18.

DIE ’NDRANGHETA IST DA

»Ich werd dich finden! Ich weiß, wo du wohnst! Ich werd dich verprügeln, wann immer ich dazu Lust habe!« Eigentlich ist es Roccos Aufgabe, Haftbefehle zuzustellen. Er ist Polizist in Bordighera, kennt sich aus mit Verbrechern. Aber dieses Mal treffen ihn die Drohungen. Sie graben sich tief in sein Bewusstsein ein, sie setzen ihm zu. Wer ihn da einzuschüchtern versucht, ist niemand geringeres als Roberto Pellegrino, einer der Gebrüder Pellegrino. Die Pellegrinos sind ein berüchtigter, polizeibekannter Clan, der seit einiger Zeit im Fokus der Anti-Mafia-Behörde steht.

Ursprünglich stammen sie aus Seminara (bei Reggio di Calabria). Verwandtschaftliche Beziehungen verbinden sie mit Spitzenleuten der Organisierten Kriminalität an der Ligurischen Küste und mit dem Santaiti-Gioffrè-Clan. Nach einer kurzen Phase, während der sie auf dem Gebiet des Drogenhandels, der Waffen- und Dynamitschiebereien tätig waren, haben sich ihre Interessen mittlerweile auf die Bauwirtschaft, speziell Aushub und Erdarbeiten, verlagert. In kürzester Zeit haben sie verschiedene Baufirmen gegründet, mit welchen sie um öffentliche Ausschreibungen konkurrieren.

Die Drohungen klingen noch in Roccos Kopf nach, verfolgen ihn bis nach Hause. Er war bisher davon überzeugt, dass so etwas in Ligurien nicht vorkommen könne. »Das hier ist ja nicht Kalabrien oder Kampanien«, sagte er zu seinen Freunden. Aber die ’Ndrangheta hat ihre traditionellen Grenzen längst überschritten. Das weiß Rocco zwar – Zeitungen und Fernsehsender haben darüber berichtet –, aber er hätte sich nie vorstellen können, dass ihn ein Mafioso persönlich bedrohen würde, weil Rocco ihm eine vom Staatsanwalt unterschriebene Vorladung überbringt.

Rocco ist zunehmend besorgt. Tag für Tag wachsen seine Befürchtungen. Er weiß, dass die Brüder von Roberto Pellegrino frei herumlaufen. Der Clan hält zusammen. Rocco schrickt zusammen, als sein Handy klingelt. Es sind erst wenige Stunden seit der Verhaftung von Pellegrino vergangen. »Hallo?« Aber es ist nur sein Onkel Gianni. Er berichtet Rocco, dass einer von Pellegrinos Brüdern ihn angerufen habe. »Er hat mich bedroht und beleidigt. Ich soll dir sagen, dass er dich mit eigenen Händen umbringen wird, wenn man seinem Bruder auch nur ein einziges Haar krümmt. Dass er dafür gern in den Knast geht.«

Die Beklommenheit von Rocco wird zu Angst. Kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn. Er überlegt, was er tun kann. Soll er Giovanni Pellegrino anrufen, wie ihm sein Onkel geraten hat? Oder soll er einfach weiterarbeiten, als ob nichts passiert wäre, als ob er keine massiven Drohungen erhalten habe? Er sucht verzweifelt nach einer Lösung und merkt gar nicht, dass er dabei zum ersten Mal seit Jahren wieder an seinen Nägeln kaut. Er nimmt sein Handy und wählt die Nummer, die ihm sein Onkel gegeben hat. Immerhin sind wir hier nicht in Kalabrien, denkt er sich und will sich damit beruhigen, die schreckliche Angst besiegen, die sich in ihm ausgebreitet hat und die seinen Magen wie eine eiserne Faust umklammert. »Hallo, spreche ich mit Giovanni Pellegrino?« Die zaghafte Stimme des Polizisten wird von lautstarken Beschimpfungen und Drohungen übertönt. Es ist ein kurzes Telefonat, aber lang genug, um dem Polizisten zu zeigen, dass die Mafia in seinem Heimatort Bordighera angekommen ist.

Es ist Juni 2010. Fast ein Jahr ist seit der Verhaftung von Roberto Pellegrino wegen illegalen Waffenbesitzes und wegen der Bedrohung von Rocco vergangen. Morgendliches Zwielicht liegt über den Gassen von Bordighera. Die Stadt erwacht langsam. Sommerlich träge Wellen des Meeres schlagen verhalten an den Strand. Frankreich ist nur wenige Kilometer entfernt. Eine Stunde Fahrt, und man ist in der Provence mit ihren Düften, Farben, Früchten, dem Lavendel, dem entspannten Leben. Marseille. Cannes. Nizza. Bordighera ist teilweise Ligurien, teilweise aber auch schon Provence. Frühjahr und Sommer sind in Bordighera ein Kaleidoskop von Farben. Hier fehlen die für den Norden Italiens charakteristischen Klischees. Düfte, Gerüche, salzige Luft, Geräusche, Gastfreundschaft erinnern schon an die geographisch begünstigteren Mittelmeerländer.

Aber dieser Morgen unterscheidet sich von den übrigen in Bordighera. Der Krach von Hubschraubern liegt über der Stadt und stört die geruhsame Heiterkeit der Bewohner, die entweder noch schlafen, frühstücken oder bereits auf dem Weg zu Arbeit sind, in ihre Büros, Kanzleien, Werkstätten oder Fabriken. Die mechanische Gewohnheit wird von der ’Ndrangheta pulverisiert. 2009 und 2010 sind für die Riviera an der ligurischen Küste heiße Jahre gewesen. Viele Brandanschläge haben die Einwohnerschaft und vor allem die Ermittlungsbeamten aufgeschreckt. Denn solche Anschlagsarten deuten auf die Präsenz von Mafia-Ablegern vor Ort hin, welche die klassischen Mittel der Einschüchterung nutzen, um sich Unternehmer, Fachleute und Politiker gefügig zu machen.

So auch im Fall von Franco Colacito, der bis zur Auflösung der Stadtverwaltung durch das italienische Justizministerium Stadtrat von Bordighera war. Seine Tätigkeit für die Stadt endete 2009. Sie hängt zusammen mit der Abfolge von Ereignissen, die das verschlafene Bordighera erschütterten. Schon seit längerem war eine gewisse Unruhe in der Stadt zu bemerken. Die Zunahme an Brandanschlägen auf Cafés und Baustellen sowie die immer häufigeren Einschüchterungsversuche waren Indizien für das unaufhaltsame Näherrücken der »Palmenlinie«, wie sie der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia nannte.

In Bordighera wird man sich an diesen 13. Juni als einen Tag erinnern, an dem es kein Zurück mehr gab, als niemand mehr einfach so tun konnte, als wäre alles in Ordnung. Die Hubschrauber, die Sirenen, die Polizisten auf der Jagd nach den Männern des Pellegrino-Clans machen einen Heidenlärm, so als ob sie die ganze Einwohnerschaft aufwecken wollten. An diesem Morgen wird die ’Ndrangheta in Bordighera aus ihren Fuchsbauten gejagt. Ihre politischen und ökonomischen Ambitionen, ihr Strickmuster aus Gewalt und Korruption kommen ans Tageslicht.

Die Spürhunde der Anti-Mafia-Einheit suchen nach Roberto, Giovanni und Maurizio Pellegrino, nach Francesco Barillaro, dem Schwager von Giovanni, und nach einigen Gefolgsleuten, die beschuldigt werden, an den legalen und illegalen Geschäften der Familie teilgenommen und, wie die Ermittlungen ergaben, einen Mafia-Clan gebildet zu haben. Vorgeworfen wird ihnen unter anderem: Entführung, Förderung der Prostitution, Bedrohung von öffentlichen Angestellten und Lokalpolitikern aus Bordighera.

Roberto Pellegrino wird einige Wochen später wieder aus der Haft entlassen. Die Richter befinden, dass es in seinem Fall keine ausreichenden Hinweise gibt, die die Untersuchungshaft rechtfertigen würden. Kronzeugen aus dem nahe gelegenen Ventimiglia hatten zu diesem Zeitpunkt schon von der Existenz einer lokalen Mafia-Zelle, genannt Locale, berichtet. Diese diene als Bindeglied zwischen den Mafia-Zellen an der französischen Côte d’Azur und denen auf ligurischem Gebiet. Die Mafiosi selbst nennen das Gremium »Kontrollraum«. Ein Entscheidungsgremium, das in die Strukturen der internationalen ’Ndrangheta eingebunden ist.

Die Villa der Familie Pellegrino liegt auf den Hügeln oberhalb von Bordighera. Grundstücke und Häuser stellen die beliebtesten Wertanlagen der Gebrüder dar. Ihr Tiefbau-Unternehmen ist in ganz Ligurien bekannt. Ein angesehener Betrieb, der auch die Aushubarbeiten am Strand von Bordighera ausführte und haufenweise öffentliche Aufträge für sich entscheiden konnte. Aufträge, die große Teile der ligurischen Wirtschaft betreffen. Die Pellegrinos unterhalten demgemäß Beziehungen zu Lokalpolitikern, Verwaltern und Beigeordneten, die sich bereit erklären, zugunsten des Clans bei den Antragsverfahren zu intervenieren. Die nationale Anti-Mafia-Direktion geht davon aus, dass der Clan in die ’Ndrangheta ihres Heimatortes Seminara eingebunden ist.

Das Treffen des Ausschusses fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Nichts von dem, was dort besprochen wurde, gelangte an die Öffentlichkeit. An diesem Abend sollen wichtige Entscheidungen gefallen sein. Die Verwaltungsspitze von Bordighera war zusammengekommen, um einige Anfragen zu bewerten, die die Eröffnung neuer Spielhallen betrafen. In den Städten breiteten sich diese modernen Casinos, in denen es keine Croupiers, sondern nur noch Spielautomaten gibt, immer weiter aus. Um eine solche Spielhölle zu eröffnen, bedarf es allerdings einer Genehmigung der Stadt.

Die ’Ndrangheta kocht ihr Süppchen auf niedriger Flamme. Wenn ihr ein bestimmtes Grundstück gefällt, wird eine methodische Vernebelungstaktik in Gang gesetzt. Eine kurze öffentliche Gewalttätigkeit wird das Verfahren begleiten, um die Wirtschaft gefügig zu machen und die Widerspenstigen des Nordens zu entmutigen. Aber das sind Kleinigkeiten, wenn man bedenkt, mit welchem Geschick es die ’Ndrangheta versteht, unsichtbare Netzwerke zu schaffen und darin Unternehmer wie Lokalpolitiker einzubinden.

Auf schmerzfreie Weise in die Lokalpolitik einzudringen, das ist die Standardvorgehensweise der ’Ndrangheta an der Riviera. Von Imperia und Bordighera bis nach Ventimiglia haben die Clans aus Reggio di Calabria in aller Stille den ultimativen Schlag vorbereitet. Jener, der es ihnen ermöglichen wird, ins Herz der Stadtverwaltung vorzustoßen. Die von ihnen projektierte Spielhölle muss genehmigt werden, das vermitteln die Pellegrinos jedem, der es wissen soll. Die Stadtverwaltung tritt dem nicht geschlossen genug entgegen. Ein Stadtrat verrät dem Clan, dass es Kollegen gibt, die strikt gegen eine weitere Spielhalle sind. Auch die Bürgerschaft ist mehrheitlich gegen eine Eröffnung dieser Lasterhöhle. Ihrer Meinung nach gibt es von diesen Groschengräbern schon zu viele.

Die Anfrage des Pellegrino-Clans erzeugt Streitigkeiten. Das Nein der Abgeordneten der Minderheitspartei PD, Donatella Albano, zieht Morddrohungen nach sich. Sie wird sogar unter Polizeischutz gestellt. Einige Stadträte müssen mitansehen, wie ihre Autos in Flammen aufgehen. Marco Sferrazza gehört zur Mehrheitspartei (Mitte-Rechts), die die Stadt in der Region Imperia regiert, und ist einer der Beigeordneten der Gemeinde Bordighera. Als ihn eines Morgens ein Carabinieri-Offizier in die Polizeikaserne bittet, ist er unschlüssig. Er versteht nicht, warum er dorthin kommen soll, oder zumindest gibt er vor, es nicht zu verstehen. Der Offizier möchte, dass der Politiker über die Drohungen aussagt, die er empfangen habe. Nach einem Moment des Zögerns beginnt der Assessor, das, was ihm widerfahren ist, darzulegen. Nachdem er sich während der Ausschusssitzung ebenfalls gegen die Eröffnung der Spielhölle ausgesprochen hatte, kamen Giovanni Pellegrino und dessen Schwager Francesco Barollaro bei Sferrazza zu Hause vorbei und gaben ihm – ohne dabei auch nur eine einzige Drohungen auszusprechen – unmissverständlich zu verstehen, dass sie sein Verhalten nicht nachvollziehen könnten. Dann verabschiedeten sie sich mit einem Satz, der den Assessor erschütterte: »Aber als ihr auf unsere Stimmen angewiesen wart, da haben wir für euch gestimmt, da haben wir euch geholfen.«

Das ist ein erster wichtiger Mosaikstein für die Ermittler, die daraufhin ihre Untersuchung ausweiten. Es kommt zu weiteren Geständnissen, und immer neue Hinweise und Dokumente werden gefunden. Auch Sferrazza weist den Carabinieri-Offizier noch auf etwas anderes hin. Dass die Ergebnisse der nichtöffentlichen Sitzung des Ausschusses durchgesickert seien, dahinter würden Rocco Fonti, ebenfalls Assessor in Bordighera, sowie Franco Colacito stehen. Der Bürgermeister habe im Übrigen auch zu denjenigen gehört, die die Eröffnung der Spielhalle befürworteten. »Weil er eine Gefälligkeit schuldig war«, vermutete Sferazza.

Auch der andere Assessor, der sich gegen die Spielhölle, die von Pellegrinos Frau geleitet werden soll, ausgesprochen hat, wird zu Hause von Pellegrinos Schwager besucht. Dieses Mal will sich der Schwager angeblich nur informieren, ob die Ablehnung persönlich mit der Familie Pellegrino zu tun habe. Solche Episoden werden den Staatsanwälten auch von anderer Seite bestätigt. Parallel zum Haftbefehl gegen die Brüder Pellegrino erstellen die Carabinieri von Imperia einen Bericht, in dem sie die Beziehungen zwischen der ’Ndrangheta und der örtlichen Politikszene beschreiben. In diesem ist von »interessanten Dokumenten« die Rede, die man bei der Durchsuchung der Pellegrino-Villa gefunden habe.

Dabei gehe es auch um Stimmenkauf. Es wird eine Zahl genannt: 200.000 Euro. Eine Art indirekte Parteienfinanzierung, zugunsten eines Politikers der ligurischen Riviera. Aber damit ist der Aufregung noch nicht genug. Im Juni 2009 fordern die Strafverfolgungsbehörden den Bürgermeister auf, ein Nachtlokal, das ausschließlich von Kriminellen frequentiert wird und in dem der ligurische Ableger der ’Ndrangheta eine Art Bordell betreibt, umgehend zu schließen. Diesem Ansinnen kam der Bürgermeister allerdings erst ein Jahr später nach, genauer gesagt, erst einige Tage, nachdem die Brüder Pellegrino verhaftet worden waren.

Angeklagt wurden sie wegen Zuhälterei in einigen Nachtlokalen, darunter auch jenem, das ein Jahr zuvor bereits auf der Liste der Exekutive zu finden war. Die Carabinieri schickten ihren Bericht an den Präfekten in Imperia, der im August 2010 hierzu eine Kommission einberief. Im März 2011 wurde schließlich der Gemeinderat von Bordighera »wegen mafiöser Verstrickungen« aufgelöst. Dies führte zu Schlagzeilen in den regionalen und überregionalen Blättern. Bordighera war erst die dritte Gemeinde außerhalb Süditaliens, die diesen Weg gehen musste. Seit 1991, dem Jahr, in welchem das entsprechende Gesetz verabschiedet worden war, wurden in Italien bislang über zweihundert Gemeindeparlamente aufgelöst.

Die Kommission, die die Auflösung des Gemeinderats von Bordighera vorbereitet hatte, bezeichnete das Verhalten der Stadtverwaltung als nicht nachvollziehbar. Obwohl die Familie Pellegrino mit juristischen Mitteln gegen die Gemeinderatsbeschlüsse zur Verhinderung »wilden Bauens« vorging, hatte die Stadtverwaltung es ihrerseits nicht für nötig gehalten, den Einsatz juristischer Mittel in Betracht zu ziehen. Darüber hinaus hatte sie es unterlassen, die Umsetzung der entsprechenden Beschlüsse zu überprüfen. Dieses Verhalten führte zu einem erheblichen Bearbeitungsstau, was den geplanten Abriss der illegal errichteten Gebäude betraf.

Die Auflösung des Gemeinderates scheint allerdings keine wirklichen Auswirkungen auf die Gemeindeverwaltung gehabt zu haben. Noch heute arbeiten einige der ehemaligen Beigeordneten in verschiedenen Funktionen in der Leitung dieser Behörde mit. Sowohl die Besuche, die der Assessor Rocco Fonti von Mitgliedern der Organisierten Kriminalität Kalabriens und von den »Familien« von Bordighera erhielt, als auch jene, von denen der stellvertretende Bürgermeister Iacobucci berichtete, lassen sich als Belege für diese Haltung heranziehen. Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass der Bürgermeister zusammen mit zahlreichen Vorbestraften bei der Einweihung eines Cafés, das von der Ehefrau eines Clan-Mitgliedes geführt wurde, anwesend war.

In einem unter der sengenden Augustsonne geführten Interview erklärte Iacobucci, dass jeder, der für das Amt kandidiere, seine eigenen Heiligenbildchen unters Volk bringe. Auch an Mafiosi, schließlich seien diese ebenfalls stimmberechtigt. Weitaus schlimmer ist es allerdings, wenn mit den Mafiosi Stimmenkäufe ausgehandelt werden. Geschäfte, die bei einem Mittagessen im Restaurant oder in sonstigen öffentlichen Lokalen vereinbart werden. »In einer Kleinstadt wie Bordighera ist es leicht möglich, auf den Straßen einem Mafioso zu begegnen. Man kann es gar nicht vermeiden. Ein Zusammenleben mit ihnen darf jedoch nicht in Komplizenschaft ausarten.« Iacobucci ist ein ziemlich dreister Typ, der der Rechten ernsthaft nachtrauert. »Ich hab mit Fini schon vor Jahren gebrochen. Jetzt repräsentiere ich das, was er aufgegeben hat: Politik von rechts«, sagte er im selben Interview.

Der Bericht der Kommission belegt, dass die betreffenden Clans gewisse »Vergünstigungen« erhielten, vor allem in den Jahren 2003 bis 2007 und noch einmal verstärkt vor den Wahlen im Mai 2007, als es um die unterlassenen Kontrollen bei der Vergabe und der Durchführung öffentlicher Aufträge an jene Clans ging. »Besonders schwerwiegend erscheint die Unterlassung, nicht beim juristischen Strafregister nach dem [Anti-Mafia-]Zertifikat gefragt zu haben. Denn aus einer solchen Rücksprache hätte sich ergeben, dass die Dachgesellschaft des betreffenden Clans weder mit öffentlichen Aufträgen oder Subaufträgen hätte bedacht werden, noch dass die öffentliche Verwaltung mit ihr hätte Verträge schließen dürfen.

Der Unterschied in der Behandlung der verschiedenen Firmen erscheint noch greifbarer und bezeichnender, wenn man sie mit Ausschreibungen vergleicht, die zum Zuschlag an andere juristische Personen führten und wo es nicht zu vergleichbaren Anomalien und Unterlassungen kam. Obwohl der größte Teil der Ausschreibungsprozeduren dem vorherigen Gemeinderat oblag, existiert auch eine Verantwortlichkeit der jetzigen Verwaltung. Erst recht, wenn man sich die Kontinuität anschaut, wie sie der Bürgermeister und Teile der vorherigen Verwaltungsorgane repräsentieren, die in der neuen Verwaltung mitarbeiten.«

Aussagen von Gewicht, die das Parteienspektrum Mitte-Rechts an der ligurischen Küste durcheinanderwirbelten. Das Ende des Berichts des Innenministeriums fällt noch negativer aus und ist symptomatisch für die polizeiüberwachte Freiheit, in die bestimmte ökonomische Sektoren angesichts des Vormarschs der Mafia-Organisationen gezwungen werden. »Nimmt man alle erwähnten Teile zusammen, so scheinen sie geeignet, bestimmte Formen der Beeinflussung des Entscheidungsprozesses der Verwaltungsorgane zu begünstigen, die vom Funktionieren und der Unparteilichkeit der Gemeindeverwaltung abhängen und bei öffentlichen Ausschreibungen zu Abweichungen führen.«

Am 3. Februar 2012 wurde auch der Gemeinderat von Ventimiglia aufgelöst. Nach dem von Bordighera war dies nunmehr der zweite Gemeinderat an der ligurischen Küste, dem man mafiöse Beeinflussung nachweisen konnte. Im Bericht der Carabinieri von Imperia fanden sich die typischen Merkmale wie nicht angezeigte Bedrohungen, Stimmenkauf und heimliche Absprachen. Im Bericht wird auch auf die letzten Regionalwahlen in Ligurien eingegangen, bei denen Fortunata Moio kandidierte, die Tochter von Vincenzo Moio, dem ehemaligen stellvertretenden Bürgermeister von Ventimiglia.

Sie hatte sich auf der Liste »Bertone-Vereinigung der Pensionäre« aufstellen lassen. Die Staatsanwälte warfen ihr vor, dass Moio ein Paket gekaufter Stimmen von Domenico Belcastro erhalten habe. »Wir stützen uns auf einen … Ihr wisst, wer es ist … Der, der immer nach Siderno fährt … Er kennt euch … Erinnert ihr euch an Moio? Das ist ein Freund, der sich einsetzt … Jetzt kandidiert die Tochter … Wir unterstützen sie, wir kümmern uns drum, obwohl Mimmo Gangemi dagegen ist … Mit dem gab’s ’ne ziemliche Diskussion (…).« So wird Belcastro in den Aufzeichnungen des Spezialkommandos der Polizei zitiert. Anhand seiner Aussagen lässt sich belegen, welche Aufmerksamkeit die ’Ndrangheta damals schon der Lokalpolitik widmete, auch in Ligurien.

Es kam in der Folge zum Streit zwischen den beiden Exponenten der ligurischen ’Ndrangheta, weil jeder von ihnen einen anderen Kandidaten unterstützen wollte. Gangemi sprach sich für Monteleone aus, den ehemaligen Finanzberater, der in Beratungen mit den Paten attraktive Versprechungen gemacht hatte. Belcastro hingegen favorisierte Fortunata Moio. Mit ihrer Hilfe wollte er der ’Ndrangheta Sitz und Stimme im Gemeinderat verschaffen. Fortunatas Vater soll den Ausführungen Belcantos zufolge ohnehin Mitglied der Mafia sein. Im Juni 2011 beantragten die Staatsanwälte einen Haftbefehl für ihn, was der zuständige Untersuchungsrichter jedoch ablehnte. Moio trat 2009 vom Posten des stellvertretenden Bürgermeisters aufgrund von Divergenzen mit Bürgermeister Scullino zurück, der seinerseits sein Amt im Juni 2011 niederlegte. Bereits nach der Operation »Crimine« war der Ruf nach einer Auflösung des Gemeinderats von Ventimiglia wegen mafiöser Unterwanderung immer lauter geworden. Die zusammengestellten Aussagen von Kronzeugen, Dokumente und Fotos waren an Eindeutigkeit kaum mehr zu überbieten und brachten die Lokalpolitik in ziemliche Verlegenheit. Die Einsetzung einer vorbereitenden Kommission und die Ersetzung des Bürgermeisters durch den Staatskommissar standen schon 2010 unmittelbar bevor. 2012 findet die nächste Wahl statt, und Moio hat ihren Wahlkampf schon begonnen, zusammen mit einem anderen Assessor, der vom zurückgetretenen Bürgermeister entlassen worden war.

Am Ende landete Fortunata Moio nur auf den hinteren Plätzen bei den Wahlergebnissen. Die Stimmen der Bosse waren anderen zugute gekommen. Wem genau, ist bislang nicht geklärt. Aus den Unterlagen der Polizei werden die Namen Alessio Saso, Abgeordneter der PdL in der Region Ligurien, sowie Aldo Praticò, Stadtrat in Genua, erwähnt. Beide gehörten während der von der Anti-Mafia-Behörde in Genua initiierten Operation »Maglio 3« zum Kreis der Verdächtigen. Die Paten sprachen von ihnen in einigen abgehörten Unterhaltungen, und das Sondereinsatzkommando dokumentierte eine Reihe freundschaftlicher Begegnungen. Praticò beklagte auf einer Pressekonferenz ein angebliches Medienkomplott gegen ihn und gab dann Kostproben seiner politischen Philosophie zum Besten: »Wenn ich Wahlkampf mache und Postkarten mit meinem Bild verteile, spreche ich mit allen Gruppen unserer Einwohnerschaft und frage niemanden nach seinem Vorstrafenregister. Vielleicht gibt es sogar ein ’Ndrangheta-Problem in Ligurien, aber das ist für mich keine Frage hoher Priorität.« Keiner in seiner Partei wagte es, etwas anderes zu behaupten. Zumal Praticò ebenfalls aus Kalabrien stammte. »Sie haben keine Mehrheit, aber wenn wir ihnen eines Tages diese Mehrheit verschaffen, könnte es sein, dass er sich als guter Landsmann herausstellt … Wenigstens können wir notfalls zu ihm gehen, um ihm die Ohren langzuziehen und ihm richtig in den Arsch zu treten.«

Ein Kandidat wie Praticò, darin stimmen die beiden Paten Calabrese und Gangemi überein, ist gut für ihre Organisation. »Immerhin besser als einer der anderen Scheißkläffer. Geben wir ihm also unsere Stimmen, wie denkt ihr darüber?« Kandidaten, die mit Hunden verglichen werden. Eine Beleidigung jener Personen, die den Bossen gegenüber keine Treue mehr leisten. »Lardo muss dazu gebracht werden, sich umzubringen.« Mit »Lardo« (dt.: Speck) meinen die beiden Mafiosi, wie die Ermittler glauben, den Präsidenten des Regionalrats von Ligurien, Rosario Monteleone. Monteleone machte sich als Finanzier einen Namen, mittlerweile ist er UdC-Abgeordneter. Wie aus der Unterhaltung der beiden Mafiosi hervorgeht, hatte Monteleone ihnen Gefälligkeiten versprochen, aber nach seiner Wahl davon nichts mehr wissen wollen. Einen solchen Bruch von Vereinbarungen mit den Mafiosi nennen diese »Nachlässigkeit«, nach den ehernen Regeln der ’Ndrangheta ist das eines der schwersten Verbrechen.

Ein Kandidat nach dem Geschmack der Paten war jedoch Aldo Praticò. »Auf diesen Aldo, der als Freund nach Reggio gekommen ist, haben wir ein Auge«, erklärt Gangemi Moio und wies sie darauf hin, dass es sogar entsprechende Anweisungen aus Reggio di Calabria gab, Praticòs Kandidatur zu unterstützen. Im betreffenden Untersuchungsbericht ist von »Interventionen von Personen aus Reggio di Calabria« die Rede, die »eine bedeutsame Rolle im kriminellen Geflecht der Mafia spielen«.

Dieser Pakt zwischen Mafia und Praticò wurde von verschiedenen Seiten unterstützt. Die Tochter von Moio spielte in diesen Plänen keine Rolle mehr. »Wichtig ist, dass sie auf dem Wahlzettel statt dem Parteinamen ›Volk der Freiheit‹ den Namen Praticò schreiben und den dann ankreuzen. Punkt.« So erklärte der Stadtrat Mimmo Gangemi, wie er seine Gefolgsleute vor der Wahl instruieren solle. »Und im Übrigen müssen sie auf jedem Stimmzettel mehrere Kreuze machen, weil die Vorsitzenden der Kommunisten die Auszählung überwachen werden. Dann fällt es nicht so auf.« Der Boss fasste den Plan noch mal zusammen: »Also sage ich ihnen, dass sie Popolo della Libertà durchstreichen und Praticò ankreuzen sollen.« Daraufhin wird er vom Kandidaten gelobt: »Bravissimo. So schaffen wir es zusammen in den Stadtrat.«

Doch der Plan ging nicht auf. Praticò erhielt keine ausreichende Stimmenzahl, um ins Regionalparlament gewählt zu werden. Irgendetwas war schiefgelaufen. Der Untersuchungsrichter stellte fest, dass bei einer Untersuchung von 2 228 ungültigen Stimmzetteln fünfhundert denselben »Fehler« aufwiesen. Neben den Namen des Kandidaten für das Regionalpräsidentenamt hatten diese »Wähler« den Namen Praticò geschrieben (statt darunter auf den freien Platz am Ende der Liste).

Greifbar wird die Nähe der beiden Gruppierungen – Politik und Mafia – auf Fotos von der Festa Mediterranea. Ein Event, das von den Städten Genua und Reggio di Calabria veranstaltet wird. Auf einem dieser Fotos ist der Stadtrat Praticò direkt neben dem Paten Domenico Gangemi zu sehen. Die ersten belegbaren Kontakte zwischen Gangemi und dem Stadtrat sollen während der Organisationsphase der Veranstaltung zustande gekommen sein. »Ich habe Domenico Gangemi viermal gesehen, als ich Obst und Gemüse in seinem Laden kaufte. Ich hab zweimal mit ihm Kaffee getrunken, um das Fest der Kalabresen vorzubereiten«, rechtfertigt sich Praticò nach der Operation »Crimine«, aus der diese Erkenntnisse hervorgingen. Und obwohl er im Rahmen der Genueser Anti-Mafia-Operation zum Kreis der Verdächtigen gehörte, ließ er sich nicht entmutigen. »Mir geht es gut, aber moralisch bin ich am Boden zerstört. Sie wollen mich hier weghaben. Ich habe die Staatsanwälte gebeten, mich sofort zu vernehmen, um die Sache ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Schließlich will ich bei der Wahl 2012 wieder antreten.«

Dagegen erklärte Stadtrat Saso, weder irgendwelche Stimmengeschenke erhalten zu haben, noch jemals darum gebeten zu haben. Er fügte hinzu, dass er nach ihrem zweiten Treffen von sich aus den Kontakt mit Gangemi abgebrochen habe. Ihn habe dessen Persönlichkeit abgestoßen, gab er an. Den Ermittlern zufolge, die sich für Saso, Praticò und Moio interessieren, spielte sich das Ganze aber ein wenig anders ab. Zwischen den beiden habe eine »prästabilierte Harmonie« geherrscht. Gangemi beauftragte im Vorfeld Michele Ciricosta von der Mafia-Zelle Ventimiglia damit, dem Kandidaten »behilflich« zu sein. »Ich hab zu Michele gesagt: ›Wenn ihr dazu meine Hilfe braucht, sagt es mir, sonst bin ich beleidigt, ich möchte es wissen.‹ Also hat er zu mir gesagt: ›Mimmo, ich denke genau wie du, dass er ein Freund ist, ein braver Junge, ich kümmer mich schon drum.‹« So versuchte der Boss den Kandidaten zu beruhigen, der ihn in seinem Obst- und Gemüsehandel besuchte. Und er fügt noch hinzu: »Alessio, das was ich tun kann, werde ich für dich tun.« – »Das sehe ich doch, du tust sehr viel für mich«, zeigt sich Saso befriedigt. Der Boss erwiderte: »Zum Glück sind wir hier in Genua, hier ist es ein bisschen anders, weißt du … Hier kann ich mich freier bewegen als in Kalabrien, verstehst du?« – »Klar, versteh ich das.« – »Hier hab ich alles im Griff. Ich hab da auch ein paar Landsleute, Verwandtschaft, irgendwas werde ich schon auf die Beine stellen … Wir müssen es schaffen«, unterstreicht der Boss seinen Einfluss hier wie dort.

Während des Gesprächs kommen sie auch noch auf einen anderen Kandidaten zu sprechen, der von einem gewissen Nunzio Rindo unterstützt wird. Rindo ist gebürtig aus Seminara in Kalabrien, wohnt in Ventimiglia und ist wegen mafiöser Umtriebe vorbestraft. Die Bestätigung hierfür erbringt die Durchsuchung der Villa eines anderen Paten. Die Ermittler fanden Visitenkarten und Telefonnummern von Alessio Saso, aber auch vom zurückgetretenen Bürgermeister von Ventimiglia, Scullino. Des Weiteren fanden sie eine Nachricht von Saso, bestimmt für den Paten, mit der Hand geschrieben: »Vielen Dank für alles, es hat wunderbar geklappt.«

Die Ermittler versuchen sich auch noch über einen anderen Sachverhalt Klarheit zu verschaffen. Es geht um ein geheimes Treffen zwischen Giuseppe Marcianò von der Mafia-Zelle Ventimiglia, einem Verwandten von Gangemi, und Saso. Eine Begegnung, die »bestimmte Interpretationen über den Inhalt der Gespräche zwischen dem Stadtrat und der kalabrischen Seite zuließ«. Offenbar nach dem Motto: »Gebe, so wird dir gegeben«, wie die alten Römer sagten. Jedenfalls legt das der noch im Gang befindliche Rechtsstreit zwischen dem Finanzamt und einigen Firmen Gangemis nahe, bei dem herauskam, dass Saso ihm zugesagt habe – wie es dann auch kam –, dass er die drohende Geldstrafe für den Boss verhindern werde. Wie die Spitze eines Eisbergs wird so ansatzweise das ganze Ausmaß der Korruption in Ligurien sichtbar.

»Nein, nicht in der Öffentlichkeit«, sagt Saso, der genau weiß, wer die beiden Männer sind, die ihm anbieten, ihn bei seiner Kandidatur zu unterstützen. Er will sie an einem unauffälligeren Ort treffen. Sie heißen Vincenzo La Rosa und Massimo Gangemi. Letzterer ist der Neffe des Paten von Genua, Domenico Gangemi. Ein paar Tage später trifft er die beiden im Wahllokal von Arma di Taggia, in der Umgebung von Imperia. Das Angebot ist verlockend. Die Mafiosi stellen ihm tausend Stimmen in Aussicht. »Ergebnis einer vorher erprobten Technik«, wie La Rosa formulierte. »Der hatte bereits einen Teil seiner Ziele erreicht, weil sein Kandidat Eugenio Minasso ausreichend Stimmen erhalten hatte, um ins Nationalparlament einzuziehen.« Minasso, im regionalen Parteivorsitz der PdL, wurde während der Feiern zum Abschluss des Wahlkampfes zusammen mit den Mafiosi Michele Pellegrino und Giovanni Ingrasciotta fotografiert (Micheles Brüder wurden im August 2010 zusammen mit einigen anderen Clan-Mitgliedern der Mafia-Zelle Ventimiglia verhaftet). Ingrasciotta ist ein Unternehmer und gab zu, Matteo Messina Denaro persönlich zu kennen. Minasso räumte seinerseits ein, Hilfe – allerdings nicht finanzieller Art – von Pellegrino erhalten zu haben. Er stritt rundheraus ab, jener Politiker zu sein, der den gefundenen Unterlagen zufolge von Pellegrino 200.000 Euro bekam.

Saso, dem Verwandten von Gangemi und La Rosa, hätten diese versprochen, dass er sich »breiter Unterstützung« sicher sein könne. Im Gegensatz zur »einfachen« Unterstützung, wie La Rosa betonte, die lediglich darin bestünde, Stimmen in der Wahlkreis-Gemeinde zu beschaffen. Saso wurde dann auch tatsächlich gewählt, mit der zweitbesten Stimmenzahl, und mit 1300 Stimmen Vorsprung vor den restlichen, nicht gewählten Kandidaten. Das belegt den Ermittlern zufolge »theoretisch den Einsatz von rund tausend gekauften Stimmen« seitens der ’Ndrangheta Liguriens.

Das von den Clan-Mitgliedern geknüpfte Netz umfasst noch mehr Politiker. Gegen sie wurde im Gegensatz zu Saso, Praticò und Moio nicht ermittelt. Aber die Leichtigkeit, mit der Politik und Mafia miteinander in Kontakt treten, ist beunruhigend. Die Bosse der ’Ndrangheta in Ligurien sind im wahrsten Sinne des Wortes gefragte Leute. Viele Politiker sind daran interessiert, von ihnen politische Unterstützung zu erhalten. Manche zogen aus solch einer Unterstützung Nutzen, andere nicht. Wieder andere sind über soziale Kontakte mit den Mafia-Bossen verbandelt. So wie Pietro Marano, ein Kandidat der UdC bei den Regionalwahlen, gegen den bisher ebenfalls nicht ermittelt wurde. Er war einige Zeit Mitgesellschafter einer Firma des Paten Onofrio Garcea. Aber bevor der Mafia-Boss verhaftet wurde, verließ Marano die Finanzholding. Für die Ermittler steht fest, dass Garcea einen Teil seiner Einnahmen aus Zinswucher generierte.

Die Beziehung zwischen Garcea und Marano bestand bis kurz vor den Wahlen. »Er organisierte wichtige Unterstützung für den Wahlkampf von Pietro Marano.« Garcea bot ihm sogar vierzig garantierte Stimmen seines Clans an. Aber dann hatte Gangemi für die Mafia eine neue Direktive erlassen und Garcea zog sein Angebot wieder zurück. »Stimmt für Praticò!«, galt nun für die Mafia-Zelle aus Genua, »Stimmt für Saso!«, für die Zelle aus Imperia.

Mafia-Boss Garcea interessierte sich auch für die Kandidatur von Cinzia Damonte, der Beigeordneten für Städtebau der Gemeinde Arenzano bei Genua. Sie trat für die sozialliberale Partei Italia dei Valori (dt.: Italien der Werte) bei den Regionalwahlen 2010 an. Ein Foto zeigt sie, wie an einem Essen der kalabrischen Gemeinde teilnimmt und dabei neben Boss Garcea sitzt. Mit ihm zusammen verteilte sie auch Wahlflugblätter. Ob es darüber hinaus weitere Kontakte zwischen beiden gab, müsste noch untersucht werden.

Zu Beginn der sechziger Jahre wurde der Mafia-Boss von Gioiosa Ionica (Kalabrien), Francesco Mazzaferro, ins oberitalienische Val di Susa (an der Grenze zu Frankreich) in die Verbannung geschickt. Aus dem Nichts baute er in kürzester Zeit eine Firma für Erdarbeiten und Autotransporte auf und eroberte innerhalb weniger Jahre das Monopol auf beiden Gebieten für die gesamte Region. Zugleich verbreitete sich das Gerücht, dass Mazzaferro an einer Geldwäscheaffäre mit Mafia-Geldern beteiligt sei.

Das Baugeschäft war nur der offizielle Teil der Aktivitäten Mazzaferros. 1984 wurde er erstmals festgenommen. Die Anklage warf ihm Heroin- und Kokainhandel vor, den er entlang der Bahnlinie Turin-Modane aufgezogen habe. Die Untersuchung erstreckte sich auch auf die Manipulation öffentlicher Ausschreibungen im oberen Susa-Tal. 1987 verurteilte das Schwurgericht Mazzaferro zu 18 Jahren Haft. Als er 1993 in Bardonecchia erneut verhaftet wurde, wiederum wegen Drogenhandel, verschwand er für lange Zeit hinter Gittern.

Im Schatten Mazzaferros hatte in der Zwischenzeit ein anderer Mafioso mit dem Namen Rocco Lopresti Karriere gemacht. Auch er stammt aus Gioiosa Ionica und trat das Erbe von Mazzaferro innerhalb der Mafia-Zelle von Bardonecchia (Susa-Tal) an. Dem Kronzeugen Francesco Fonti zufolge war die Mafia-Zelle von Bardonecchia ein Ableger der ’Ndrangheta und existierte seit den siebziger Jahren. Eine neue Mafia-Zelle zu schaffen ist keine Kleinigkeit. Denn dazu braucht man nicht weniger als 48 Gefolgsleute. Darüber hinaus benötigt man noch die entsprechenden Kader für die verschiedenen ’Ndrangheta-Hierarchie-Stufen, von den einfachen Schlägern und Fußsoldaten zu den Sgarri di Sangue (dt.: Bestrafer), von den Santisti (dt.: Heilige) bis zum Vangelo (dt.: Evangelium) an der Spitze. Jedes einzelne Mitglied wird von der obersten Instanz, der Mamma, dem obersten Boss der Clans der Hochburg San Luca, geprüft.

Die Mafia-Zelle von Bardonecchia, so berichtete Fonti weiter, sei zusammen mit der in Turin entstanden. Lokaler Boss sei Francesco Mazzaferro gewesen. 1992 begann dessen Abstieg, gleichzeitig kam aus Kalabrien Lopresti ins Susa-Tal, der sofort in großem Umfang Kontakte zu Institutionen knüpfte, so etwa zum Befehlshaber der Carabinieri in Bardonecchia, Leonardo Fontana, dem damaligen Bürgermeister Gibelli und anderen wichtigen Figuren der Gemeindeverwaltung. Dank dieser Bekanntschaften gelang es Lopresti, die meisten Ausschreibungen dieses Gebiets zu gewinnen und auf diese Weise die Subaufträge und die Handlangerarbeiten exklusiv an Firmen oder Personen aus Kalabrien zu verteilen. Die Ermittler fanden in der Lopresti-Villa verräterische Dokumente. Darunter zahlreiche Kostenvoranschläge anderer Firmen für bestimmte Aufträge. Kostenvoranschläge, die er eigentlich nie hätte zu Gesicht bekommen dürfen.

Den größten Skandal lösten die Erweiterungsbauten am traditionsreichen Berghotel Campo Smith aus, das dafür bekannt ist, dass hier 1939 der erste Skilift in den Piemonteser Alpen errichtet wurde. Der Auftrag für den neuen Hotelkomplex nach öffentlicher Ausschreibung an eine Kapitalgesellschaft mit einem Stammkapital von zwanzig Millionen Lire (10.000 Euro). Sie hieß La Marina di Alessandro (dt.: Der Hafen von Alexander) und gehörte einem gewissen Bruno Aguì. Auch die Überlassung des Baugeländes von der Gemeinde an Aguì war mit Merkwürdigkeiten verbunden und zog die Aufmerksamkeit der Ermittler auf sich. Aus der Grundstücksüberlassung ging hervor, dass die Gemeinde Aguì ein sehr wertvolles Geschenk gemacht hatte. Ein Gutachten, das den Wert des Baulandes mit 3,6 Milliarden Lire (1,8 Millionen Euro) bewertete, wurde von Bürgermeister Gibello angefochten. Die Untersuchungen brachten zum Vorschein, dass beim gesamten Auswahlverfahren gegen zahlreiche Vorschriften verstoßen worden war. Unter anderem gegen die Bestimmungen des Naturschutzes und des Städtebaus. Hinzu kam, dass die entsprechenden Entscheidungen der Gemeinde hinter verschlossenen Türen ausgekungelt worden waren.

Am 30. September 1994 nahm die OK-Abteilung der Finanzpolizei Bürgermeister Gibello, Aguì und andere Beteiligte fest. Gibello wurde beschuldigt, sein Amt missbraucht zu haben. Am 28. April 1995 löste der Ministerrat auf Vorschlag der Präfektur den Stadtrat von Bardonecchia auf. Es war der erste Fall dieser Art in Norditalien. In der Folge fanden sich weitere Unternehmen, deren stiller Teilhaber Lopresti war. Bald darauf begann der Prozess. Verurteilt wurden der Bürgermeister und der Staatskommissar für die Skiweltmeisterschaften 1997 von Sestriere. Der geheimnisvolle Unternehmer Aguì kam mit einer Geldstrafe davon.

Das Urteil ordnete den Abriss jenes Teils des Hotelkomplexes an, der auf einer öffentlichen Grünfläche errichtet worden war. In zweiter Instanz wurde das Urteil wieder aufgehoben, hatte aber zumindest insoweit Folgen, als der Bürgermeister nicht wiedergewählt wurde. Das zweite Verfahren gegen Lopresti und andere, in welchem versucht wurde, die Errichtung einer Mafia-Zelle in Bardonecchia nachzuweisen, fand im Jahr 2000 statt, jenem Jahr, in dem es auch zu seiner Verurteilung kam. Das Urteil befand: »Vielfältig sind die Gründe, die uns dazu bringen, davon auszugehen, dass es seit den siebziger Jahren eine etablierte Organisation der kalabrischen Mafia auf dem Gebiet von Bardonecchia gibt, welche zunächst dem Befehl von Francesco Mazzaferro, und später dem von Rocco Lopresti unterstand. Zudem konnte festgestellt werden, dass es eine belegbare Einmischung der Beteiligten an politischen Entscheidungsprozessen und Wahlen gab. Und dass dies im Zusammenhang mit Personen geschah, die in der Gunst der Mafia-Zelle standen. Dazu gehörte der Einsatz von gekauften Wählerstimmen bei den Gemeinderatswahlen 1994.«

Die Erinnerung an den ersten Gemeinderat, der wegen mafiöser Unterwanderung aufgelöst worden war, ist in einem Land, das sich phasenweise gleichgültig oder blind zeigt gegenüber den tatsächlichen Funktionsstörungen seiner Organisationsform, nahezu in Vergessenheit geraten. In einem Land, das über ein so kurzes Gedächtnis verfügt, ist der Fall Bardonecchia in den Tiefenschichten des kollektiven Erinnerns abgelegt worden. Nur um 15 Jahre später wieder machtvoll an die Oberfläche zu kommen. Im Juni 2011 geriet der piemontesische »Minotaurus« in die Schlagzeilen. Halb Mensch, halb Tier. Die ’Ndrangheta im Schatten der Alpen ist ein echter Minotaurus. Das trug der Operation, die zur Festnahme von 150 Mafiosi und »externen Mitläufern« führte, ihren Namen ein. Eine Untersuchung, die die Erinnerung an die Operation »Crimine« aus dem Jahr 2010 hervorruft.

Rund um den »Minotaurus« konnte ein engmaschiges Netzwerk an Komplizen festgestellt werden. Die ’Ndrangheta hatte es verstanden, dieses Beziehungsgeflecht rund um Turin in über dreißig Jahren aufzuziehen. Sie hat sich das Territorium einverleibt, sie hat Politiker und Unternehmer bestochen, und wenn nötig, hat sie auch Schusswaffen eingesetzt. Etwa 1983, als der Richter Bruno Caccia vom Belfiore-Clan ermordet wurde.

Im Schatten der Stadtmauer hat sich in Turin seit den achtziger und neunziger Jahren nicht viel verändert. Die ’Ndrangheta hat ihre Wühlarbeit in Sachen Politik fortgesetzt und dabei teilweise auch schon höhere Schichten dieser Kaste erreicht, wie das Beispiel von Claudia Porchietto zeigt. Während der Operation »Minotauro« tauchte der Name der Regionalrätin für Arbeit und Ausbildung sowie der Ex-Präsidentin der API Piemonte, der Vereinigung der kleineren und mittleren Unternehmen, mehrfach auf. Obwohl gegen sie nicht ermittelt wurde, kamen ihre häufigen Treffen mit Mafiosi den Beamten verdächtig vor. So besuchte sie beispielsweise das Café Italia, welches Giuseppe Catalano gehört. Der Boss des Mafia-Ablegers aus dem kalabrischen Siderno in Turin, dem die Stadt und ihr Hinterland unterstand, ist mit höheren Machtbefugnissen als ein einfacher Zellen-Boss ausgestattet, notierten die Ermittler ihren Berichten.

Am 23. Mai 2009 steigt Porchietto gegen zwei Uhr mittags aus einem vor der Bar geparkten Fiat Brava aus. Sie befindet sich in Begleitung von Luca Catalano, dem Neffen des Paten. Porchietto ist damals Kandidatin für die Regionalpräsidentschaft auf der Liste der PdL. Die beiden kennen einander schon länger. Der Neffe des Paten wurde während der Kommunalwahlen 2008 in Orbassano – ebenfalls auf der Liste der PdL – zum Stadtrat gewählt. Und gemeinsam mit dem zeitweiligen Bürgermeister Eugenio Gambetta (PdL) war er Teil des Wahlkomitees. Zu diesem Zeitpunkt bemüht sich Porchietto um die Regionalpräsidentschaft, aber sie verliert die Wahl. Bei den Regionalwahlen 2010 gelingt ihr schließlich die Rückkehr in die Politikarena. Sie erhält mit 11 850 die meisten Stimmen.

»Hübsche Frauen lassen einen immer warten«, sagt Don Peppe. »Sie haben doch gesehen, wie lange wir einen Parkplatz suchen mussten«, entschuldigt sich Porchietto. Nach diesen Förmlichkeiten betreten sie zusammen das Café. Die künftige Beigeordnete bleibt nur wenige Minuten. Dann geht sie wieder zum Auto zurück, begleitet von ihrem Chauffeur Luca Catalano. Eine halbe Stunde später telefoniert der Pate mit seinem Neffen. Er möchte sich ein weiteres Mal mit der Kandidatin treffen. »Ihr Terminkalender ist ziemlich voll«, warnt der Neffe und fügt hinzu: »Sie hat gleich einen Termin mit [Lega-Nord-Chef] Bossi in Turin.« Aber das beeindruckt den Paten nicht weiter. »Es läge im Interesse der Dame, einem erneuten Treffen zuzustimmen.« Immerhin könne er zu so einem Treffen mehr als vierzig einflussreiche Personen zusammenbringen.

Es handle sich bei Porchietto nicht um mangelnden Respekt, betont der Neffe, sondern um eine wirkliche Überlastung. »Heute morgen waren wir beispielsweise in Nichelino [bei Turin].« Überflüssiges Wahlkampfgedöns, befindet der Pate. »In Nichelino kennt doch Franco [d’Onofrio] alle wichtigen Leute.« Und tatsächlich nimmt d’Onofrio, der »die Gebiete von Moncalieri, Vinovo, Nichelino sowie den Ort, wo sich sein Reha-Heim befindet, kontrolliert«, an einer der Wahlkampfkundgebungen statt. D’Onofrio wird ein Jahr nach der Kundgebung während der Operation »Infinito« verhaftet. Er ist Teil der Mafia-Regionalkoordination Crimine von Turin und von deren »Kontrollbehörde«. Den Ermittlern zufolge ist er eine Führungsfigur innerhalb der ’Ndrangheta des Piemonts. Ausgestattet mit Machtbefugnissen eines Paten steht er auf gleicher Stufe mit Catalano. Er entscheidet mit über Strategien und kann Befehle erteilen, sogar noch aus dem Gefängnis heraus, wo er seit einer zweiten Verurteilung einsitzt.

Franco der Pate ist ein Unternehmer, der sich sowohl in der Illegalität als auch in der Legalität mühelos zurechtfindet. Der Schwerpunkt seiner Aktivitäten liegt im Gesundheitswesen. Bis zu seiner Verhaftung war er Hauptgeschäftsführer der Ariete GmbH. Der Sitz der Gesellschaft befindet sich in Turin, in der Via Colli. Die Liste ihrer geschäftlichen Aktivitäten ist beeindruckend lang. Sie reichen vom Lederhandel über das Speditionswesen bis hin zur Verwaltung von Altenheimen und »Pflegeeinrichtungen für ältere Menschen oder für Menschen mit eingeschränkten psychisch-physisch-sozialen Fähigkeiten«. Die Gesellschaft wird mittlerweile von Francos Sohn Andrea d’Onofrio, Jahrgang 1981, geführt, der auch das Altenheim »Madonna delle Grazie« in Cintano bei Turin verwaltet. Eine Einrichtung, die bis 2011 mit Zustimmung der Turiner Gesundheitsbehörde betrieben wurde. Ein nicht unwichtiger Aspekt, wenn man bedenkt, dass vor dem Treffen mit Porchietto Luca Catalano seinen Onkel darum bat, auch Franco d’Onofrio einzuladen, der dann, falls er käme, Porchietto »wegen der Sache« fragen könne. Um was es ging, ist bis heute ungeklärt. Aber wie Staatsanwalt Caselli während einer Pressekonferenz bekannt gab, werden die entsprechenden Ermittlungen fortgesetzt und könnten die Polit-Szene von Piemont nachhaltig erschüttern.

Auch die weiteren Ermittlungen im Gesundheitsbereich Piemonts zogen umfassende Konsequenzen nach sich. Zum Kreis der Verdächtigen zählte damals die ehemalige Regionalrätin für das Gesundheitswesen, Caterina Ferrero. Sie stand im Zentrum von zwei getrennten Ermittlungen, die sich aber von Tag zu Tag näher aufeinanderzubewegten. Den ermittelnden Staatsanwälten zufolge soll sich Ferrero »im Tausch gegen Wahlkampfunterstützung zu Gefälligkeiten bereit erklärt haben«. Gerichtsfeste Beweise für Kontakte zwischen der ’Ndrangheta und Ferrero gibt es bislang nicht.

Ferrero, »Miss Beliebtheit« der vergangenen Regionalwahlen, ist die Schwiegertochter von Nevio Coral. Bei dem ehemaligen Bürgermeister von Leini (bei Turin) handelt es sich um einen erfolgreichen Unternehmer, gegen den wegen »externer Mitwirkung bei einer mafiösen Vereinigung« während der Operation gegen die ’Ndrangheta-Clans im Piemont ermittelt worden war. Coral hat die Wahlkampagne der Schwiegertochter persönlich unterstützt. Aber nicht nur durch ihn geriet Ferrero in den Ruch der Nähe zur ’Ndrangheta. Dazu trug auch Piero Gambarino bei, seine rechte Hand, der den Ermittlern zufolge Kontakte zu Achille Berardi und Valerio Ieardi unterhalten soll. Beide waren Teilhaber der Sport nel Canavese, von der auch Gambarino einen großen Teil kontrollierte. Und es gab noch weitere interessante Teilhaberverbindungen. Das Restaurant des Sportkomplexes, das sich im Besitz der Sport nel Canavese befand, wurde an die Lancia Ristorazione verpachtet, die ebenfalls von Gambarino kontrolliert und von einer jungen Rumänin als Strohfrau geleitet wurde. Sie fungierte zudem als Mitgesellschafterin des Vorbestraften Renato Spanò in der Sigma Costruzioni. Spanò, gegen den nicht ermittelt wurde, ist ein guter Freund von Nino Occhiuto, dem Boss der sogenannten Bastarda in Piemont, einem autonomen und nicht vom Crimine autorisierten Ableger der ’Ndrangheta. Zugunsten der Bastarda versuchte Spanò auch, einen Unternehmer davon zu überzeugen, die erlittene Erpressung nicht anzuzeigen, wie aus dem entsprechenden Haftbefehl hervorgeht.

Caterina Ferrero hatte schon seit einiger Zeit das Interesse der Clans auf sich gezogen. »In den nächsten zehn Tagen werden sie entscheiden, ob sie ihre Kandidatur – und wenn ja, wie – unterstützen. Danach müssen wir uns mal treffen, um Klartext zu reden«, sagte Vittorio Bartesaghi zu Adolfo Crea, einer führenden Gestalt im ’Ndrangheta-Koordinierungskomitee von Turin. Sie unterhielten sich über Ferrero, damals Regionalrätin für öffentliche Arbeiten und Kandidatin für die Provinzregierung, und währenddessen diskutierten Crea und der »Architekt seines Vertrauens«, Batesaghi, eine mögliche Beeinflussung »der Ausschreibung für die Arbeiten an öffentlichen Gebäuden. Bestimmte Politiker sollten sie dabei unterstützen, ihren Angaben nach zählte zu diesen auch Caterina Ferrero.«

Aber Nevio Coral ist mit Abstand der umtriebigste Mafioso der ’Ndrangheta. »Können wir uns demnächst mal treffen? Mein Sohn Ivano ist der Bürgermeister von Leini. Er kandidiert gerade für die Regionalwahlen.« Die Bitte des ehemaligen Bürgermeisters von Leini richtet sich an Vincenzo Argirò, Mitglied des Crimine von Turin im Rang eines Quartino. »Hab ich mir notiert, Herr Doktor, ich melde mich bei Ihnen«, antwortet der Pate, der bereits über alles informiert ist. Das Abendessen hatte fast drei Stunden gedauert. Daran teilgenommen hatte auch Nevio Coral, der über seine Zeit als Bürgermeister schwadronierte. Die, die er Unternehmer nennt, belehrt er darüber, dass sich mit den zustande gekommenen Kontakten viele neue Arbeitsperspektiven eröffnen würden.

Vincenzo Argirò ist ein bodenständiger Typ, angesichts der Versprechungen künftiger Großprojekte antwortet er: »Wenn ich statt eines Nudeltellers nur ein belegtes Brot zu essen bekomme, wäre das auch okay.« Damit will er zu verstehen geben, dass man den Clans keine märchenhaften Versprechungen machen soll. Sie bevorzugen geringere, aber realistische Zusagen, nicht irgendwelche Wolkenkuckucksheime. »Wo ich herkomme, da wissen sie, dass wir mit euch zusammensitzen. Wenn alles klappt, werden wir wieder feiern können, so wie in der Vergangenheit, wenn ihr euch noch daran erinnert.« Argirò macht deutlich, dass er die Politik von Nevio Coral schätzt. »Einen sollten wir in die Stadtverwaltung schicken, einen weiteren in den Stadtrat, und einen ins Tourismusbüro, dann kommen wir vielleicht endlich da hin, dass wir überall unsere Leute haben, dass wir eine starke Gruppe werden.«

Das, was Coral den Mafiosi während des Abendessens vorgeschlagen hatte, war eine Art gemeinsames Führungskomitee. Diesem Treffen folgte noch ein anderes mit beiden Corals, Vater und Sohn, bei dem man konkretere Vorhaben diskutierte. »Wir müssen so etwas plakatieren wie ›Wählt Coral – für eine sichere Zukunft‹«, erklären sie der Tochter von Argirò und fügen hinzu: »Francesca hat uns 24.000 Euro gegeben. 12.000 hab ich mit dabei. Wir müssen die Sache über Rechnungen angehen.« Den Ermittlern zufolge ist die Summe, die Coral der ’Ndrangheta versprach, eine verkappte Finanzierungshilfe über Scheinrechnungen. Diese These lässt sich mit einem weiteren Abhörprotokoll stützen. »Ich muss noch dort vorbeigehen und eine Rechnung machen … Wann kann ich vorbeikommen?«, fragt ein Mafioso die Sekretärin von Coral.

Der Stimmenpool der ’Ndrangheta produzierte erkennbare Effekte. Der Ausgang der Wahlen vom 6. und 7. Juni 2009 für den Regionalrat sind verblüffend. Ivano Coral erhält 1797 Stimmen in Borgaro Torinese, 2 836 Stimmen in Leini und 1937 Stimmen in Volpiano. »Wir haben ihm wie versprochen die Resultate verschafft.« – »Den hab ich in der Tasche, ich schicke ihn zu dir.« Das sind die Kommentare zweier Mafiosi, die den Ermittlern zufolge zum »Wahlerfolg« Corals beigetragen haben. Kontakte zwischen der Regionalpolitik und der ’Ndrangheta, welche die Staatsanwälte näher beleuchten möchten, indem sie vorhandene Verdachtsmomente systematisch überprüfen.

»Da gibt’s einen Landsmann von uns, einen Freund … Kommt aus Genua … Nee, den kennst du nicht (…). Komm gegen drei, dann stell ich ihn dir vor. Es wird auch ein Politiker aus Rom da sein«, teilt Benvenuto »Paolo« Praticò, Mitglied des Crimine von Turin, mit. Zusammen mit einem weiteren Clan-Angehörigen organisierte er ein Treffen zwischen Politik und Finanz im Hotel Atlantic, bei dem auch ein Senator aus Kalabrien teilnahm, Gino Trematerra. Zum Zeitpunkt des Treffens ist der Senator, der 2010 Bürgermeister von Acri (bei Cosenza) wurde, Regionalkoordinator der UdC und fliegt gerade nach Brüssel, um seinen Sitz im Europaparlament einzunehmen. Sein Sohn Michele ist Regionalrat für Landwirtschaft und gehört zu den engsten Mitarbeitern von Giuseppe Scopelliti, Jahrgang 1966 und seit 2010 Präsident der Region Kalabrien.

Wie eng die Beziehungen zwischen beiden sind, geht daraus hervor, dass Scopelliti wenige Tage vor seiner Wahl zum Präsidenten nach Acri kam, um die Bürgermeisterkandidatur von Gino Trematerra zu unterstützen. Er versprach ihm, dass das Krankenhaus von Acri nicht geschlossen werde. »Ich setze mich für einen Freund ein, der aus Ligurien gekommen ist und einen Politiker aus Rom mitgebracht hat«, wiederholt der Pate gegenüber den Eingeladenen. »Es war gar nicht leicht, so viele Leute zusammenzubringen, da die meisten keinen Bezug zur Politik haben und nicht mal wussten, welcher Partei er angehört«, erzählt »Pino« Mangone, der in der ’Ndrangheta im Rang eines Sgarrista steht und Mitorganisator des Gipfeltreffens ist. Praticò hat Probleme, sich an den genauen Namen der Partei zu erinnern: »UdC, UdR oder so ähnlich.« Für die Bosse ist das egal. Was zählt ist, dass er aus Rom kommt und Senator ist. »Der kann so etwas machen, und die halten auch, was sie versprechen«, glaubt »Paolo« Praticò.

Das Gipfeltreffen findet am 19. Januar 2008 statt. In der Nähe des Tagungshotels Atlantic in Borgaro Torinese, unweit des Turiner Flughafens, beobachten die verdeckten Ermittler die Ankunft eines Maserati. Am Steuer ein Sgarrista der ligurischen ’Ndrangheta, Onofrio Garcea, der als Gefolgsmann des Bonavota-Clans aus Sant’Onofrio (bei Vibo Valentia) gilt. Er arbeitet für die Mafia-Zelle von Genua und gilt nicht gerade als ein Heiliger. Gebürtig in Vibo Valentia, hat er im Laufe seines bisherigen Lebens schon einige Vorstrafen zusammengetragen, »wegen Zugehörigkeit zu einer mafiösen Vereinigung« und anderen Delikten. Sein Fahrgast, den er von Genua nach Turin gefahren hat, ist der besagte Gino Trematerra, Jahrgang 1940. Und auch wenn dieser mittlerweile nicht mehr Senator, sondern Bürgermeister und Europaabgeordneter ist, für die Menschen von Acri bleibt er der »Senator Trematerra«.

Die Begegnung im Hotel Atlantic wird von den Ermittlern als äußerst alarmierend eingestuft, »unabhängig vom Grad der Mitwisserschaft des Senators«. So steht es in ihrem Bericht. Es ist nicht das erste Mal, dass der Name Trematerra in Unterhaltungen der Paten fällt. Zwei Bosse aus Africo und Roghudi (bei Reggio di Calabria) sprachen in einem abgehörten Gespräch über die Wahlen zum Europäischen Parlament 2009. »Caridi ist aus Reggio di Calabria, der Trematerra ist zwar aus Cosenza, aber das macht nichts, der scheißt auf die dortigen Mafiosi«, meint Pietro Zavettieri. »Aber die wollen Trematerra trotzdem unterstützen«, hält Pietro Romeo dagegen. »Klar, er ist dort Kandidat«, stimmt ihm Zavettieri zu. »Der, der uns jetzt gefällig ist, ist aber Caridi«, sagt der Boss aus Africo.

Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament engagiert sich die ’Ndrangheta immer besonders. Von Süd bis Nord. So zeigen die Clans aus Piemont Interesse an der Kandidatur von Fabrizio Bertot, damals wie heute Bürgermeister der Gemeinde Rivarolo Canavese. Die Wahlmaschinerie, die der Pate Giuseppe Catalano in Gang gesetzt hat, ist beeindruckend. Bertot soll unter anderem »einigen hochrangigen Mitgliedern der ’Ndrangheta in Turin« vorgestellt werden. In einem zweiten Schritt soll nach dem Plan von »Don Peppe« Catalano der Pakt mit dem Politiker konkretisiert werden.

Es beginnen, wie der ermittelnde Untersuchungsrichter sagte, »persönliche Verhandlungen um einen Stimmenkauf. Als Gegenleistung für die Wahlunterstützung ist die Zahlung von 20.000 Euro vorgesehen«. Die Summe wird von den Battaglia selbst genannt. Er fügt hinzu: »Wir haben es aber leider nicht geschafft, mit einem fertigen Angebot hierher zu kommen, und das aus einem ganz einfachen Grund: Wir haben noch nicht so recht verstanden, in welcher Form Geschäft und Gegengeschäft erfolgen sollen. Unsere Freunden aus Kalabrien wollen uns jedenfalls helfen, ohne eine einzige Lira zu verlangen.«

Vor seinem Treffen mit Catalano hatte sich Battaglia – zusammen mit Giovanni Macrí – mit Giovanni Iaria verabredet. Er war es auch gewesen, der ihm die gewünschte Unterstützung kostenlos zugesichert hatte. Aber damit ist Boss Catalano nicht einverstanden. Die beiden willigen schließlich ein, zu bezahlen. »20.000 Euro. Wir sprechen mit dem Bürgermeister. Wir werden die Summe schon irgendwie zusammenkriegen. Entweder bringt sie der Bürgermeister auf, oder ich bezahle das aus eigener Tasche«, erklärt Battaglia, die rechte Hand von Bertot, unmissverständlich. Die drei sprechen auch über künftige Gewinne und Gefälligkeiten. Die Umwidmung eines landwirtschaftlichen Grundstücks aus dem Besitz von Franco d’Onofrio wird angesprochen, der auf diesem Gelände seine Klinik erweitern möchte. Eine »uneigennützige« Gefälligkeit, die jedoch ebenfalls ihren Preis hat. Battaglia beziffert sie auf 50.000 Euro, bezahlbar in zwei Tranchen zu 30.000 und 20.000.

Die Präsentation des »Siegerpferdes«, des Rekordhengstes nach Art eines Varenne, findet im Café Italia statt, eine Art Wahlkampfbüro, das gemeinsam von Politikern und Mafiosi genutzt wird. »Es ist uns eine große Ehre, heute den Herrn Bürgermeister sowie seinen Assistenten bei uns begrüßen zu dürfen. Das erfüllt uns mit Stolz. Ich darf euch bei der Gelegenheit daran erinnern, dass der Herr Bürgermeister Kandidat bei den Europawahlen ist.« So schwadroniert »Don Peppe« Catalano in Gegenwart von Bertot und seines Assistenten Antonio Battaglia, gebürtig aus Capo Spartivento (Kalabrien), Schlüsselfigur in der Affäre um die Stimmenkäufe und bestens vernetzt in der Politik- und Wirtschaftsszene der Region Turin. Bis 2004 war er Direktor des Gemeindekonsortiums Reti e Impianti Sud Canavese aus Ciriè bei Turin und bis 2009 ordentliches Aufsichtsratsmitglied der Asa Acque. Beides sind öffentliche Einrichtungen aus dem Bereich der Wasserversorgung, in deren Aufsichtsräten Bürgermeister der Mitgliedsgemeinden sitzen.

Battaglia und Catalano führen »echte Wirtschaftsverhandlungen, um sich die Stimmen der Kalabresen zu sichern«. Dass Battaglia und Macrì sich der kriminellen Prominenz von Catalano bewusst waren, steht den Ermittlern zufolge außer Zweifel. Aber sie kennen auch die Namen der anderen Wahlkandidaten, die die Mafia-Organisation unterstützen wird. Sie nennen den Namen von Porchietto im Zusammenhang mit dem Neffen des Paten Catalano. »Sag deinem Neffen, er soll Claudia [Porchietto] anrufen, und frag sie, wer Fabrizio [Bertot] ist.«

»Große Baustellen, große Gebäude«, führt Bertot in seiner »Wahlrede« vor der versammelten Mafia-Prominenz im Café Italia aus, »alle diese Dinge werden vom europäischen Parlament beschlossen.« Dann kommt er auf eine Sache zu sprechen, die sein Assistent noch nicht mitgeteilt hatte: »Ich werde weiter Bürgermeister von Rivarolo [bei Turin] bleiben.« Er erläutert, was das für die Mafiosi heißt: »Ich werde weiter für euch erreichbar bleiben. Giovanni [Iaria von der Mafia-Zelle Cuorgnè bei Turin] und Nino [Battaglia] wissen ja, wie ich kontaktiert werden kann. Ich bleibe zwar weiter Bürgermeister von Rivarolo, aber ich werde nach Brüssel gehen, dort ein Büro haben und die Kontakte knüpfen, die man braucht, um dafür sorgen zu können, dass man all das, was man machen möchte, auch machen kann.« Am Ende der Veranstaltung applaudiert das »Netzwerk der Kalabresen«. Mit stehenden Ovationen.

Doch Bertot schafft es nicht ganz. Bei den Wahlen reicht seine Stimmenanzahl nicht aus. Er kommentiert gegenüber dem Chefredakteur der Tageszeitung Cronaca Qui, was ihm hierzu Salvatore Fiorino, ein Politiker der neuen PSI mitgeteilt habe: »Alle Kalabresen in Turin, die einigermaßen bei Verstand sind, haben für dich gestimmt.« »Das alles zeigt, in welchem Grad die Angehörigen der ’Ndrangheta im Stande sind, den Wählerwillen zu beeinflussen. Mit Einschüchterungen, Drohungen und dem Gebot der Omertà. Klassische Mittel des organisierten Verbrechens. Und um eine solche Beeinflussungsfähigkeit zu rechtfertigen, benötigen sie weder Titel noch professionelle Positionen.« Die ’Ndrangheta in Piemont ist den Ermittlern zufolge in der Lage, »die nahezu totale Kontrolle einer bestimmten Gegend zu übernehmen«.

Zwischen Ende Januar und Ende Februar 2011 trifft sich Salvatore »Giorgio« Demasi, Boss der Mafia-Zelle von Rivoli im Rang eines Padrino, mit verschiedenen hochrangigen Politikern. Don »Giorgio« ist mit Antonia Romeo verheiratet, Tochter des verstorbenen Sebastiano »U Staccu« Romeo. Zu den Politikern, die Demasi trifft, zählen der Abgeordnete Gaetano Porcino, der Beigeordnete für das Bildungswesen der Gemeinde Alpignano, Carmelo Tromby von der IdV, der Regionalrat Antonino Boeti und der Abgeordnete Domenico Luca von der PD. Luca hat zugegeben, dass er Demasi seit dreißig Jahren kennt, aber niemals sei er auf den Gedanken gekommen, dieser könne Pate einer kriminellen Organisation sein, so wie es in den Gerichtsakten steht.

»Ist dir bekannt, dass wir in Turin Vorwahlen haben?«, fragt der Parlamentarier den Boss. »Aber sicher doch. Sag mir zur Abwechslung mal was, dass mich wirklich interessiert«, ist die Antwort von Demasi. »Okay, ich werde Fassino unterstützen«, teilt Luca mit und fügt hinzu: »Ich wollte dich fragen, ob du eventuell … immerhin ist der Kampf gegen Gariglio [den Herausforderer von Fassino] ziemlich hart.« Am Tag der Vorwahlen ruft der Mafia-Boss Luca an. Beide sind der Meinung, dass die Partie nur zugunsten von Fassino ausgehen kann. Und das, »obwohl sich Pino [Mangone] reingehängt«, »ziemlich viel Arbeit gemacht« und »ebenfalls intensiv um die Kalabresen geworben hat«.

Demasi bemüht sich auch um den Posten des Bürgermeisters von Ciriè. Man bat ihn um Hilfe für die Wahlkampagne des scheidenden Bürgermeisters Francesco Brizio Falletti, Präsident der Firma Gruppo Torinese Trasporti (GTT). »Ich plane gerade ein Abendessen für Brizio. Er ist ein Freund von mir. Ich habe ihm gesagt, dass ich für ihn ein Dinner mit Landsleuten organisiere. Ein paar Kalabresen werden auch da sein.« Der das Demasi mitteilt, ist Vincenzo Femia, Präsident und Aufsichtsrat der Firma Car City Club aus Turin, einer Gesellschaft, die sich der ergänzenden Mobilität zum öffentlichen Nahverkehr verschrieben hat und zu deren Gesellschaftern auch die GTT gehört, die Gesellschaft für öffentlichen Nahverkehr von Turin. Demasi sagt zu, ihm zu helfen, und verweist ihn an Domenico Marando, der in Ciriè lebt.

Im Schatten der Stadtmauer von Turin geht es zu wie im Hinterland von Locri. Umworbene Bosse, die für Wählerstimmen sorgen können, aber natürlich nur für die richtigen »Pferde«. Ganz Italien ist ein Dorf. Auch die Politik einer Stadt wie Alessandria (bei Turin) bleibt von den raffiniert angelegten Intrigen der ’Ndrangheta nicht verschont. Eine ’Ndrangheta, die gern im Hintergrund bleibt, auch im piemonteser Hinterland, und ihre Schlägertypen auch schon mal unter den Lokalpolitikern rekrutiert. Im übertragenen Sinne. Ein Gemeinderat, der zum »Ehren-Schläger« der ’Ndrangheta ernannt wird, ist das beste Beispiel für die Vorgehensweise der ’Ndrangheta in Piemont und im gesamten italienischen Norden, deren Hauptanliegen die eigene öffentliche Unsichtbarkeit ist.

Es handelt sich hierbei um Giuseppe Caridi, der den Ermittlern von der Anti-Mafia-Behörde Turin zufolge als Consigliere (dt.: Ratgeber) der ’Ndrangheta tätig war. Er wurde 2007 auf die Liste der PdL gewählt und zum Vorsitzenden des Ausschusses für Landwirtschaft und Umwelt ernannt. Darüber hinaus war er bis zu seiner Verhaftung Organisationsbeauftragter der Alleanza Democratica, der politischen Bewegung, die aus den Überresten der Christdemokraten hervorging und von Giancarlo Travagin gegründet wurde, ihrem aktuellen Präsidenten. Diese Erkenntnis ist der Operation »Maglio« zu verdanken, die von der Anti-Mafia-Behörde Turin koordiniert wurde und die zur Verhaftung von 19 Beschuldigten führte, denen Zusammenarbeit mit einer mafiösen Vereinigung vorgeworfen wurde. Den Staatsanwälten zufolge sind sie Mitglieder der ’Ndrangheta, und gehören zur Mafia-Zelle »Unterer Piemont«.

Es gab Zeiten, da durften Politiker, »Bullen« und all diejenigen, die anderen Organisationen einen Eid geschworen hatten, auf keinen Fall Mitglieder der ’Ndrangheta werden. Sie konnten es höchstens zum Contrasto Onorato, zum Helfer ehrenhalber bringen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Einige vom Lauf der Geschichte überholte Regeln müssen den Bedingungen der Gegenwart angepasst werden. Dieser Ansicht sind zumindest die ’Ndrangheta-Bosse in Piemont und Ligurien. »Wir müssen mal wieder Reformen machen«, empfiehlt der Boss von Genua, »Italien hat sich verändert, die Welt hat sich verändert, dann müssen auch wir uns anpassen, auch wir müssen viele Kleinigkeiten verändern.« Eine Reformer-’Ndrangheta, zumindest was den ligurischen Ableger betrifft, aber die Harmonie mit dem konservativen Block des Mutterhauses in Reggio di Calabria darüber zu riskieren, ist sie nicht bereit.

»Die ganze Welt hat sich verändert, mancherorts gehört der Bürgermeister zu uns, auch bei mir macht er sich ganz prächtig«, erklärt der Mafia-Boss von Genua. Der Fall von Alessandro Figliomeni, dem ’Ndrangheta-Bürgermeister von Siderno (bei Reggio di Calabria), der im Zuge der Operation »Bene Commune« 2010 verhaftet wurde, war nur das eklatanteste Beispiel für diese Form der Einbindung öffentlicher Würdenträger. Oder Domenicantonio Cosimo »Tony« Vallelonga, halb Australier, halb Kalabrese, der von 1996 bis 2005 Bürgermeister der Stadt Stirling (bei Perth) in Australien war und im März 2011 verhaftet wurde. Er wurde beschuldigt, ein Mitglied der ’Ndrangheta zu sein.

Wenn man den Worten der ligurischen Bosse Glauben schenkt, ist die Plage noch sehr viel weiter verbreitet. »Zu meiner Zeit, als ich noch dort im Dorf lebte«, erklärte Pino seinen Männern, »da gab es meinen guten Freund Pasquale Napoli. Der schaffte es, bis zum Leiter der Kulturabteilung der Stadtverwaltung aufzusteigen. Und das war schon vor 40 oder 45 Jahren.« Und Gangemi fasst die diesbezügliche Weltsicht der Mafia wie folgt zusammen: »Wenn einer kein Politiker ist und sich schlecht verhält, verhält er sich schlecht. Wenn er kein Politiker ist und sich gut verhält, verhält er sich gut. Wenn er ein Politiker ist und sich trotzdem gut verhält, ist er ein guter Christ. Und so soll es bleiben.« Gutes Verhalten heißt in diesem Zusammenhang natürlich immer, den Anweisungen der Mafia Folge zu leisten.

Unterhaltungen zwischen zwei Mafia-Bossen über die maximale Ausdehnung des ’Ndrangheta-Systems. Soll man Politiker als echte Mitglieder aufnehmen oder sie außen vor lassen? Fragen, die auf organische Beziehungen zwischen Politik und Mafia schließen lassen. Beziehungen, die Italien seit 150 Jahren zu einem europäischen Problemfall in Sachen Organisierter Kriminalität machen.