Schattenwelt mit gestalterischen Mitteln einfangen.«
Ein tönerner Batzen fiel von der Decke herab. Wie frischer Kuhdung verteilte er sich annähernd kreisförmig. Während Gofannon zusah, versickerte das seltsame Material im Boden. Übrig blieben lange, dünne Fäden, die sich ineinanderkringelten und hypnotisierende Muster zeichneten.
»Ihr verschwindet gefälligst aus dem Thronsaal!«, herrschte Bandorchu die Mitglieder ihres Hofstaates an, die sich in hölzerne Sitzreihen im hinteren Teil des Raumes verkrochen hatten. Zwerge, Elfen und ein weiblicher Humbug erhoben sich. Mit fragenden, unsicheren Blicken auf ihre Herrscherin entfernten sie sich.
Bandorchu wartete, bis auch das letzte Wesen ihres Gefolges gegangen war und sich die hohen Türen knarrend schlossen. Erst dann wandte sie sich wieder dem Kau und Gofannon zu.
»Speichellecker sind sie, alle miteinander. Keiner ist auch nur annähernd brauchbar für meine Zwecke. Die Götter des Schicksals neigen in der Tat zur Ironie, dass sie mir ausgerechnet euch gescheiterte Existenzen in die Hand spielten, damit ihr nicht unbedeutende Rollen in dieser ... Tragikomödie einnehmt.« Sie tat einen Schritt auf Gofannon zu. »Wusstest du, dass du mir eine Zeit lang wirklich etwas bedeutet hast, ehemaliger Gott? Du hast es verstanden, mich mit deinem rüden Charme zu beeindrucken. Du warst anders als die Hofschranzen, die sich um mich versammelt hatten.«
Sie seufzte. Ihr helles Haar leuchtete für einen Moment in einem vorbeischwebenden Flammenflitter auf. »Doch du hast deinen Schwung nur zu rasch verloren. Du hast dich vom Tand meines Hofes blenden lassen, dich nur allzu gerne den vielfältigen Vergnügungen hingegeben. Bald musste ich erkennen, dass ich dich verloren hatte. Dass du bloß eine weitere von vielen armseligen Gestalten warst, die sich wie Maden in meinem Schloss einnisteten.«
»Es tut mir leid, dass ich Euch enttäuscht habe, Königin«, sagte Gofannon ehrerbietig. »Ich möchte alles tun, um es wiedergutzumachen.«
»Wie ich bereits sagte: Es war lediglich ein Moment.« Bandorchus Interesse an ihm erlosch so rasch, wie es gekommen war. »Nun zu eurer Aufgabe: Ihr bleibt in meiner unmittelbaren Nähe, während ich versuche, das Portal aufzubauen. Es wird euch ins Menschenreich führen. Für mehr reicht meine Kraft zurzeit nicht. Die Anderswelt bleibt mir verschlossen. Ihr werdet durch das Tor treten, euch auf der anderen Seite orientieren und so rasch wie möglich wieder hierher zurückkehren. Öffnet eure Sinne. Jedes winzige Detail kann für mich von Bedeutung sein. Achtet insbesondere auf Sinneserfahrungen und weniger auf das, was euch euer beschränkter Verstand einzutrichtern versucht, wenn ihr drüben seid. Seht, riecht, spürt, schmeckt, ahnt und hört. Merkt euch diese Eindrücke.«
»Ja, Herrin«, sagte Gofannon. »Ich tue, was Ihr von mir verlangt.«
»Braves Hundchen.« Bandorchu verzog ihr Gesicht, angewidert von seinen duckmäuserischen Worten.
Nein. Niemals würde sie ihm vergeben. Sein Charakter, der sich unter der Last vielfältigster Eindrücke so schmerzhaft verändert hatte, konnte nicht mehr zu jener göttlichen Erhabenheit zurückfinden, die ihr vielleicht einmal gefallen hatte.
»Ruhig jetzt!«, flüsterte die Königin. Sie setzte sich auf ihren Thron und versank zentimetertief in einer gallertartigen Masse. »Leert eure Köpfe. Bleibt ruhig, richtet eure Gedanken auf irgendwelche niedrigen Tätigkeiten. Die Errichtung eines Portals erfordert die Konzentration aller sieben Sinne auf das Ziel.«
Sieben Sinne. Neben den herkömmlichen fünf, die selbst den niedrigsten Lebewesen zu Eigen waren, verfügte die Königin so wie er über die Gabe der Vorahnung. Sie allerdings konnte darauf reagieren, während Gofannon diesen kurzen Ausblicken in ein zukünftiges »Möglicherweise« meist hilflos gegenüberstand. Er war nicht in der Lage, sein Schicksal zu steuern, wie sie es tat.
Der siebte Sinn blieb unaussprechlich. Er umfasste ein All-Sein. Das Gefühl, sich im Zentrum eines Welten umspannenden Netzes zu befinden, von dem aus man in Kontakt mit jedermann und allem treten konnte. Es war eine schier unkontrollierbare Gabe, die nur durch jahrtausendelanges Training von einigem Nutzen sein konnte. Gofannon hatte gute Anlagen besessen, um daraus Gewinn zu ziehen. Doch die mentalen Übungen waren ihm langweilig erschienen, und die Fortschritte blieben kaum messbar. Also hatte er den siebten Sinn vernachlässigt, um sich den Genüssen der »Alten Fünf« hinzugeben.
Bandorchu, deren Begabung er spüren konnte, hatte ihre Möglichkeiten perfekt ausgereizt. Ihre Position im Gedankennetz entsprach einer gut ausgebauten Bastion, von der aus zu jeder Zeit Impulse fernen, unbekannten Zielen entgegenströmten. Sie kontrollierte und wusste in einem gewissen Ausmaß, was die Zukunft für sie und die Welten bringen würde.
Ahnte sie, wie das Ende allen Seins aussah? Wie Leben und Tod einstmals ineinander verschmelzen würden?
»Deine Gedanken«, mahnte ihn die Königin zornig, »sie stören!«
Gofannon nickte eifrig, obwohl er wusste, dass ihn Bandorchu nicht sehen konnte. Ihre Blicke waren nach innen gerichtet. Ganz deutlich fühlte er, wie sie ein Etwas aus sich herauszog – und ihm in einem unheimlich anmutenden Vorgang semimaterielle Substanz verlieh.
Nein! Er musste an etwas anderes denken. An die Wände in jener Wohnnische, die er sich mit dem Kau teilte. An die seltsamen Zeichnungen und Graffiti, an die stummen Schreie der Felsen, das Stöhnen und Ächzen ...
»Es ist vollbracht!«, unterbrach Bandorchu die Banalitäten seiner Erinnerungen. Ihre Stimme kam schwach und brüchig; wie dünnes Papier.
Gofannon war eingeknickt und zu Boden gesunken, wie auch der Kau. Gemeinsam richteten sie sich auf. Vor ihnen waberte ein lichtloses Nichts, das sich vage gegen den Hintergrund abgrenzte. Energien, die nach Bandorchu rochen, gingen davon aus. Sie musste ureigenste vitale Kraft in die Entstehung des Portals investiert haben. Solche, die unwiederbringlich verloren ginge ...
»Geht!«, ächzte die Königin. »Und kehrt so rasch wie möglich wieder.«
Sie war über dem Thron zusammengesunken. Eine alte, unförmige Vettel, die vom Duft des Todes umweht wurde.
»Lass uns verschwinden«, murmelte der Kau. Er zerrte und zupfte an seiner zerrissenen Hose. Voller Angst war er. Er zog den Sprung in die Ungewissheit Bandorchus schrecklichem Anblick vor.
So wie auch Gofannon selbst.
Im Gleichschritt marschierten sie auf das lockende, abstoßende Portal zu. Bösartige, liebreizende Empfindungen gingen von seinen Rändern aus. Sie offenbarten die innere Zerstörtheit Bandorchus, ließen einen kurzen Einblick in die Seele der Königin zu. Es war schrecklich und schön zugleich.
Die wabernden Flammen des Portals griffen nach ihnen, sogen sie an. Gofannon fühlte, wie seine Körperlichkeit etwas anderem Platz machte. Ihn reduzierte und gleichzeitig vergrößerte. Zusammendrückte, zerstörte, ihn unter gänzlich neuen Voraussetzungen wieder zusammensetzte.
Ein Aufprall. Landung. Irgendwo.
Wasser unter seinen Beinen. Dann Sand. Das Leder einfacher Sandalen. Zeit verging. Gedanken wehten an ihm vorbei. Gerafft, in irrsinnigem Tempo.
Blut. Gewalt. Hass, Liebe und Eifersucht.
Eine Blase hüllte ihn ein. Ein Körper, der nicht sein eigener war, der allmählich mit seiner Persönlichkeit verschmolz.
Wer war er? Was war er?
Hitze wallte in ihm auf, und ein neuer Aspekt trat zutage. Eine nach Aas stinkende Knospe, lange in ihm verborgen, breitete ihre Blätter aus.
Die Erinnerung kehrte wieder, und Gofannon begriff: Der Fluch Fanmórs wurde jetzt zur Realität. Der Boon zwang ihn, in einen fremden Körper zu schlüpfen und Dinge zu tun, die nicht seinem eigentlichen Selbst entsprachen. Und in einem Moment seltsamer Klarheit erkannte er sein zukünftiges Schicksal.
Gofannon zwang seinen Leihkörper zu Boden, und er begann zu weinen.