VORWORT

Salven aus Maschinenpistolen, Schauer von Glassplittern. Schüsse hallen durch die Nacht, die noch kurz zuvor eine von vielen zu sein schien. Aber in Duisburg ist nach dieser Nacht des 15. August 2007 nichts mehr, wie es einmal war. Für einen Moment zerreißt der undurchdringliche Mantel des Schweigens, der eine der geheimnisvollsten und mächtigsten Mafia-Gruppierungen Italiens, die ’Ndrangheta, normalerweise umgibt. Jenseits aller Relativierungen wird plötzlich für jeden sichtbar, dass eine mächtige kriminelle Organisation aus dem Ausland auf deutschem Boden nicht nur längst Fuß gefasst hat, sondern hier auch ihre blutigen Auseinandersetzungen austrägt. Die von Kugeln durchsiebten Leichen, die Blutlachen auf dem Vorplatz der Pizzeria Da Bruno und der Korditgeruch, der über den sechs Toten hängt: Das alles sind Bestandteile jenes mafiatypischen Szenarios aus verletzter Ehre, millionenschweren Geschäften und archaischen Riten, dessen tödliche Konsequenzen nun auch in Deutschland unübersehbar sind. Ein Szenario, das von ungebremster Machtgier kündet, die auf niemanden Rücksicht nimmt. Weder auf Junge noch auf Alte. Wer von der ’Ndrangheta, der Mafia Kalabriens, profitiert, der bezahlt dafür im Zweifelsfall mit dem Leben.

Das Killerkommando musste das von einem gegnerischen Clan geführte Restaurant nicht einmal betreten. Sie warteten davor, im Dunkel dieser warmen Augustnacht. In ihren Händen der Pistolen Marke Beretta. In Herz und Hirn jahrzehntelanger Hass, der Adrenalin freisetzt. Es wirkt wie eine Droge. Eine Droge, die Wahnvorstellungen schürt.

Die Killer schlugen die Wartezeit tot, indem sie eine Zigarette nach der anderen rauchten. Während die Zeit verstrich, wuchs ihre Nervosität, aber auch der Wille, die chronische Fehde hier in Deutschland ein für alle Mal zu beenden. Deren Anfang lag 16 lange Jahre zurück. Die Zeitungen bezeichneten den Beginn der kriegsähnlichen Attentatsserie damals als eine aus dem Ruder gelaufene »Karnevalsprügelei«, aus der in kürzester Zeit tödlicher Ernst wurde.

Abgesehen von dem Ehrbegriff, der die Organisation prägt, und den folkloristischen und traditionellen Aspekten der Mafia Kalabriens, ist es jedoch für den Machterhalt eines Mafia-Clans schon immer entscheidend gewesen, sich andere Clans gefügig zu machen. Es galt, den Feind zu vernichten und auf diese Weise Städte wie San Luca, Bovalino, Rom, Duisburg, Erfurt, Lissabon und Valencia zu erobern. Praktische Gründe also, verklausuliert als Verletzungen der ehernen Regeln der »Gesellschaft«, führten Giovanni Strangio und Giuseppe »Charlie« Nirta vor das Restaurant Da Bruno, das dem konkurrierenden ’Ndrangheta-Clan der Pelle-Vottari gehörte.

Das Da Bruno war ein von Clan-Hierarchen geweihter, sicherer Ort, an dem man Spezialitäten der italienischen Küche genießen konnten. Im Kellergeschoss des Lokals, über das eine Statue des Heiligen Erzengels Michael wachte, wurden dagegen neue Mafia-Mitglieder den Aufnahmeriten unterzogen, sogenannte Contrasti Onorati, Mitläufer, die sich in den Augen der Bosse verdient gemacht hatten. Aber im Da Bruno wurden auch Waffen gelagert. Beispielsweise ein Sturmgewehr Kaliber 5,56 Millimeter mit vier Magazinen, bestückt mit neunzig Schuss Munition. Waffen, wie sie sonst nur Spezialeinheiten von Polizei und Militär verwenden.

Der Heilige Michael wurde 1950 von Papst Pius XII. zum Schutzpatron der Polizei erklärt. Schon sehr viel länger dient der Erzengel den Mafiosi aus Kalabrien als Götzenbild. Eine Postkarte mit seinem Konterfei wird traditionell während des Aufnahmerituals verbrannt. Auf diesen Bildern ist der Heilige mit einem Schwert und der Waage der Gerechtigkeit zu sehen, während er das von einem Drachen symbolisierte Böse mit dem Fuß zerstampft. Für Polizisten verkörpert der Drache das Verbrechertum, und in Fällen wie diesem die ’Ndrangheta. In den Augen der Mafiosi wiederum steht der Drache für die Verräter, die als Kronzeugen die Regel des Schweigegebots brechen und sich dem Clan nicht länger bedingungslos unterwerfen. Gegen diesen speziellen Drachen kämpft die »Gerechtigkeit« der Mafien. Damit deuten die Mafiosi das religiöse Wertesystem um und stilisieren ihre Männer zu Racheengeln.

»Charlie« und Giovanni, zwei junge Männer, die im Schatten des Aspromonte und an der Küste des Ionischen Meeres aufwuchsen, rückten mit kaum 18 Jahren zu »Ehrenmännern« auf. Und jetzt sind sie hier in Deutschland und warten darauf, endlich abzudrücken und so in den Olymp des Verbrechertums aufzusteigen. Sie sind sich nahe wie Brüder und stehen bereit, um der Welt zu zeigen, dass der Nirta-Strangio-Clan den Moment für gekommen hält, das einzufordern, was ihm gebührt: Macht, Ehre und den Respekt der anderen Clans.

Giovanni ist schon seit längerem in Deutschland tätig. Er gilt als der Boss der Mafia-Zelle von Kaarst bei Düsseldorf. Die Ermittler sind ihm schon seit einiger Zeit auf der Spur. Diese Augustnacht wird ihn als »Killer von Duisburg« bei den Polizeiorganisationen in ganz Europa und darüber hinaus bekannt machen. Seine ausersehenen Opfer sind Marco Marmo, Sebastiano Strangio, Tommaso Francesco Venturi, die Brüder Marco und Francesco Pergola sowie Francesco Giorgi. Die Welt wird sich an dieses Ereignis als »Massaker vom 15. August« erinnern. Es reiht sich ein in eine blutige Chronologie von Mordanschlägen: dem »Karnevals-Scherz« (1991), dem »Massaker vom 1. Mai« (1993) und dem »Weihnachts-Blutbad« (2006).

Der Anfang dieser Blutrache geht zurück ins Jahr 1991, als aus einem vermeintlich harmlosen Karnevalsscherz bitterer Ernst wurde. Rocco Mammoliti, Sohn eines bekannten Clan-Chefs aus San Luca, ist einer der wichtigsten Kronzeugen aus den Reihen der ’Ndrangheta. Er schilderte den Vorfall aus seiner Sicht: »Einige Jungs der Nirta-Familie alberten miteinander rum, bewarfen sich mit Eiern, schmierten sich gegenseitig mit Rasierschaum voll. Dabei bekam auch das Auto von einem der Vottaris was ab. Ein Wort gab das andere. Die Jungs der Familien Nirta und Strangio gingen daraufhin ins Café der Vottaris und verlangten eine Entschuldigung. Die Kontroverse verlagerte sich auf die Straße, nach den Worten flogen die Fäuste. Andere Jugendliche gingen dazwischen, um die Streitparteien zu trennen, darunter Antonio Pelle. Während die Nirta-Jungs zu ihren Autos rannten und abhauen wollten, zog Antonio Vottari, davon überzeugt, dass diese mit Waffen zurückkommen würden, eine Pistole und schoss der Gruppe hinterher, einige traf er in den Rücken.« Zurück blieben die Leichen von Domenico Nirta und Francesco Strangio. Die Brüder Sebastiano und Giovanni Nirta wurden schwer verletzt.

Dank der Aussagen Mammolitis konnten die Ermittler die Vorgänge dieser dunklen Jahre aufhellen. Eine klassische Auseinandersetzung zwischen Clans, wie sie sich aus der Analyse von Dokumenten und Indizien rekonstruieren ließ. Den Clans ging es dabei um die Vorherrschaft in San Luca, um die Ehre und die wirtschaftliche Macht in diesem Gebiet. Das Resultat war ein Blutbad, das seine Spuren in der Region entlang der Küste des Ionischen Meeres hinterließ.

Um 2.24 Uhr in dieser unheilschwangeren Augustnacht 2007 wird der Anschlag nach Mafia-Art ausgeführt. Er löscht für immer die kollektive Vorstellung von der ’Ndrangheta als einer Vereinigung von Schafhirten aus dem hintersten süditalienischen Bergland aus. Der Anschlag versetzt Deutschland in Aufruhr. Er belegt unübersehbar die Existenz einer grenzüberschreitenden, international agierenden Mafia-Organisation. Über den gesamten Globus verstreut haben die Clan-Chefs lokale Mafia-Zellen gegründet, die in enger Abstimmung mit dem Mutterhaus in Süditalien agieren und sogar die US-Regierung mit Sorge erfüllen. Diese setzte die ’Ndrangheta 2008 auf eine schwarze Liste namens Foreign Narcotics Kingpin Designation Act (dt.: Liste der ausländischen Drogenbarone). Die kalabrische Mafia steht seitdem auf derselben Stufe wie die kurdische Untergrundbewegung PKK, die Terrororganisation Al Qaida sowie die kolumbianischen und die mexikanischen Drogenkartelle. »Sie ist zu einer zunehmenden Gefahr vor allem im Nordosten der Vereinigten Staaten geworden«, erklärte der stellvertretende US-Justizminister Mark Philipps und fügte hinzu: »Es handelt sich um eine Gruppierung, die ihren Machtbereich ständig vergrößert und deren Aktionen wir sehr ernst nehmen.«

Am nächsten Morgen werden vor dem Restaurant Da Bruno die Patronenhülsen zusammengefegt. Passanten bringen Blumen und kleine Zettel, auf denen sie ihrer Trauer Ausdruck verleihen. Die Menschen starren ungläubig auf die Blutlachen auf dem Boden, entsetzt über den brutalen Anschlag, für den sie – wie alle Menschen außerhalb der Mafia – kein Verständnis aufbringen. Letztlich ist es fast schon banal: Eine Fehde zwischen Clans bedeutet nun mal Krieg. Allen Kriegen gemeinsam ist das Ziel, den Feind zu vernichten.

Die Ermittlungen der Polizei ergaben, dass das Restaurant Da Bruno von besonderer Bedeutung für den Pelle-Vottari-Clan war. Darüber gibt nicht nur die Heiligenstatue Aufschluss. Bei Tommaso Venturi, einem der Opfer des Anschlags, wurde noch ein weiteres Bildnis des Erzengels gefunden. Die halb verbrannte Postkarte des Mafia-Heiligen spricht dafür, dass Venturi in dieser Nacht in die Reihen der ’Ndrangheta aufgenommen worden war. Ihre Riten, Vorstellungen von Ehre und Respekt gelten bekanntlich über regionale und Staatsgrenzen hinaus. Von San Luca bis Modena, von Platì bis Toronto, von Reggio di Calabria bis Duisburg.

Nach dem blutigen Anschlag wurden – mit dem Gestus der Überraschung und der Neuigkeit dieser Erkenntnis – die Einzelheiten und die Umstände dieser Tat vielfach beschrieben und die Strukturen der Mafia-Herrschaft in Deutschland eingehend analysiert. Als ob diese vorher völlig unbekannt gewesen wären. Diese ebenso allgemeine wie verräterische Verwunderung über das Massaker von Duisburg belegt daher exemplarisch die sträfliche Unterbewertung der Mafia außerhalb Süditaliens. Man sollte den Tatsachen endlich ins Auge sehen und eingestehen, dass sich der Machtbereich der ’Ndrangheta längst auf viele andere Länder ausgedehnt hat. Heutzutage kann sie überall in Erscheinung treten, in jeder nur erdenklichen Form.

Viel Zeit verging, bis es der Polizei endlich gelang, die Täter, die hinter dem Anschlag steckten, aufzuspüren. Eine Tonschüssel für Nudelaufläufe und eine Metzgereitüte voller Würstchen und pikanter Schweinskopfsülze führten auf die Spur von Giuseppe »Charlie« Nirta, dem Schwager von Giovanni Strangio. Seit zehn Jahren auf der Flucht vor der italienischen Justiz, sah Nirta keinen Grund, deswegen auf schmackhafte Spezialitäten der kalabrischen Küche zu verzichten. Als die drei Schwestern Strangios am 24. November 2008 in Amsterdam mit großen Fresspaketen im Gepäck ankamen, wurden sie von einer Spezialeinheit der italienischen Polizei beschattet und führten diese direkt zu Nirta.

Ein halbes Jahr später endete für den bis dahin flüchtigen Giovanni Strangio die Freiheit. Auch er wurde in Amsterdam festgenommen. Dort hatte er sein geheimes Hauptquartier in einem der unscheinbaren Wohnkomplexe am Rand der historischen Altstadt aufgeschlagen. Mit Basecap und Sonnenbrille glaubte er sich ausreichend getarnt und ging sogar in aller Öffentlichkeit spazieren. Als die Beamten zuschlugen, fanden sie in seiner Wohnung zahlreiche Waffen, falsche Pässe und Bargeld im Wert von 500.000 Euro. Kleingeld für die ’Ndrangheta, Peanuts für den dreißigjährigen Strangio, dazu ausersehen, der nächste Boss des Clans zu werden.

In Deutschland hatte er den Gastronom gegeben. Auf ihn waren zwei Pizzerien in Kaarst bei Düsseldorf angemeldet. Toni’s Pizza hieß die eine, die andere nach dem Mafia-Heiligen San Michele. Schon seit Mitte der achtziger Jahre hatte die Führung der Mafia dafür gesorgt, dass unter dem Deckmantel legaler wirtschaftlicher Aktivitäten außerhalb Italiens Vorposten für den Drogenhandel und die Geldwäsche eingerichtet wurden. Beispielsweise in Westdeutschland, nahe der Grenze zu Holland, dem Land, das als eine der Hauptquellen für synthetische Drogen gilt. Von Bedeutung war hierbei auch der nicht weit entfernte, riesige, schwer kontrollierbare Hafen von Rotterdam mit seinen Schmuggel- und Transportmöglichkeiten.

Zunächst diente Westdeutschland den Clans hauptsächlich als Transitroute für Waffen- und Drogengeschäfte. Erst im zweiten Schritt begannen sie, auch im Bereich der legalen Wirtschaft aktiv zu werden. Ab den achtziger Jahren investierte die ’Ndrangheta in großem Umfang Drogengelder in Duisburg, Kaarst, Dortmund, Aachen und Essen. Dort, im Herzen des Ruhrgebiets, nutzten die Clans den sich abzeichnenden Strukturwandel dazu, Hotels und Restaurants günstig aufzukaufen. Bisher konnten mehr als dreißig solcher Mafia-Betriebe identifiziert werden. Auch das Restaurant Da Bruno in Duisburg und die beiden Pizzerien in Kaarst zählten dazu.

Das Hotel, in dem die italienische Nationalmannschaft während der Fußballweltmeisterschaft 2006 logierte, soll angeblich ebenfalls eine dieser Mafia-Immobilien sein. Es gehört einem ehemaligen deutschen Olympioniken und einem Angehörigen der Familie Pelle aus San Luca. Letzterer habe, so die Aussage eines Kronzeugen, einen Kredit von 19 Millionen Euro für den Bau des Hotelkomplexes von der Mafia erhalten. Zudem sei der Bau des Hotels in einem Landschaftsschutzgebiet erfolgt. Den Spezialeinheiten der Carabinieri und der deutschen Polizei zufolge soll das Hotel auch von flüchtigen Mafiosi als Zwischenstation benutzt worden sein.

Nach 1989 dehnten sich die Aktivitäten der Mafien auch auf Ostdeutschland aus, einem der Endpunkte der Balkanroute, über die Heroin und Waffen ins Land kommen. Die deutsche Wiedervereinigung eröffnete ihnen so gut wie grenzenlose Geschäftsmöglichkeiten im Immobilienbereich, ideal, um ungeheure Mengen an Drogengeldern zu waschen. Etwa durch den Kauf von Hotels, Ferienanlagen und sonstiger Immobilien. Allein in Erfurt bewegen sich die Mafia-Investitionen in einer Größenordnung von knapp hundert Millionen Euro. Aber auch andere Anlageformen werden von der Mafia gern genutzt. Ein Untersuchungsbericht aus dem Jahr 2006 belegt beispielsweise, dass sich damals einige ’Ndrangheta-Clans über die Frankfurter Börse Aktienpakete von Energieversorgern zulegten. Alles zusammen macht Deutschland seit Jahrzehnten zum Gelobten Land für die ’Ndrangheta.

Doch die ’Ndrangheta agiert nicht nur im Immobilienbereich. 1994 geriet der damalige Vorsitzende der baden-württembergischen CDU und spätere Ministerpräsident Günther Oettinger – mittlerweile zum EU-Kommissar aufgestiegen – in die Schlagzeilen. In der sogenannten »Pizza-Affäre« wurde Oettingers Name im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen seinen Duzfreund, den Stuttgarter Wirt Mario Lavorato, genannt. Der Kalabrese, der Mitglied der ’Ndrangheta sein soll, wurde der Geldwäsche und des Drogenhandels bezichtigt. Dabei ging es auch um angebliche Wahlkampfspenden des Wirts für die CDU. Thomas Schäuble, der damalige baden-württembergische Justizminister, unterrichtete Oettinger über die laufenden Ermittlungen gegen Lavorato und gefährdete damit das Verfahren. Oettinger versicherte mehrfach, dass er von den Ermittlungen gegen Lavorato »völlig überrascht« worden sei.

Ebenfalls im Jahr 1994 beschlagnahmte die belgische Polizei im Hafen von Antwerpen knapp hundert Kilo Kokainpaste, die vom Cali-Kartell in Kolumbien stammten. Bestimmt waren sie für Clans aus San Luca. Verhaftet wurden in diesem Zusammenhang auch zwei Kellner des Restaurants L’Opera in Essen, das damals Giuseppe Giampaolo gehörte. Sein Geburtsort ist ebenfalls San Luca. Das Restaurant tauchte sogar in Untersuchungsberichten der US-Antidrogenbehörde DEA auf, in denen es um die Beschlagnahmung von zwölf Tonnen Kokain aus Südamerika ging. Die amerikanischen Beamten hatten zahllose Gespräche zwischen den bolivianischen Verkäufern und den kalabrischen Käufern der Drogenlieferung abgehört, welche vom Telefonanschluss des Lokals aus geführt worden waren.

Berichten der Carabinieri-Spezialeinheit ROS zufolge gibt es in Deutschland mittlerweile mindestens 21 ’Ndrangheta-Zellen. Die meisten davon unterstehen Clans aus San Luca. Ihnen konnte bisher der Besitz von dreißig Restaurants, zwei Hotels, drei Firmen und zwei Wohnhäusern nachgewiesen werden. Zur Tarnung erhalten die Restaurants typisch italienisch klingende Namen wie La Gioconda, Borsalino oder Paganini. »Borsalino« war auch der Name einer italienischen Anti-Mafia-Operation aus dem Jahr 2004. Sie beschäftigte sich unter anderem mit dem in Krefeld gelegenen Restaurant gleichen Namens und versuchte nachzuweisen, dass es sich dabei um einen Logistikstützpunkt für kriminelle Aktivitäten aller Art handelte.

Südlich wie nördlich der Alpen wird der Expansionsdrang der ’Ndrangheta unterschätzt. Man zeigt sich gleichgültig gegenüber eindeutigen Indizien, die auf eine bereits etablierte Präsenz der Mafia hindeuten. Natürlich haben nicht alle Clans die gleiche Macht, sind nicht gleich stark und besitzen auch nicht dieselbe wirtschaftliche und kriminelle Schlagkraft. Aber neben Clans, die auf dem Stand von vor dreißig Jahren stehengeblieben sind, gibt es die Clans der modernen ’Ndrangheta, denen es in erster Linie um Geschäfte und Gewinne geht. Um ihre Ziele zu erreichen, bedienen sie sich der meist zum Erfolg führenden Korruption als Mittel zum Zweck.

Macht, Reichtum und der mafiöse Ehrenkodex treiben die Clan-Chefs um. Da führen schon Kleinigkeiten zu großen Komplikationen. Aber selbst wenn der Auslöser wie im Falle der Fehde in San Luca ein Dummejungenstreich war, die eigentlichen Motive lagen woanders. Im Sommer 2008 druckte die süditalienische Zeitschrift Calabria Ora einen Bericht aus dem Spiegel ab. Das deutsche Magazin gab darin die Unterhaltung mit einem ’Ndrangheta-Boss wieder, dem die beiden deutschen Journalisten das Pseudonym Don Fedele gegeben. Dieser Don Fedele bestätigte, dass »Rache kein ausreichender Grund war, um den Sechsfachmord von Duisburg anzuordnen«. Der Anschlag sei aus strategischen Gründen erfolgt. Die Führungsspitze der ’Ndrangheta habe damit den weiteren Aufstieg von Marco Marmo verhindern wollen.

Marmo war bekanntlich der mutmaßliche Mörder von Maria Strangio, der Frau von Clan-Chef Giovanni Nirta. Den Regeln der ’Ndrangheta zufolge hätte ihm damit ein höherer Rang zugestanden. Allerdings gilt der Mord an einer Frau als Sakrileg. Um dennoch weiter kriminelle Karriere machen zu können, habe Marmo einen eigenen Clan gründen wollen. Und dazu schon konkrete Vorbereitungen getroffen. So habe sich Marmo zum Zeitpunkt des Anschlags in Deutschland aufgehalten, um seine dortigen Gefolgsleute zu treffen und eine gepanzerte Limousine zu kaufen. Da solches Abweichlertum nicht geduldet werden kann, habe die oberste Führungsspitze der ’Ndrangheta befohlen, mit Marmo kurzen Prozess zu machen und seinen Ambitionen ein Ende zu bereiten.

Der Entschluss, einen »öffentlichkeitswirksamen«, aufsehenerregenden Anschlag durchzuführen, sei ganz bewusst erfolgt und habe die beabsichtigte Wirkung entfaltet, was durch die mittlerweile in dem kalabrischen Dorf San Luca eingezogene Ruhe bestätigt werde. Dort ist seit dem blutigen Anschlag von Duisburg, der den Endpunkt einer Serie wechselseitiger Racheakte mit insgesamt zehn Opfern allein im Jahr 2006 darstellt, kein einziger Schuss mehr gefallen. Als anschließend die staatlichen Behörden massiv auf den Plan traten, war die ’Ndrangheta nur allzu gern bereit, wieder in die gewohnte Unsichtbarkeit abzutauchen.

Insgesamt wurden im Zusammenhang mit der »Fehde von San Luca« über sechzig Personen verhaftet. Eine erste, »Fahida« genannte Operation, die unmittelbar nach dem Anschlag im August 2007 durchgeführt wurde, hatte 29 Haftbefehle zum Ergebnis, unter anderem wegen Waffenbesitz, Zugehörigkeit zu einer mafiösen Vereinigung und Mord. Eine zweite Operation namens »Zaleuco« führte zu neun weiteren Festnahmen, darunter befanden sich unter anderem zwei Selbständige aus Norditalien, denen Begünstigung der Mafia vorgeworfen wurde. Unter den Festgenommenen waren zudem auffällig viele Frauen. »Schwestern im Schweigen«, wie sie in Mafia-Kreisen genannt werden, Frauen also, die ihren Ehemännern, Vätern, Söhnen und Brüdern zur Flucht verholfen hatten, die Auseinandersetzung mittrugen, Geheimnisse bewahrten und die Geschäfte weiter betrieben.

Einer der Statthalter der ’Ndrangheta auf deutschem Boden war Bruno Nesci. Im Oktober 2011 wurde er in Italien zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Den kalabrischen Ermittlern zufolge, die ihn im Februar 2011 festgenommen hatten, fungierte er als Chef der Mafia-Zelle in Singen am Hohentwiel. Vier weitere Zellen wurden allein im Großraum Bodensee-Oberschwaben nachgewiesen. Ihren Sitz hatten sie in Ortschaften wie Radolfzell, Rielasingen, Ravensburg und Engen.

Die Präsenz der ’Ndrangheta dort wurde von den italienischen Beamten in Kooperation mit ihren deutschen Kollegen aufgedeckt. Auch diese Zellen sind dem Mutterhaus in Kalabrien unterstellt. Sie arbeiten hier speziell eng mit den ’Ndrangheta-Vorposten in der Schweiz zusammen, wie sie etwa in Frauenfeld und Zürich ermittelt wurden. Koordiniert wird die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der ’Ndrangheta-Ableger von den Mafiosi in Singen. Die in der Schweiz residierenden Clan-Chefs kamen zu diesem Zweck regelmäßig über die Grenze nach Deutschland, wo sie an den sogenannten »Samstags-Treffen« in Radolfzell-Böhringen teilnahmen. Weitere von den Ermittlern nachgewiesene Treffen gab es in einer Gaststätte in Singen. Den italienischen Staatsanwälten zufolge sollen bei diesen Treffen legale und illegale Aktivitäten besprochen und neue Mitglieder den Aufnahmeriten unterzogen worden sein.

Es geht bei solchen Treffen um umsatzstarke Geschäfte in Deutschland und der Schweiz, getarnt als reguläre Investitionen. Die Mafiosi schleusen auf diese Weise blutbefleckte Drogenmillionen, Resultat der in Südamerika ihren Ursprung nehmenden Kokainströme, in die legale Wirtschaft von Ländern, die von Sitten und Gebräuchen, von Ethos und Folklore der ’Ndrangheta Lichtjahre weit entfernt scheinen. Der Handel mit dem »weißen Gold« macht die Clans seit Jahrzehnten immer reicher. Sie investieren Millionenbeträge vornehmlich in grundsolide, bleibende Werte und kaufen Grundstücke, Gewerbe- und Wohngebäude. Als der 1978 in Toronto geborene Salvatore Femia sich in Singen niederließ, folgte er ebenfalls diesem Prinzip. Seine generelle Rolle vor Ort beschrieb die Anti-Mafia-Behörde aus Reggio di Calabria so: »Femia ist Teil der Zelle in Singen. Für die Treffen der Organisation stellt er das Nebenzimmer der von ihm betriebenen Gaststätte Rikaro zur Verfügung und deklamiert die Ritualsprüche zu Beginn und am Schluss der Versammlungen.«

Gemeinsam mit seinem Bruder sollen Femia in Deutschland 13 Immobilien gehören. Aber das genügte ihm nicht. Er wollte mehr. In Singen traf er sich beispielsweise mit einer Frau, um über den Kauf eines ganzen Gebäudekomplexes mit Häusern, Wohnungen und einem Geschäftslokal zu verhandeln. Männer wie Femia sind Unternehmer, die mitten im Leben stehen und von denen einige längst den Aufstieg in die gehobene Gesellschaft Europas geschafft haben. Wer bei dem Wort ’Ndrangheta noch immer an Mafiosi mit Schrotflinte und Schiebermütze denkt, verkennt, dass die Mafien längst im 21. Jahrhundert angekommen sind. Bosse reisen völlig unbewaffnet umher, die Pistole haben sie durch Tablet-PCs ersetzt, den Totschläger durch Smartphones.

Die Clan-Chefs der modernen ’Ndrangheta sind in der Lage, archaische Riten mit zeitgemäßem Geschäftsgebaren zu verbinden. So kann es durchaus vorkommen, dass die Paten – wenn sie gerade millionenschwere Investitionen in Zukunftsbranchen erfolgreich abgeschlossen haben – sich mit ihren Gefolgsleuten in verschwiegene Hinterzimmer zurückziehen, die traditionellen Kleidungsstücke der Mafiosi-Folklore überstreifen und jahrhundertealte Riten und Eidesformeln mit Leben füllen.

»Die gemeinsam mit der deutschen Polizei durchgeführten Ermittlungen haben bestätigt, dass die Abläufe innerhalb eines ›’Ndrangheta-Ablegers‹ auch im Ausland genau denen zu Hause in Kalabrien entsprechen. Das betrifft sowohl die Führungsmechanismen als auch die Rituale.« Multinationalen Konzernen gleich, die versuchen, rund um den Erdball ein und dieselbe Unternehmensphilosophie, ein und dieselben Arbeitsabläufe beizubehalten, begehen die Clans in ihren örtlichen Niederlassungen die ’Ndrangheta-Bräuche exakt nach dem in Kalabrien gültigen Schema, und das auf der ganzen Welt, egal, wie weit das jeweilige »Tochterunternehmen« vom »Mutterkonzern« entfernt ist.

Regionale wie nationale Grenzen spielen für die kalabrische Mafia längst keine Rolle mehr. Ihre Aktivitäten lassen sich über Deutschland hinaus in Kanada, in Südamerika sowie in den USA nachweisen, aber auch in Holland, Spanien, Portugal und Russland. So erstaunt wenig, was im fernen Australien mit einem Mann namens Tony Vallelonga geschah. In jungen Jahren auf den fünften Kontinent emigriert, hatte er es bis zum Bürgermeister der Gemeinde Stirling bei Perth gebracht. 2011 wurden gegen ihn Ermittlungen eingeleitet wegen angeblicher Mitgliedschaft bei der ’Ndrangheta. Das Erstaunen war groß. Jemandem, der so ehrenhaft und unverdächtig schien, hätte man dies nie zugetraut. Jemandem, der bei seinen australischen Mitbürgern so beliebt war, dass sie ihn sogar für mehrere Wahlperioden zum Bürgermeister wählten.

Wenn man von der ’Ndrangheta und den anderen Mafien spricht, bleibt der Diskurs meist im Rahmen von solchen Äußerlichkeiten. Dazu gehört auch die generelle Unauffälligkeit der Organisation, die entscheidend zu ihrer Unterschätzung beiträgt, was ja schon fast ein Markenzeichen der kalabrischen Mafia darstellt. Sie hat es bisher verstanden, ihre kriminellen Aktivitäten stets hinter einer nahezu undurchdringlichen Mauer des Schweigens zu betreiben – und sich gleichzeitig im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte eine gutbürgerliche Oberfläche zuzulegen, indem ihre Exponenten gleich einem Schutzmantel eine Aura bourgeoiser Wohlanständigkeit pflegen, nicht unähnlich der Tarnkappe eines Alberich.

Doch über die Camouflage hinaus besteht der Dual-Use-Aspekt dieser Aura darin, eines der entscheidenden Mittel zur Generierung dessen zu sein, was die italienischen Ermittler das »soziale Kapital« der Clans nennen. Damit ist das sorgsam gehegte, dichte Netzwerk aus profitierender Mitwisserschaft und Korruptions-geschmierten Beziehungen gemeint, das es den Bossen erlaubt, bis ins gesellschaftliche Zentrum jener Städte und Gemeinden vorzudringen, in denen sie aktiv sind. Dieses »soziale Kapital« setzt sich aus örtlichen Politikern und Unternehmern, Wissenschaftlern und Finanzexperten, Medizinern und Juristen zusammen. Im Norden wie im Süden, in Italien wie im restlichen Europa, auf der Nord- wie auf der Südhalbkugel ist es den Mafiosi gelungen, in ihren Zielgemeinden »anzukommen«. Sie sind dort nicht länger Fremdkörper, sondern akzeptierter Teil der Gesellschaft. Für den Rest sorgt das viele Geld der Clans, das bekanntlich nicht stinkt. Damit kaufen sie alles, nicht nur Immobilien, sondern auch Menschen.