22 Robert
Im Bett mit Anne

Verwirrung. Hitze um die Leibesmitte. Die Gier nach Leben, wie nie zuvor erlebt. Leidenschaft, so heftig, dass es schmerzte. Kraft. Energie. Das Gefühl der Hilflosigkeit. Der Triumph der Lust.

Dies alles schmeckte, fühlte, roch und sah Robert, ohne dass er seine Eindrücke einer Reihenfolge zuordnen konnte. Auch wusste er nicht, ob er so empfand oder ob ihm Anne Lanschie dieses bunte Allerlei einpflanzte.

Ihrer Wohnung, fast ebenerdig in einer namenlosen Seitengasse gelegen und ohne besondere Ausstattung, merkte man an, dass sie nur wenig genutzt wurde.

Sie wälzten sich auf kühlem Holzboden. Ein Gasofen simulierte offenes Feuer. Im Hintergrund erklang gälisch klingende Musik aus einem uralten Taschenradio. Anne drückte sich fest gegen ihn. Ihre Haare, in diesen Momenten blaurotschwarz, umloderten sie wie eine unheilige Flamme. In ihren Augen glänzte unbändige Leidenschaft. Der Wille, ihm alles abzuverlangen. Ihn in nie gekannte Ekstasen zu treiben.

Mit einem Mal bekam es Robert mit der Angst zu tun. Was machte er hier? Warum hatte er sich abschleppen lassen?

Sie spürte seinen Widerstand, presste sich fester gegen ihn und legte ihr Gesicht auf das seine. »Keine Angst, Liebling; lass es einfach geschehen«, flüsterte Anne. Ihre Zunge spielte mit seinem rechten Ohrläppchen, ihr Atmen dröhnte laut.

Robert entspannte sich. Was sprach gegen ein kleines Abenteuer? Er konnte vergessen, sich entspannen, die Bedeutung dieser Nacht weit weg nach hinten schieben. Anne Lanschie wollte ihm helfen, das fühlte er. Sie wollte sein seelisches Leid lindern, ihm auf ganz besondere Art Heilung verschaffen.

»Du bist derjenige, nach dem ich so lange gesucht habe«, flüsterte Anne. Sie drehte sich beiseite und zog ihn auf sich. Ihre Beine rutschten auseinander. »Liebe mich. Mach mich glücklich. Gib mir, was du hast.«

»Auf dem eiskalten Boden?« Er erwiderte ihre gierigen Küsse.

»Sei nicht so spießig. Wir machen uns unsere Hitze selbst. Denk nicht nach – tu es einfach!«

Robert liebte weiche Betten und kuschelige Decken. Sie waren für ihn Bestandteil eines gelungenen Sexualakts. Er zögerte, wollte Annes Leidenschaft viel lieber mit allen Annehmlichkeiten genießen.

Anne lächelte seinen Wunsch beiseite und küsste ihn erneut. Ihre Hände fuhren über seinen Po und drückten ihn fest an sich. Sie begann, ihn mit unendlich zärtlichen Berührungen im Schritt zu streicheln.

Nur wenige Augenblicke dauerte es, dann waren sie beide nackt. Anne war eine Zauberin. Jeder Handgriff saß, jede Bewegung steigerte seine Lust noch mehr.

»Mach es jetzt! Bitte!«

Robert packte ihr kreisendes Becken und zog es an sich. Er drang ihn sie ein. Langsam, mit aller Geduld, die ihm sein gemarterter Verstand gestattete. Er streichelte ihre Brüste, den Warzenhof, wühlte sich in ihren Hals, biss sie in den Nacken.

Anne stöhnte leise. Anmutig, als empfände sie sein Eindringen als Akt besonderer Höflichkeit. »Es ist wunderschön!«, murmelte sie. Ihr Körper wand sich wie der einer Schlange. Sie massierte ihn durch ihre Bewegungen auf eine Art, wie er es niemals zuvor erlebt hatte.

Kein Wunder!, dachte der kleine Störenfried in seinem Verstand. Die Zahl der Sexualkontakte, die du seit ... damals hattest, schrammt haarscharf an der Null entlang.

Robert hob seinen Oberkörper ein Stückchen an und verlangsamte sein Tempo. Er betrachtete Anne; wie sie sich mit absurder Intensität von ihm befriedigen ließ. Sie schien von innen heraus zu strahlen, wurde zu einer Göttin der Lust. Alles an ihr war Liebe, Verlangen, Zärtlichkeit. Keine Berechnung war da zu sehen, kein »Jetzt mach schon, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit!«, kein Unverständnis für seine Ungeschicklichkeit.

Anne Lanschie genoss. Sie gab ihm das Gefühl, in diesen Minuten der wichtigste Punkt des Universums zu sein. Sie schenkte ihm: Glück.

Und sie war selbst Glück.

»Das war unglaublich!«, flüsterte Robert. Mit dem Handrücken streichelte er Anne über eine Wange und hauchte ihr einen Kuss zu.

Sie lächelte, schmiegte sich an seine Schulter und reichte ihm ihre halb gerauchte Zigarette. Diese einfache Geste erschien ihm als intimer Akt sondergleichen. Als wollte sie sagen, dass sie von nun an alles mit ihm teilen wollte.

Robert blickte sich um. Irgendwie waren sie doch noch im Bett gelandet. Eine staubige Decke wärmte sie, am wackeligen Nachtkästchen brannte ein schwaches Licht.

Anne legte wohl nicht viel Wert auf Einrichtung. Mehrere Keramikvasen mit geschmacklosem Artdéco-Muster standen auf dem Boden. Plastikblumen steckten darin; manche von ihnen waren abgeknickt, andere von der Sonne ausgebleicht. Ein riesiger Glas- Aschenbecher neben dem zentralen, runden Tisch war fast bis zur Hälfte gefüllt. Ein aufgeklappter Pizzakarton, aus dem Überbleibsel einer Mahlzeit hervorlugten, hing über den Rand eines abgenutzten Chippendale-Stuhls, und die Tischplatte war mit Essensresten übersät. Das breite Bett stand in der Mitte des Raumes. Als wäre es das Zentrum von Anne Lanschies Leben.

Und wenn es tatsächlich so war? Würde sie jetzt aufstehen, »Ätsch, reingelegt!« sagen und ihn um hundert Pfund zu erleichtern versuchen?

Na und – sollte sie! Er hätte gerne und bereitwillig gezahlt. Etwas Derartiges hatte Robert noch nie erlebt. Anne verstand sich darauf, alles, was er in sich trug, aus ihm herauszukitzeln. Sie forderte und förderte. Sie gab und nahm, hielt die Dinge in einem alles erfüllenden Gleichgewicht.

»Wem gehört die Staffelei dort drüben?«, fragte Robert und deutete in eine Nische. »Etwa dir?«

»Nein.« Annes Lippen wurden schmal. »Ein Freund von mir verbrachte einige Zeit hier in York und malte. Ein verrückter New Yorker, der auf einem Selbstfindungstrip war und Ruhe von der Hektik im Big Apple benötigte. Du weißt schon ...«

»Ist das schon lange her?«

»Höre ich da Eifersucht in deinen Worten durchklingen?« Anne richtete sich ein wenig auf. Ihre Brüste – handgroß und handlich – rutschten in Form. Sie legte ihm einen Finger auf die Nasenspitze. »Hör zu, mein Lieber: Was auch immer ich mit wem auch immer getrieben habe, geht dich nichts an. Kapiert?«

»Ist schon gut, Anne. Ich hab’s nicht so gemeint ...«

Sie zog die spitze Kralle ihres Fingernagels von der Nase hinab über seinen Mund, das Kinn und den Hals. Die Bewegung erzeugte prickelnden Schmerz.

»Ich spiele gerne mit offenen Karten, Robbie. Ich hatte in meinem Leben bereits eine Menge Freunde. Ich genieße Sex. – Warum auch nicht? Ist ja eine herrliche Sache, nicht wahr? – Aber ich bin immer treu geblieben. Ich hatte immer nur Platz für einen Menschen im Kopf. Und momentan bist du das. Alles klar?«

Robbie ... Niemals zuvor hatte ihn jemand so genannt. Es hörte sich ungewohnt an. Lisa hatte Rob gesagt, wenn sie es zärtlich meinte, und Robert, wenn sie ungehalten war, mit Betonung auf der zweiten Silbe. Doch dieses Robbie – es klang frisch und unverbraucht. Ein neues Wort, ein neuer Lebensabschnitt.

»Alles klar«, murmelte er gedankenlos. »Ich habe verstanden.«

»Sehr brav. Ich denke, du verdienst eine Belohnung.«

Annes Hand glitt noch tiefer hinab. Sie wühlte sich durch seine Brusthaare und tätschelte seinen Bauch. Robert spannte die Bauchmuskulatur an, soweit es ihm möglich war. Er genierte sich für die Speckschwarte, die um seine Leibesmitte hing. Zu viele Biere und Schnäpse hatten Spuren hinterlassen. Sein unruhiges Leben, die vielen Nachtschichten und all die endlosen Besprechungen in verrauchten Redaktionsbüros hatten auch nicht unbedingt geholfen, die körperliche Fitness zu bewahren.

»Entspanne dich«, sagte Anne, als ahnte sie, was ihn bewegte. »Es braucht wohl ein wenig Zeit, um dich in Form zu bringen; aber das kriege ich hin.« Auch ihr Kopf glitt nun an seinem Körper hinab. Tiefer, immer tiefer. »Pass auf die Zigarette auf«, murmelte sie.

Zigarette? Er hatte den Glimmstängel vollkommen vergessen. Er machte ihn aus, schloss die Augen und genoss, was ihm Anne zu bieten hatte.

»Das war unglaublich!«, sagte Robert völlig erschöpft.

»Du wiederholst dich.«

Anne schwang ihre langen, blassen Beine aus dem Bett und marschierte aus dem Zimmer. Ihr herzförmiger Popo, dessen feste Hälften im Takt ihrer Schritte wackelten, fachte Roberts Fantasie erneut an.

Sie geriet aus seinem Gesichtsfeld. Ein vager Lichtschein drang aus der Küche. Er hörte das schmatzende Geräusch einer sich öffnenden Kühlschranktür; dann das Gluckern von Flüssigkeit, eine durstige Kehle hinab.

Anne kehrte zurück. Ihr Körper war über und über mit Schweiß bedeckt. Sie lächelte unbestimmt und schlüpfte in ein Hemd.

»Es wird Zeit, dass du gehst.«

Sie scherzte, trieb irgendein Spielchen mit ihm. »Es gefällt mir ganz gut hier.« Robert grinste. »Hast du für mich auch etwas zu trinken?«

»Bediene dich selbst im Kühlschrank. Und dann verschwinde, bitte schön.«

»Wie bitte?« Er richtete seinen Oberkörper auf. Sein Herz schlug mit einem Mal schneller.

»Du hast mich schon verstanden, Robert. Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut – aber nicht mehr als das.« Anne schöpfte mit beiden Händen Wasser aus einer Waschmuschel, die sich links neben dem Bett befand, über ihren Oberkörper. Sie trocknete sich ab, ließ das Handtuch achtlos fallen und schlüpfte in ihren Slip. »Ich muss nachdenken. Allein sein, klar? «

»Aber ... aber ...«

»Sieh mal.« Sie setzte sich zu ihm, an die Kante des Bettes, und tätschelte sein Knie. »Ich bin ein Instinktmensch. Ich folge dem, was mir mein Herz sagt, ohne lange darüber nachzudenken. Da war diese Trauer in dir, und ich fand, dass ich dir ein wenig helfen sollte, sie zu überwinden. Alles Weitere, so meinte ich, würde sich ergeben.« Anne zuckte die Achseln. »Der Sex war schön. Ich fühle mich wohl bei dir. Du bist sehr einfühlsam, und du hast gewisse Qualitäten. Aber das allein reicht mir nicht. Ich muss dieses gewisse Etwas spüren. Verstehst du?«

Nein, tat er nicht. »Das ist doch nicht dein Ernst!« Robert fühlte Wut in sich wachsen. »Erwartest du etwa, dass bereits nach ein paar Stunden Beisammensein alles in absoluter Harmonie verläuft? Dass wir eine Seelenverwandtschaft füreinander entdecken?« Der Zyniker, der den größten Teil seines Lebens beherrschte, drängte sich in den Vordergrund und verscheuchte alle schönen Gedanken, denen er eben noch nachgehangen hatte.

»Das, mein Lieber, am allerwenigsten.« Anne lachte auf, wurde aber gleich wieder ernst. »Es gibt kein Wort dafür, wie und was ich empfinde. Ich spüre, ob etwas passt oder nicht.«

Robert stieß ihre Hand zornig beiseite und rückte an den Rand des Bettes, so weit wie möglich weg von Anne. Er konnte und wollte nicht glauben, was diese Frau plötzlich von sich gab. Sie wirkte wie ausgewechselt. Kühl, unpersönlich, desinteressiert.

»Du musst es nicht verstehen«, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu. »Es reicht, wenn du es akzeptierst. Und jetzt geh, bitte.«

Robert fühlte sich wie betäubt. Er stand auf, wusch sich seine Wut aus dem Gesicht, zog sich an. Die antrainierten Automatismen seines Berufslebens griffen. Er tastete nach den beiden Kameras, blickte in die Fototasche und überprüfte die Ausrüstung. Als müsste er sich auf einen neuen Job vorbereiten und den alten gedanklich beiseiteschieben.

»Das war’s also?«, fragte er, ohne Anne anzublicken.

»Du weißt, wo du mich erreichst. Ich hinterlasse eine Nachricht.« Sie blieb auf ihrem Bett sitzen, die Hände im Schoß gefaltet. Wie ein verängstigtes kleines Mädchen. Stimme und Worte straften ihre Körpersprache Lügen.

»Versprochen?« Was bewog ihn dazu, sich so weit zu erniedrigen und nachzuhaken? Er wusste doch, dass sie nicht die Wahrheit sagte.

Anne presste die Lippen aufeinander und nickte.

Robert drehte sich um und ging davon. Den dunklen Gang entlang. Angewidert umrundete er die Stelle, an der sie sich das erste Mal geliebt hatten. Der Boden war hier feucht vom Schweiß und frei von Staub. Er verließ die Wohnung und schmetterte die Tür hinter sich zu, so kräftig er konnte.

Er stürzte die wenigen Stufen hinab und lief davon. Weg von dieser Frau, die ihn in dieser Nacht in lichte Höhen gehoben hatte, um ihn gleich darauf ins tiefste Fegefeuer zu stoßen.

Zornig schritt er voran, einfach drauflos. Es kümmerte ihn kaum. Ihm war egal, wohin sein Weg führte. Hauptsache weg von hier.

Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Seltsame Bilder überlagerten sich, geboren aus dem Wahnsinn, den er in seinem Leib toben spürte. Schmerzen in der Brust, den Beinen und den Armen ließen ihn stehen bleiben und zwangen ihn zu Boden.

Was geschah mit ihm? Was hatte Anne Lanschie mit ihm gemacht? Er wusste kaum etwas über sie, wenn er darüber nachdachte. Lag er etwa hier, um an gebrochenem Herzen zu sterben?