EPILOG

Aus Zeit- und Platzgründen musste ich zahlreiche weitere Geschichten in diesem Buch weglassen, die die Macht der Mafia im Norden unseres Landes belegen. Denn darum geht es ja: Mafia-Organisationen, die Ableger im Norden Italiens aufgebaut haben und hier Teile der Wirtschaft übernommen haben. Und somit auch Teile der Macht. Die Clans sind längst angekommen in der Lombardei, in der Emilia-Romagna, in Ligurien, in Piemont, im Veneto, im Valle d’Aosta. Und sie sind nicht hierher gekommen, um körperlich zu arbeiten und anschließend wieder dahin zurückzukehren, wo sie herkamen. Aus dem Süden, jenseits der im Zweiten Weltkrieg »Gotenlinie« genannten Frontlinie zwischen Nord- und Süditalien. Heute wollen die Bosse im Norden leben, und sie wollen gut leben. Es soll ihnen an nichts fehlen. Beschützt von ihren Leuten, mit deren Hilfe sie lokale Ableger errichten, die dem »Mutterhaus« unterstehen, oder von ihm unabhängig sind. Das hängt von dem jeweiligen Fall und der jeweiligen Organisation ab.

Aber immer trachten sie danach, sich neue Freiräume zu eröffnen innerhalb des Wirtschafts- und Sozialsystems an der nördlichen Peripherie Italiens. Sie sprechen direkt mit Institutionen, mit Unternehmern, mit der Justiz. Unter den vielen Ereignissen, die außen vor bleiben mussten, waren etwa die Ermittlungen gegen den Gerichtspräsidenten von Imperia. Er soll einige Mafiosi gegen Geld geschont haben. Und aus Platzmangel konnte ich leider auch das System der »vorgetäuschten Kooperativen« nur andeuten: Falsche Kooperativen, die von den ursprünglichen Idealen nur noch den Namen behalten haben. Verschiedene journalistische Artikel zu diesem Thema habe ich in der Gazzetta di Modena veröffentlicht. Ich habe hierzu Arbeiter und Gewerkschaftler interviewt, außerdem neue sowie ältere Akten gewälzt. Was dabei offenbar wird, ist ein System von Firmen, die hinter der Benennung als Kooperative schlimmste Missbräuche und millionenschwere mafiöse Interessen betreiben, Ausbeutung und illegale Überlassung von Arbeitskräften, Geldwäsche, Drogenlagerung. Ein System, das sich von der Nachfrage nach Dienstleistungen nährt, von Subaufträgen, die große, bekannte Baufirmen bei Großaufträgen an kriminelle Kleinunternehmen weitergeben, die sich »Kooperativen« nennen, aber die in Wirklichkeit Gesellschaften sind, in denen die Arbeiter als Gesellschafter weder die eigenen Rechte, noch das Statut kennen, noch gar an den Gewinnen der Kooperative beteiligt sind.

Denken wir an die großen Namen der Logistik. In Mailand hat TNT einige Handlanger-Kooperativen der ’Ndrangheta beschäftigt. Und in Bologna, in Modena und in Lucca ist es nicht anders. Es ändern sich nur die Namen der beteiligten Clans. In Mailand ist es der Flachi-Clan, in der Emilia-Romagna und in der Toskana der Farao-Marincola-Clan.

Es lebe das Outsourcing! Manna, das vom Himmel fällt für die Mafien in der Po-Ebene. Und ein Mittel, um die Arbeitskosten legaler Unternehmer zu drücken. Darüber hinaus planen sie im Norden Strategien, die wiederum in Kalabrien zur Anwendung kommen sollen. Typisch hierfür der Satz, den Francesco Ventrici, der in Bologna wohnt und als Vertreter des Mancuso-Clans aus Vibo Valentia gilt, aussprach: »In Kalabrien gewinnt nicht mal der Papst den Krieg gegen uns.«

Die mehr oder weniger verhüllte Drohung richtete sich gegen zwei Leiter von Lidl Italien. Die Firmen von Ventrici hatten bereits seit Jahren für Lidl gearbeitet und waren exklusiv für den Transport in Kalabrien zuständig gewesen. Aber als sich die Firma entschied, auch andere Firmen als Frachtführer neben den Firmen des Paten zu beschäftigen, begannen die Drohungen und die Anschläge auf die Lkws der nicht »autorisierten« Firmen. Diese Einschüchterungsversuche genügten, um einen Sinneswandel bei den Managern des Unternehmens herbeizuführen. In der Folge wurden die Ladenlokale wieder exklusiv durch Firmen von Ventrici beliefert.

Von März 2010 bis Juli 2011 wurden in der Emilia-Romagna, in der Lombardei, in Piemont und Ligurien rund fünfzig Anti-Mafia-Operationen durchgeführt. Es kam zu über vierhundert Festnahmen. Güter im Wert von Hunderten von Millionen Euro wurden beschlagnahmt. Eindrucksvolle Zahlen, die die Macht der Mafien im Norden sichtbar werden lassen. Organisationen, die einen fruchtbaren Boden in einem System vorfinden, dessen Regeln von den Beteiligten selbst immer weniger eingehalten werden, und die mittels Korruption eine führende Rolle im Wirtschaftssystem Italiens spielen. Eine andere Zahl, die eine Vorstellung des Wandels der Mafien vermittelt, betrifft die Rechtshilfeersuche vonseiten der lokalen Anti-Mafia-Behörden und der nationalen Anti-Mafia-Direktion. Erstere haben zwischen 2009 und 2010 rund zweihundert Ersuche gestellt, letztere über 450. Die meisten kamen aus Neapel und Reggio di Calabria. Sie richteten sich zumeist an Deutschland, Spanien und die Niederlande. Andere gingen an Kolumbien, Bosnien, die Schweiz und San Marino.

Rechtshilfeersuche und die beschlagnahmten beziehungsweise in Staatsbesitz überführten beweglichen und unbeweglichen Güter lassen den Umfang der Mafia-Macht im Norden wie im Süden Italiens sichtbar werden. Bis Anfang November 2010 wurden insgesamt 11 152 bewegliche und unbewegliche Güter endgültig beschlagnahmt. Die geografische Verteilung lautet wie folgt: 44,57 Prozent in Sizilien, 15,06 Prozent in Kampanien, 13,85 Prozent in Kalabrien, 8,58 Prozent in der Lombardei, 8,12 Prozent in Apulien, 4,32 Prozent in Latium und unter zwei Prozent in den übrigen Regionen.

Die Lombardei ist also die Region des Nordens mit der höchsten Zahl an Beschlagnahmungen. Dort ist aber auch die juristische Anti-Mafia-Struktur am weitesten entwickelt. In diesen Gegenden beschäftigen sich Staatsanwälte systematisch mit den mafiösen Organisationen. Sie betrachten und analysieren sie als eine einheitliche Körperschaft und nicht als Banden gemeinschaftlicher Delinquenten. In der Emilia-Romagna bilden die Daten und Fakten nicht die Realität ab. Die ’Ndrangheta und der Casalesi-Clan haben hier ein Imperium geschaffen, das von Rimini bis Piacenza reicht. Dennoch sind hier Beschlagnahmungen und Überführungen in den Staatsbesitz selten. Erst seit Roberto Alfonso der dortigen Staatsanwaltschaft vorsteht, der von der nationalen Anti-Mafia-Direktion kam, ist eine Veränderung erkennbar geworden.

Auch auf dem Gebiet der Kapitalvermögen kommt Schwung in die Sache. Im Juli 2011 belegte ein Ereignis erneut das Bild Modenas, das im Zentrum milliardenschwerer Projekte der ’Ndrangheta steht, zusätzlich zu dem – bereits erschöpfend belegten – Interesse des Casalesi-Clans an der Stadt. Ein Finanzberater und eine Anwältin aus Modena hatten sich »der kriminellen Gruppe zur Verfügung gestellt«. Die Mafiosi wollten einen Kredittitel der Geldwäsche unterziehen, der dem ehemaligen Diktator Indonesiens gehörte, mit einem aktuellen Wert von 39 Milliarden Dollar. Unter den in diesem Zusammenhang Verhafteten war auch Nino Napoli, »der dem vorbestraften Rocco Baglio nahesteht«. Dieser weist aber auch zu anderen führenden Mafiosi der Ebene von Gioia Tauro (Kalabrien) verwandtschaftliche Beziehungen auf.

Napoli ist ein Speditionsunternehmer, dessen Lkws häufig auf den Straßen von Modena und Reggio Emilia gesichtet werden. Ihm wird unterstellt, zu den Gefolgsleuten von Rocco Antonio Baglio zu gehören. Napoli lebt in Rubiera, aber arbeitet in Modena, kennt die Selbständigen des Ortes und weiß, wie er sich verhalten muss, um keinen Verdacht zu erwecken. Er selbst ist in Polistena (Kalabrien) geboren, im Hinterland von Gioia Tauro (Region Reggio di Calabria). Aus Polistena stammt auch Baglio, der Ende der siebziger Jahre in die Emilia verbannt wurde. Von den Lkws bis zur Hochfinanz, das ist die ansteigende Parabel der beruflichen Erfolge Napolis.

Paolo Baccarini ist einer der unverdächtigen Einwohner Modenas, den mit dem zur Finanz gewechselten Spediteur eine über die beruflichen Dinge hinausgehende freundschaftliche Beziehung verbindet. Baccarini arbeitet als Finanzberater, und »fühlte sich im Innern der Organisation wie zu Hause«, wie der Ermittlungsrichter festhielt. Und Baccarinis Funktion beschränkte sich nicht nur auf die von ihm zur Verfügung gestellten technischen Fähigkeiten im Finanzsektor für einzelne Operationen, sondern er »kollaboriert vollumfänglich in organischer Weise mit der Gruppe«. Durch Baccarini stießen die Ermittler der Finanzpolizei auch auf eine Anwältin aus Modena namens Daniela Rozzi. »Sie sollte Prokura bekommen für die Verhandlungen über das im Gang befindliche Milliardenprojekt«, schrieb der Untersuchungsrichter.

Aus abgehörten Gesprächen geht deutlich hervor, dass ihre Rolle generell eher marginal war. Die Organisation bedurfte jedoch ihrer beruflichen Fähigkeiten, um das Geschäft abzuschließen. Und sie fragte ihren Freund Paolo mehr als einmal, wie aus den Unterhaltungen hervorgeht, ob bei der ganzen Sache auch etwas zu verdienen sei. »Jede Menge«, versicherte Baccarini.

Schattenwirtschaft, Korruption, Mafia. Drei Aspekte, denen man während der mühsamen und aufwendigen Suche nach den eigentlichen Zentren krimineller und politischer Macht begegnet. Seit ich begonnen habe, das vorliegende Buch zu schreiben, ergab sich eine unendlich scheinende Reihe von immer neuen Erkenntnissen. Erkenntnisse, die leider die faktische Existenz von etwas belegen, was für viele eine Theorie von Außenseitern oder eine nebensächliche und hauptsächlich Süditalien betreffende Frage ist.

Das Manuskript abzuschließen war keine leichte Sache. Ich habe zahlreiche Ergänzungen vorgenommen, Episoden in letzter Minute eingefügt. Alles in allem habe ich versucht, ein – teilweise mit romanhaften Zügen versehenes – Bild wiederzugeben, das so aktuell und umfassend wie möglich sein sollte. Was ich nicht mehr einfügen konnte, weil es sich nicht ereignete, war die Beschreibung eines über die üblichen demagogischen Schemata hinausgehenden, entschiedenen Auftritts der norditalienischen Politik gegen die mafiösen Organisationen in der Po-Ebene. Abgesehen von den Lobeshymnen nach den Verhaftungen, den Glückwünschen, den kalten und distanzierten Verurteilungen der verwickelten Lokalpolitiker und dem Lob für den damaligen Innenminister Maroni und den damaligen Ministerpräsidenten Berlusconi, blieb alles, was einem entschiedenen Entgegentreten gegenüber den Mafien gleichgekommen wäre – eine Aktion, besetzt mit Personal, das sich im Umfeld der Regierung bewegt oder dieser selbst angehört – aus. Eine einzige starke und umfassende Aktion, um die Unterwanderung der Bauwirtschaft, der Spielhöllen, der Wirtschaft und des Wahlsystems anzuprangern, hätte mir schon gereicht. Aber leider Fehlanzeige.

Jenseits der fast schon Routine gewordenen Polizeiaktionen und Verurteilungen gäbe es eine große Leere, wäre da nicht der Bereich der Bürgervereinigungen. Nur die Regionalversammlung der Emilia-Romagna hat ein Anti-Mafia-Gesetz erlassen, das erste seiner Art, das auch Bestimmungen über die öffentlichen Ausschreibungen und Mittel zur Verbreitung der Kultur der Legalität enthält. Das ist sicher ein wichtiges Signal, aber um den Kampf zu gewinnen, bräuchte es härtere und radikalere Instrumente auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Arbeit und der Justiz. Wiederum in der Emilia-Romagna haben die Selbständigen der Stadt Modena eine berufliche Ethik-Charta beschlossen. Elf Artikel regeln unter anderem die Suspendierung aus den Reihen der Selbständigen bei Vorfällen von illegalen Absprachen, und im Fall einer endgültigen Verurteilung wegen mafiöser Umtriebe den Ausschluss und die Beschlagnahmung der Güter.

Es ist ein erster Ansatz, der den Weg aufzeigt für die Berufsverbände der anderen Regionen. Es ist ein Instrument, das den Korrumpierten Angst machen könnte. Im Übrigen haben die Selbständigen von Modena ihre Kompetenzen für die Rekultivierung des Valle del Marro in Kalabrien zur Verfügung gestellt, wo die auf einem ehemaligen Mafia-Landgut stehenden Olivenbäume der Vereinigung Libera in der Ebene von Gioia Tauro bei einem Anschlag in Brand gesteckt wurden – Beispiel für eine Anti-Mafia-Kultur, die Grenzen überschreitet und die sich solidarisch zeigt mit den von Mafien Unterdrückten. Es ist eine Anti-Mafia, die agiert und die Rechte einfordert. Denn die Mafien gewinnen dort, wo die Rechte nachlässig gehandhabt werden, wo die Kultur abwesend ist, weil es bequemer so ist, wo Rechte zu Privilegien wurden. Die vom jeweiligen Paten zugebilligt werden oder nicht.

Und wem das dann immer noch als eine nur die südlichen Landesteile Italiens betreffende Frage vorkommt: Fahrt nach Buccinasco, nach Corsico, ins Ex-Stalingrad von Italien, in die Nähe der Stadt Turin, an die ligurische Riviera, ins Hinterland von Modena, in den Appennin oder nach Bologna mit seinen Zwillingstürmen. Geht herum und fragt – vielleicht seht ihr gerade keine Bürgersteige voller Blut und Pistolenhülsen, wie in San Luca, aber ihr werdet arme Leute finden, die flehentlich um etwas bitten, was ihnen eigentlich als selbstverständliches Recht zusteht. Im Süden wie im Norden. Das ist das vereinigte Italien von heute, unter dem Schriftzug der »Mafia AG«.