25 Robert
Im Nebel der Zeit

Er irrte blindlings durch die Stadt. Voller Hass, Wut, Verzweiflung und Trauer. Ohne ein Ziel, ohne Sinn. Zeitabläufe spielten keine Rolle mehr. Eindrücke der Vergangenheit und der Gegenwart prallten aufeinander, durchdrangen sich und erzeugten ein heilloses Durcheinander:

Anne. Lisa. Sandra. Guy Fawkes.

Das Bombenattentat auf seine Familie. Schmerz. Tod.

London. York. Paris.

Das Spital mit Boy X und den anderen Komapatienten in der Seine-Metropole und das Londoner Spital mit seinen beiden komatösen Angehörigen.

Alternde Elfen. Grog, Pixie, der Kau und Cor.

Fanmór. Der Getreue und die Königin Bandorchu.

Robert stolperte durch knietiefen Dreck; vorbei an verkrüppelten Gestalten, die sich unter grob behauene Holzplanken duckten. Männer mit Fackeln in der Hand, in grobes Leinen gekleidet, kreuzten seinen Weg. Alle hatten sie Tonsuren. Sie hielten die Köpfe gesenkt. Schnitte zeigten sich dort, kreuz und quer. Breite Blutkrusten hatten sich darüber gebildet.

Eine Gruppe von Flagellanten? Wohin war er denn da geraten? Und: Hatte er diese Menschen nicht schon einmal gesehen, während der nachmittäglichen Stunden?

Robert stolperte weiter, nun etwas bewusster auf seine Umgebung achtend. Die Häuser standen hier sehr eng beisammen. Er musste in ein Labyrinth von Snickelways geraten sein, irgendwo im ältesten Teil Yorks. Es stank bestialisch. Irgendjemand hatte Fettklumpen auf die Straße geworfen, um die sich laut kläffende Hunde stritten. Nur wenige Fackellichter beleuchteten die Wege, in fast allen Häusern herrschte Dunkelheit.

»Verzeihen Sie, Sire«, sprach ihn eine Frau mit seltsamem, kaum verständlichem Dialekt an. Sie glitt an seine Seite und passte sich seinem Tempo an. »Seid Ihr ein aufrechter Katholik?«

»Ich ... ich denke schon«, antwortete Robert. Er wandte sich ab, unangenehm berührt. Mit christlichreligiösen Sektierern hatte er rein gar nichts am Hut.

Verstohlen betrachtete er sie. Ihr bodenlanger Rock war hochgeschlossen und wirkte züchtig. Sie hatte das Haar unter einer seltsamen Haube streng nach hinten gekämmt. Das Gesicht war von Akneflecken übersät, und ihre Zähne bedurften einer dringenden Reinigung.

»Dann lade ich Euch zu einem unserer Gottesdienste ein, werter Herr!« Sie drängte sich näher an ihn heran und reichte ihm ein Stückchen Papier, auf dem in krakeliger, kindlicher Handschrift ein paar Worte geschrieben standen. »Wir nennen uns die Recusants; Männer und Frauen, die sich trotz der Repressionen des Königs nicht beugen und allein die Allmacht des Papstes anerkennen.« Die Frau seufzte. »Ihr wisst, wie sehr uns die Anglikaner zusetzen. Doch in dieser schweren Stunde dürfen wir aufrechten Katholiken weder wanken noch weichen. Wir müssen zusammenstehen und im Namen des Herrn und seines Vertreters auf Erden, des Papstes, alles geben, damit der Einfluss dieser Abgefallenen nicht noch mehr anwächst ...«

Sie drückte kräftig seine Hand und blickte ihm tief in die Augen. »Ich bin Margaret Clitherow. Horcht nicht auf die Gerüchte, die die Stadtaussprenger über mich verbreiten. Ich bin eine ehrbare Frau, die mit Herz und Seele hinter dem Vertreter des Herrn steht.«

Zornig ballte sie die Hände zu Fäusten. »Recht hatte der Guy!«, fuhr sie fort. »Es erfüllt mich mit Trauer, dass er und seine Gesellen diesen verräterischen James im Westminster nicht erwischten. Sechsunddreißig Barrels voll Schießpulver, stellt Euch vor, und kein einziges Fass ging hoch! Lauter redliche Leute waren sie; Robert Catesby, Thomas und Robert Wintour, Jack Wright und sein Bruder, den sie ›Kit‹ nannten. Thomas Percy, John Grant, Ambrose Rockwood und all die anderen Aufrechten.« Sie reckte ihren mageren Körper. »Ich bin stolz darauf, dass Guy Fawkes, einer der wichtigsten von ihnen, ein Sohn dieser Stadt ist und hier getauft wurde! Mir wurde zugetragen, dass er die Schmerzen der Folter wie ein aufrechter Mann hinnahm, der die Zuversicht besaß, am Ende dem Herrn in dessen Himmelreich gegenüberzutreten und einen Platz zu seiner Rechten zugewiesen zu bekommen.«

Margaret Clitherow schluchzte. »Im Namen des falschen Glaubens wurde er gehängt, getaucht und gevierteilt, wie es sonst nur an übelsten Schwerverbrechern geübt wird.« Plötzlich sackte die Frau in sich zusammen. Als hätte sie alles gesagt, was es zu sagen gab. »Nun gehabt Euch wohl, edler Herr«, schloss sie. »Ich freue mich darauf, Euch ehebaldigst bei den Recusants zu sehen ...«

Margaret Clitherow trippelte davon. Das Klappern ihrer schweren Holzschuhe war noch eine Zeit lang zu hören. Irgendwann verlor sich das Geräusch im aufkommenden Nebel, der die Wege der Stadt noch unheimlicher erscheinen ließ.

Margaret Clitherow ... die Bürgerin, die in The Shambles gelebt und gewirkt hatte. Eine katholischreligiöse Märtyrerin, die laut singend in den Tod gegangen war, weil sie sich gegen die Anglikaner gestellt und geheime Gottesdienste in Privathäusern abgehalten hatte.

Was sollte dieser Unsinn? War er, ohne es zu wissen, in die Aufführung einer Laiengruppe geraten, die zu nachtschlafender Zeit die Guy-Fawkes-Festivitäten neu anheizen wollte?

Robert stolperte weiter. Er verspürte neuen Durst. Selbst eines dieser Alcopops namens Springwater hätte er in diesen Sekunden mit Kusshand angenommen. Wo befand sich die nächste Kneipe? Wie kam er aus diesem Irrgarten heraus?

Abrupt blieb er stehen. Schaurige Töne erklangen, türmten sich übereinander zu einem obszönen Klangpolster, das ihm eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Eine Klarinette schuf diese schaurige Melodie. War ihm Anne Lanschie nachgelaufen? Schickte sie ihm einen akustischen Abschiedsgruß hinterher? Und wieso hatte er nicht daran gedacht, sie über ihre musikalischen Begabungen auszufragen?

Die Musik schwoll an, ließ gleich darauf wieder nach. Entfernte sich, kam näher, drückte sich lähmend auf sein Nervenkostüm.

Roberts Hände zitterten und schmerzten. Als würde sie jemand mit einer Zange am Handgelenk abtrennen. Er zwang sich, nach seinem Handy zu greifen. Seine Finger waren so steif, dass er es kaum schaffte, die Kurzwahl zu Nadja zu wählen.

Nichts. Keine Anzeige, keine Verbindung. Das Netz war zusammengebrochen.

»Hilfe!«, krächzte er, plötzlich voll Panik.

»Was ist denn, feiner Herr?«, fragte eine Stimme aus der Dunkelheit. »Ist Euch nicht wohl? Soll ich Euch um Eure Sorgen erleichtern?«

Ein schmieriges Gesicht schob sich in flackerndes Fackellicht. Der Mann grinste zahnlos. In seiner Rechten hielt er eine schartige, rostige Klinge ohne Griff. »Habe ich Euch nicht gerade im Alehouse um die Ecke gesehen? Habt Ihr nicht Eure prall gefüllte Geldkatze im Licht der Talgkerzen hochgereckt und lauthals herumgeprahlt?« Er kicherte. »Ein Mann des Geldes, der Yorker Straßen in den Nachtstunden durcheilt, hat entweder eine Dame des dunklen Gewerbes zu beschützen oder ist in andere sinistre Geschäfte verwickelt. Seid Ihr etwa ein Berufskollege?«

»Das geht jetzt wirklich zu weit, Kumpel«, sagte Robert. »Dieses Guy-Fawkes-Mittelalterspektakel sollte endlich sein Ende finden. Es ist weit nach Mitternacht.« Er wich ein paar Schritte zurück. Seine Stimme zitterte. Nicht nur, dass dieser Beutelschneider seine Rolle äußerst glaubwürdig spielte – der Klang der Klarinette verfolgte ihn weiterhin. Er weckte Fluchtreflexe in ihm, in seinem Leib.

Der Mann mit der Waffe rückte näher. Seine rechte Augenhöhle war leer, ein schmutziger, zusammengefalteter Fetzen bedeckte sie nur zum Teil. Er grinste, humpelte näher und reagierte nicht auf Roberts Worte.

Wahrscheinlich muss er mich nicht einmal richtig treffen, um mich zu töten, dachte er in einem plötzlichen Anfall von Selbstironie. Ein leichter Ritzer mit dieser vorsintflutlichen Waffe – und ich sterbe an einer Blutvergiftung.

Robert wich zurück, bis er gegen etwas Nachgiebiges stieß. Aneinandergebundene Binsenbündel, die mit Schnüren an der Umfriedung einer primitiven Wohnhütte zusammengeschoben waren. In einer Suhle dahinter grunzten Erdschweine aufgeregt vor sich hin, und ein stämmiges Pferd koppte bei jedem Atemzug.

Dies konnte nie und nimmer York sein! War er in seinem Dusel in irgendeinen hinterwäldlerischen Vorort der Stadt geraten? Hatte er sich denn tatsächlich so weit verirrt?

Die Waffenhand des Straßenräubers zuckte überraschend vor. Er legte sein Körpergewicht auf den vorgestreckten linken Fuß und stapfte laut auf, um Robert weiter zu irritieren.

Robert wich zur Seite hin weg. Haarscharf pfiff die Klinge an ihm vorbei und blieb in einem Strohbündel stecken. Der Meuchelmörder zerrte an seiner Waffe, um sie freizubekommen, und stieß dabei unverständliche Flüche aus. Die Augen waren weit aufgerissen; der Wahnsinn sprach aus ihnen.

Robert war niemals der Tapferste gewesen. Körperlichen Auseinandersetzungen wich er tunlichst aus. Er besaß gar nicht die biologischen Voraussetzungen, um sich mit irgendwelchen Tunichtguten zu messen. Diese jämmerliche, humpelnde Gestalt erschreckte ihn – und dennoch hörte er sich sagen: »Du kommst mir gerade recht, Kumpel! Schon den ganzen Tag fresse ich meinen Frust in mich hinein, und zu guter Letzt werde ich von der tollsten Frau, die mir seit Jahren untergekommen ist, eiskalt abserviert.«

Er umrundete den Kleinen, holte mit dem rechten Bein aus und trat ihm mit aller Wucht in den Hintern. Der Mann stolperte vor, geriet mit dem Oberkörper über die Hofabgrenzung. Die Binsen federten ein wenig und gaben schließlich nach. Nun hing er halb über den Latten und kreischte lautstark vor sich hin. Robert setzte nach: »Recht herzlichen Dank, mein Bester, dass du dich freiwillig als mein Frustpaket zur Verfügung stellst.« Neuerlich trat er zu, so fest er konnte. Die Zaunlatten drückten sich nach innen, drohten zu brechen.

»Und jetzt wünsche ich dir viel Spaß mit deinesgleichen!« Er zog die Beine des Strauchdiebs hoch, kippte ihn vornüber hinein in die Suhle. Schlamm blubberte hoch. Empörtes Quieken folgte. Die Schweine reagierten hörbar verärgert auf die nächtliche Ruhestörung, während Robert pfeifend davonspazierte.

Er fühlte sich erleichtert, fast befreit. All seine Sorgen und Probleme traten in den Hintergrund – um im nächsten Moment umso heftiger wiederzukehren. Der Klang der Klarinette fand zu neuen, irrwitzigen Höhen. Der Klangteppich kitzelte seine Gehörgänge auf unangenehme Weise; er ließ seinen Körper zittern und wanken und erzeugte einen weiteren Panikschub.

Was geschah mit ihm? Die Stimmungsschwankungen, denen er unterlag, waren nicht normal! Er setzte sich in Bewegung. Rasch, immer rascher lief er dahin. Vorbei an Menschen, die verlangend die Hände nach ihm ausstreckten. An beinlosen Krüppeln, die in Holzkisten saßen und blicklos in die Welt hinausstarrten. Weiber warfen sich vor Robert in den Staub der Straße. Sie flehten um Almosen und schleuderten ihm gottlose Flüche hinterher, als er nicht auf sie reagierte. Männer in aufgeplusterten Uniformen kreuzten ihre Hellebarden vor ihm. Er umlief die Sperre, hetzte weiter. Weg von dieser schrecklichen Musik. Irgendwohin.

Allmählich wurde es heller. Der Gestank ließ nach, und das Klarinettenspiel verstummte. Selbst der Klang seiner Schuhe auf dem Asphalt veränderte sich.

Asphalt?

Nach all dem Morast und Schmutz, durch den er sich hatte quälen müssen, spürte er endlich wieder festen Untergrund unter seinen Füßen. Links von ihm tauchte ein WH-Smith-Drugstore aus dem Dunst; er war grell beleuchtet und voll blinkender Werbeschilder.

»Oi!«

Er prallte gegen einen Mann, breit wie ein Schrank, und wurde zurückgestoßen. »Keine Angst«, sagte der Riese und lachte. Er schwankte, und seine Augen verrannen. »Du versäumst nichts von der Party. Um die Ecke befindet sich ein Stand mit diesem leckeren Springwater-Zeug. Die Mädels sind abgehauen und haben das Gesöff kistenweise zurückgelassen. Bediene dich ruhig ...« Er lachte und stützte sich schwer gegen einen Laternenmast. »Zieht mächtig rein, wenn man sich mal dran gewöhnt hat. Kriegst die volle Dröhnung nach der zehnten Flasche, kannste mir glauben. Ich hab’s ausprobiert.«

Robert ließ den Betrunkenen stehen, ohne auf seine Worte einzugehen, und marschierte weiter. Schmutz und Gestank waren aus den Straßen verschwunden. Die Wege waren breit und die Häuser in wesentlich gepflegterem Zustand als noch vor wenigen Minuten.

Hatte er geträumt? Visionen gehabt? Hatte ihn die Zurückweisung durch Anne Lanschie endgültig eine Grenze überschreiten lassen und in einen beginnenden Wahnsinn gedrängt?

Er rieb sich über die Handgelenke. Das Cairdeas war schweißbedeckt. Es fühlte sich warm, fast heiß an. Robert erschrak. War dies das angekündigte Alarmzeichen Rians und Davids? Wollten die Elfen ihm und Nadja etwas mitteilen?

Nadja! Er musste sie unbedingt finden. Sie würde ihm die Dinge erklären können, die er im Laufe dieser schrecklichen Nacht erlebt hatte. Robert benötigte ihre Nähe wie selten zuvor.

Das Handy zeigte wieder Empfang an. Robert nahm es mit Erleichterung zur Kenntnis. Er aktivierte das Gerät und marschierte in die vom Betrunkenen angegebene Richtung. Ein Alcopop würde seinen Durst stillen und das Zittern seiner Hände beseitigen.

Da war der Stand, einsam und verlassen am Rande eines kleinen Platzes.

Ringsum lagen mehrere Gestalten am Boden. Die meisten wanden sich wie unter schweren Magenkrämpfen, manch einer lag da wie tot. Robert öffnete den Mund. Er begann zu schreien.