13.
»BIT« UND »SILVIUCCIO«
Die Methoden der Mafia-Clans garantieren pünktliche Abläufe. Die Justiz dagegen mit ihren von außen verworren erscheinenden Zeitabläufen und langen Wartezeiten bietet nichts als Unsicherheit. Dieser Meinung war jedenfalls Alessandro Bitonti, ein Rechtsanwalt aus Modena. Von seinen Freunden wurde er »Bit« genannt, und auch Clan-Chef Alfonso »O Pazzo« Perrone, der auf doppelte Weise mit dem im Dezember 2011 verhafteten Oberboss des Casalesi-Clans, Michele Zagaria, verbunden war, nannte ihn so. Ein Anwalt mit einer Schwäche für Autos und Fußball. Seine Fußballbegeisterung ist so groß, dass er 2009 eine Gruppe von Unternehmern aus Modena zusammenbringt, die die Fußballmannschaft von Reggio Emilia kaufen möchte. Ein Jahr zuvor hatte er schon versucht, mit einer römischen Seilschaft den Fußballverein von Modena zu kaufen.
Diese spezielle Geschichte eines Wirtschaftsverbrechens fängt damit an, dass »Bit« bei einem Autohändler in Verona ein ganz besonderes Fahrzeug sieht. Er erliegt sofort der Faszination, die von der Luxuslimousine ausgeht, und will sie haben, koste es was es wolle. Der Rechtsanwalt spricht mit dem Verkäufer, woraufhin zwei Zwischenhändler aus Modena ins Spiel kommen. Der Verkauf wird ohne Probleme abgewickelt und »Bit« kommt zu seinem neuen Auto. Er bezahlt es in mehreren Raten ab. Jedes Mal per Scheck. Aber dann geht etwas schief. Der Verkäufer aus Verona zieht den Kaufpreis auf einmal ein, was zur Folge hat, dass der Anwalt in finanzielle Schwierigkeiten gerät.
Der unverhoffte Schachzug des Autoverkäufers verdirbt »Bit« die Laune. Er hatte ihm vertraut. Vielleicht hat er schlecht verhandelt, denkt er sich und versucht zunächst, das Problem auf legalem Weg zu lösen, und verklagt den Autohändler wegen Betrug. Aber die Mühlen der Justiz mahlen langsam. »Bit« will nicht so lange auf sein Geld warten und wendet sich daher an zwei Bekannte. Er beauftragt diese, mit dem Verkäufer zu verhandeln. Der Versuch scheitert. Die Situation verschärft sich. Bei einer Begegnung ohrfeigt ihn der Verkäufer zweimal. Das ist die Art des Autoverkäufers, dem Anwalt zu vermitteln, dass er gefälligst die Fristen der Justiz abzuwarten habe. »Bit« fühlt sich gedemütigt und wendet sich nun an Alfonso »O Pazzo« Perrone. Dieser erklärt dem Anwalt, dass seine zwei Abgesandten offenbar ein doppeltes Spiel gespielt haben und dass das nicht passiert wäre, wenn er sich gleich an ihn gewandt hätte.
Perrone ruft die beiden ungetreuen Verhandlungsführer an. Er verabredet sich mit ihnen in der Nähe eines Cafés im Zentrum von Modena. Dieses Café ist Perrones zweites Zuhause, seinem Clan dient es als Treffpunkt. Zur Verabredung kommt Perrone mit seinem Cousin Pasquale Perrone und steht dort den beiden Unterhändlern, Douglas Marchesi und Carmine Tammaro, sowie Bitonti gegenüber. Die Unterhändler erhalten für ihr falsches Spiel eine nachhaltige Lektion. Sie werden bedroht, geschlagen und der Summe beraubt, die der Autohändler »Bit« schuldete. Eine Gewalttätigkeit, die an Prozeduren in der Heimatregion der Mafia erinnert, die sich aber mitten im pulsierenden Zentrum von Modena abspielt, das mittlerweile zu einer zweiten Heimstätte der Mafiosi geworden ist.
Einige Tage nach der Schlägerei gehen die Gebrüder Perrone den Ermittlern ins Netz. »Bit« ist alarmiert. Er selbst kommt zunächst davon, aber wie er als Anwalt weiß, sollte man sich in solchen Fällen nie zu sicher fühlen. Es vergehen ein paar Tage, einige Monate, fast ein Jahr seit der Verhaftung von Perrone. »Bit« hat den versuchten Betrug, den Streit mit dem Verkäufer, die Mafia-Methoden von Perrone, der ihm zu Hilfe kam, schon fast vergessen. Er hat die Angelegenheit verdrängt.
Zwischenzeitlich kommt ihm zu Ohren, dass die Wirtschaftsverbände von Modena einer Ethik-Erklärung zugestimmt haben, die im Falle einer Verurteilung für Mafia-Verbrechen den Ausschluss von Mitgliedern sowie bei laufenden Verfahren deren Suspendierung vorsehen. Was für scheinheilige Typen, denkt sich »Bit«. Es geht doch alles nur um den äußeren Schein. Zur Vorstellung der Ethik-Erklärung am 28. Januar erscheint auch die Anwaltszunft von Modena. Auf diese Weise, so denkt sich »Bit«, bekämpft seine Zunft zusammen mit den Lokalpolitikern am Tag die Mafiosi, und bei Nacht übertreten sie trotz aller Moralbeschwörungen die Gesetze, die ihrer mafiösen Klientel schaden könnten. Und am nächsten Tag, wenn die Ethik-Erklärung vorgestellt wird, sonnen sie sich wieder öffentlich im Scheinwerferlicht.
»Bit« hat jetzt endgültig genug. Ihm stinkt diese Scheinheiligkeit, und er denkt an all die Kollegen, die den Gerichtssaal mit der Politikbühne vertauscht haben. Wie viele Strafrechtler verteidigen Mafiosi aus Modena und stimmen gegen die Anti-Mafia-Gesetze, unterzeichnen aber zugleich die Ethik-Erklärung. Oder sind gegen beide. Er ist verwirrt, denkt nach und fragt sich, ob er wegen der Hilfeleistung von Perrone in Schwierigkeiten kommen könnte.
Am 21. Februar 2010 verhaftet ihn die Polizei. Er wird ins Sant’-Anna-Gefängnis von Modena gebracht. Gegen ihn wird wegen der Hilfeleistung Perrones ermittelt. Die Ermittlungsrichter unterstreichen in ihrem Bericht, dass ihm bewusst war, welche Methoden Perrone anwenden würde. Das bringt ihn endgültig hinter Gittern. Er wird nach Artikel 7, erschwerenden Umständen im Zusammenhang mit mafiösen Aktivitäten, verurteilt. Der Anklage zufolge ist der Anwalt zwar kein Gefolgsmann der Mafia, hat aber ihre Dienste genutzt, um ein Problem weit vor den vorgesehenen juristischen Fristen zur Lösung zu bringen. In der Berufungsverhandlung wird diese Beschuldigung wieder aufgehoben, aber die Staatsanwälte halten weiter an ihr fest. Für den Anwalt »Bit« ist das alles ein Alptraum. Staatsanwälte und Ermittlungsbeamte waren bis dato Teil seiner Arbeitswelt. Jetzt findet er sich auf der Anklagebank wieder, mitten in einem Mafia-Verfahren. Mitten in einem Verbrechen, das sich aus Gewalt und Abrechnungen zusammensetzt. Und das nicht in Casapesenna, dem süditalienischen Heimatort von Michele Zagaria, dem Oberboss, sondern im Zentrum von Modena.
Das Schauspiel bietet alles: den Mafioso, den Anwalt, der die Hilfe des Bosses erbittet, das Opfer, die Verletzten, den Mafia-Treffpunkt, die Schläge, die Drohungen, der Täuschungsversuch und die Gegentäuschung. Es gibt ja nicht nur Bitoni, der außergerichtliche Beziehungen mit Perrone unterhält. Es gibt noch einen zweiten Anwalt, der Perrone betreut und ihn berät. Ein Anwalt aus dem süditalienischen Nola, Paolo Molaro. Er hatte Perrone dazu geraten, an den Präsidenten der Republik zu schreiben und sich als Justizopfer darzustellen. Der Anwalt aus Nola riet Perrone auch dazu, wie er sich im Falle eines Erpressungsvorwurfs aus Modena verhalten sollte. »Leute, die Anzeige erstatten, sind Scheißkerle und sollten an einem Hochspannungsmast aufgeknüpft werden.« In einem anderen Abhörprotokoll, das zur Untersuchungshaft für Perrone letztes Frühjahr beitrug, ergänzt der Anwalt aus Nola: »Der Typ schrammte nur knapp an einer Pistolenkugel vorbei. Arschlöcher, die nicht zahlen und Probleme machen, müssen erschossen werden.« Aus diesen Unterhaltungen geht die Intensität gefährlicher Nähe zwischen Mafiosi und ihren Beratern mit weißer Weste hervor. Selbständige, die den Clans dabei helfen, sich in neuen Gebieten festzusetzen und zu gedeihen.
Im Krankenzimmer der Klinik, in welcher »Silviuccio« logiert, gibt es ein ständiges Kommen und Gehen von Personen. In den Gesichtern der Patienten, die mit ihm ein Zimmer teilen, lässt sich die Wut über die Zustände ablesen, die sie ertragen müssen. Die Aussichtslosigkeit, diese Zustände zu beenden und eine surreale Situation aufzubrechen. »Silviuccio« fühlt sich in der Klinik als König. Er kennt die richtigen Leute. Jemand hat ihn sogar mit Frauen in Krankenzimmern gesehen. »Silviuccio« wurde wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Mord verurteilt, seine Strafe endet 2023. Er ist ein »Ehrenmann« des Ferone-Clans aus Catania, der von Pippo Ferone geleitet wird. Trotz seines Daueraufenthaltes in der Klinik geht es »Silviuccio« gut. Offiziell ist er zu hundert Prozent querschnittsgelähmt. Die entsprechenden Gutachten wurden von einem bekannten Mediziner aus Bologna unterzeichnet.
Wenn man sich über seine eigenen Kreise hinaus begibt, so denkt sich der Klinikdirektor der Einrichtung, die »Silviuccio« beherbergt, dann kann es einem passieren, dass man die Kontrolle über die eigenen Aktionen verliert. Der Mediziner befindet sich in einer kritischen Situation. Er hat einen Mafioso begünstigt. Aber er dachte ja nicht, dass »Silviuccio« Mafioso sein könnte. Zumindest konnte er sich nicht vorstellen, dass er mit seinen Aktionen direkt ein Mitglied des Ferone-Clans aus Catania bevorteilen könnte.
»Silviuccio«, wie ihn der Mediziner aus Bologna liebevoll nannte, heißt eigentlich Silvio Balsamo. Er beging 2011 nach einer Hausdurchsuchung Selbstmord. Er hatte Angst davor, wieder einsitzen zu müssen. Balsamo legte sich eine Schlinge um den Hals und stürzte sich dann mit dem Rollstuhl eine Treppe hinunter. Den Ermittlern zufolge sollte es eine Inszenierung gewesen sein. »Eine untypische Erhängung«, befanden sie. Ihre These ist, dass er einen Selbstmord vortäuschen wollte, um den Nachweis für seine psychischen Probleme zu erbringen, aber dann ging irgendetwas schief.
Im Haus von Balsamo wurden Briefe gefunden, die seine Verbindung zum Clan belegen, falsche Zertifikate und ein Laptop, auf dem E-Mails gespeichert waren, die er mit Professor Mauro Menarini ausgetauscht hatte. Gefunden wurden auch Tausende von unbenutzten Kathetern. Die Ermittlungen rund um den »Selbstmord« führten zur Verhaftung des Mediziners, der Direktor der noblen Montecatone-Klinik in Imola und Leiter von deren Rehabilitationsabteilung war. Dazu hielt er Vorlesungen an der Universität. Im Raum Bologna ist der Name von Mauro Menarini jedenfalls wohlbekannt. Ein Arzt, dem alle vertrauen. Unverdächtig. Mit unanfechtbaren Diagnosen.
Den Staatsanwälten der Anti-Mafia-Behörde von Bologna zufolge soll Menarini medizinische Untersuchungsberichte gefälscht haben und Balsamo eine hundertprozentige Invalidität attestiert haben. Wenigstens auf dem Papier litt Balsamo an einer verschärften Form der Syringomyelie, einer seltenen und schmerzhaften Rückenmarkserkrankung, die den Patienten an den Rollstuhl fesselt. Aber Balsamo gab nur den eingebildeten Kranken, wie im gleichnamigen Stück von Molière. Im November 2008 wurde er von der Polizei beim Autofahren erwischt, und in einem Amateurvideo war zu sehen, wie er an Weihnachten unter dem Weihnachtsbaum mit einer Freundin feierte. Dank der falschen Atteste erhielt Balsamo sogar eine Invalidenrente von 730 Euro pro Monat sowie auf Staatskosten drei Rollstühle und Medikamente. Aber der Hauptvorteil war, dass er den Hausarrest für sechs Jahre in der luxuriösen Montecatone-Klinik sowie drei weitere Jahre zu Hause verbringen konnte. Auf diese Weise trickste er das Strafvollstreckungsgericht aus.
Der zwischenzeitlich verhängte Hausarrest für Menarini wurde ebenfalls aufgehoben. Bis zur Entscheidung der Staatsanwaltschaft, ob gegen ihn Anklage erhoben wird oder nicht, sprach sich das Berufungsgericht stattdessen für eine verschärfte Meldepflicht aus. In der Zwischenzeit hatte der Verwaltungsrat der Klinik Menarini für die Dauer seines schwebenden Verfahrens von seiner Verpflichtungen suspendiert.
Der Beschluss, mit dem die Staatsanwaltschaft den Hausarrest für den Spitzenmediziner aus Bologna beantragt hatte, enthielt die Beschreibung beunruhigender Vorgänge. Eine Ärztin klagte während der Unterhaltung mit einer Kollegin, sie habe Angst, vor der Staatsanwaltschaft, die sie vorgeladen hatte, das, was sie über Balsamo wisse, auszusagen. Sie hatte Angst vor Racheakten. Ein Hinweis auf die neue Omertà, das neue Schweigegebot, das mittlerweile auch in der Po-Ebene gilt.
Drei Tage danach schrieb Menarini an einen Freund: »Ich bin verzweifelt. Die Staatsanwälte wollen meinen Kopf, dieses Mal sehe ich wirklich schwarz.« 2004 schrieb ein Mafioso an Balsamo und bat ihn, bei Menarini schnellstmöglich für ein freies Krankenbett zu sorgen. Die Beziehung zwischen dem Mafia-Boss und dem Klinikdirektor habe im Krankenhaus zu verbreiteten Betrügereien geführt, berichtete eine Zeugin. Zudem teilte sie mit, dass sich eine minderjährige Patientin darüber beklagt habe, dass Balsamo nachts in ihrem Krankenzimmer Sex mit Frauen gehabt habe. Eine Angestellte der Klinik sagte vor der Polizei aus, dass Balsamo Menarini nur mit Glacéhandschuhen anfasste und den Direktor möglicherweise mit Kokain versorgte. Das geht auch aus einer anderen Aussage hervor, in der es heißt, dass der Direktor dem Mafioso im Tausch für Rauschgift weitere Vergünstigungen eingeräumt habe.
Keine schlüssige Antwort gibt es bislang auf die Frage, was den Klinikdirektor und den Mafioso, die eigentlich in getrennten Welten lebten, miteinander verband. Beide waren sie an Aktionen beteiligt, denen eine enge Abstimmung vorausgegangen war, und auch die Auswirkungen bekamen sie beide zu spüren. Was also ging dort wirklich vor? Welche Gegenleistung hatte man dem weltbekannten Mediziner aus Bologna angeboten, damit dieser einen Mafioso mit gefälschten Attesten vor der Gefängniszelle bewahrt? Irgendeine Form gegenseitiger Gefälligkeiten muss es gegeben haben, wie in all den anderen Fällen der illegalen Kommunikation zwischen Mafia- und Verwaltungskadern, zwischen Mafia und Politik, zwischen Mafia und Wirtschaft. Denn warum sollte jemand wie Menarini seinen über viele Jahre mühsam erarbeiteten Ruf für einen Mafioso aufs Spiel setzen?
Es ist ein deprimierendes Bild, das die Anti-Mafia-Behörde von Catania im Untersuchungsbericht zu der von ihr initiierten Operation »Iblis« zeichnete. Darin wurden auch der 2012 zurückgetretene Präsident der Region Sizilien, Raffaele Lombardo, und sein Bruder, ein Abgeordneter, der mafiösen Verstrickung beschuldigt. Es müssen sich also noch weitere hochrangige Mafia-Bosse zur Kur in der Montecatone-Klinik von Imola aufgehalten haben. Die Ermittlungen von Polizei und Justiz dauern in dieser Sache noch an. Neue, unangenehme Erkenntnisse sind nicht ausgeschlossen in der Welt des Gesundheitsdienstes der Emilia-Romagna. Dort, wo nicht alles so ist, wie es scheint.