10.
DER EMILIA-SCHAUPLATZ
Er ist bereit, die auf dem Tisch liegenden Karten auszutauschen, um seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Ob sie weiß sind oder schmutzig-blutig, ist ihm dabei egal. Hauptsache, sein Einkommen wird gesteigert und alles ist steuerfrei. Denn trotz seines nicht geringen Einkommens als Bankdirektor ist Giovanni unzufrieden. Schöne Autos, festliche Abende, Kokain, Luxusrestaurants, Nobeldiscos. All das gefällt Giovanni sehr. Und um weiter mitspielen zu können, reicht das ehrlich verdiente Bankeinkommen einfach nicht aus. Sicher würde es weniger Stress bedeuten, sich einfach mit seinem Gehalt zufriedenzugeben, denkt er sich im Stillen. Aber was wäre das für ein armseliges Leben! Er weiß, dass es ihm weitaus besser geht als den zwielichtigen Gestalten, die ihn wegen Vergünstigungen, Hilfe, krummen Geschäften in der Bank aufsuchen. Schon einige Male sind Mafiosi, mit denen er zu tun hatte, wegen Geldwäsche verhaftet worden. Aber er selbst nicht. Er weiß, dass die Grauzone in der Lombardei selten juristisch unter Feuer genommen wird. Es ist alles eine Frage der Bilder, denkt er sich. Sie würden es niemals zulassen, dass der Mythos der Emilia-Romagna, der auf den Klischees von Gastfreundschaft und Solidarität beruht, unter dem Sturm skandalöser Enthüllungen ethischer Abgründe beschmutzt würde.
Giovanni ist von einer berauschenden Form des Zynismus befallen. Er betrachtet die berufsmäßige Zusammenarbeit von Unternehmern und Mafiosi als normale Spielart des wirtschaftlichen Wettbewerbs. Im Zeitalter des Turbokapitalismus, in dem auch der Konsum und die menschlichen Beziehungen ein aberwitziges Tempo angenommen haben, hält Giovanni diese Zusammenarbeit für den einzig gangbaren Weg, um nicht in diesem stinkenden Schlamm unterzugehen und sich nicht mit ethischen Überlegungen zu belasten.
Von seiner mafiösen Kundschaft hat er mitbekommen, dass er in deren Umfeld das verdienen kann, was es ihm ermöglicht, weiter mitzuspielen in jener Gesellschaftsschicht des schönen Scheins, in der er sich so wohl fühlt. Sicher hat er manchmal ein schlechtes Gewissen. Aber nur für kurze Momente. Wenn er etwa an die vielen Toten denkt, die die Mafia im Norden wie im Süden im Alltagsgeschäft produziert. Oder daran, dass eben wegen jener Mafiosi, mit denen er Geschäfte macht und Gunstbeweise austauscht, der Süden Italiens zum Armenhaus geworden ist. Ausgebeint, zerrissen, mit offenen Wunden. Ausgeblutet aufgrund eines furchtbaren menschlichen Aderlasses. Wenn Giovanni an all das denkt, tröstet er sich mit dem Spruch, dass man Ethik nicht essen kann. Diesen Spruch benutzt er als Putzlappen, mit dem er sein schwaches Sozialbewusstsein, sein schwaches Bürgergewissen ohne Ethik und Moral aufpolieren kann.
Giovanni empfängt wen auch immer in seiner Bank. Seine bevorzugten Kunden sind die Kalabresen aus der Ortschaft Isola di Capo Rizzuto bei Crotone. Die bringen wirklich Geld ins Haus. Er hat gerüchteweise davon gehört, dass sie Teil eines mächtigen Netzwerks sind. Angeblich gehören sie zum Umfeld des ’Ndrangheta-Clans Arena aus Isola di Capo Rizzuto und sind in Modena wirtschaftlich aktiv. Und zwar auf dem Gebiet der »Informatik«. Sie haben sehr viel Geld. Liquidität, die teilweise nicht mehr rational erklärbar ist und die Giovanni beiseite zu schaffen hilft. Er ist Direktor einer Bank. Und damit deren oberste finanzielle Entscheidungsinstanz. Das, was sich hinter dem mächtigen Geldstrudel verbirgt, der von einem Konto auf ein anderes transferiert wird, interessiert den Direktor nur wenig. Der aus einer alten Modeneser Familie stammende Giovanni ist jederzeit bereit, ein Auge zuzudrücken. Den Arena-Clan zu fördern ist ihm, der mit Tortellini und Lambrusco aufgezogen wurde, zur Leidenschaft geworden.
Verbindungsglied zwischen dem Clan und dem Direktor ist Paolo Pelaggi, welcher im Juli 2010 wegen Geldwäsche und Betrug festgenommen wurde. Die ermittelnden Staatsanwälte beschuldigen ihn, dem Arena-Clan zugearbeitet zu haben. Den Ermittlungsbeamten zufolge gehört er zum Humankapital des Clans. Über seine Firmen half er bei der Geldwäsche und organisierte ein »Umsatzsteuer-Karussell« (Umsatzsteuerbetrug). Paolo Pezzati, ein Schweizer Steuerberater, der im Zusammenhang mit derselben Operation verhaftet wurde, unterstützte ihn dabei. Pezzati wurde in New York aufgespürt, nach einer mehrtägigen Flucht. Im September 2011 wurde er zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, jedoch vom Vorwurf, den Arena-Clan unterstützt zu haben, freigesprochen.
Mit zahlreichen Maßnahmen war es den Beamten der Anti-Mafia-Behörde von Catanzaro im Laufe der jahrelangen Ermittlung gelungen, die Zusammensetzung des Arena-Clans aufzudecken. Zu ihrem Organigramm gehören die Brüder Gentile, Fiore und Francesco, sowie der Sohn des letzteren, Tommaso. Bis zu seiner Verhaftung 2006 war Francesco damit beauftragt, Geschäfte des Clans in Modena und in der Schweiz zu koordinieren. Ihm folgten Fiore und Tommaso nach als Aufseher der Millionengeschäfte in der Region der Motoren zwischen Fiorano und Maranello.
In der Emilia-Romagna führen die Brüder Pelaggi die Geschäfte des Clans. Davide, Emanuele und Paolo. Von ihnen erzählt der Kronzeuge Angelo Cortese: »Das Geschäft, das dieser Pelaggi in Maranello hat, ist riesig. Ein Wahnsinn, mit Büros und allem drum und dran. Sie sprachen von Milliarden. Da gab’s ’ne Bank, da gab’s alles. Er hat sich mit der ’Ndrangheta eingelassen, und das nicht zu knapp, alles getarnt natürlich.« Dem Kronzeugen zufolge wurden die Geschäftsleute aus Maranello von der ’Ndrangheta gedeckt und konnten auch vom Entgegenkommen der Banken profitieren. Eine perfekte Maschinerie, wie Cortese erklärt.
Als die erste Verhaftungswelle vorüber ist, erkennt Giovanni, dass er auch dieses Mal davongekommen ist. Er liest die Namen der Verhafteten, denen Geldwäsche und Betrug vorgeworfen wird. Zudem wird ihnen vorgeworfen, die ’Ndrangheta unterstützt zu haben. Giovanni lächelt. Die ’Ndrangheta, denkt er bei sich, ist eine schöne Erfindung. Er erschreckt nicht einmal, als er den Namen von Paolo Pelaggi unter den Verhafteten entdeckt. Giovanni kennt ihn gut. Sie sind sich bei verschiedenen Gelegenheiten begegnet. Er hat verschiedene Konten für ihn eröffnet. Er überlegt, sucht nach seinen Namen. Ach ja, Gentile. Fiore Gentile, erinnert sich Giovanni, während er mit dem Auto zur Arbeit fährt. Nie hat er wirklich Zeit für sich. Die wenigen Momente, in denen er die permanente Kommunikation mit der Außenwelt unterbricht, sammeln sich auf dem Weg zur Arbeit.
Wie viele Ratschläge habe ich Paolo gegeben, denkt er in dem kaum zu stoppenden Gedankenfluss. Etwas beunruhigt ihn. Er weiß, dass es zu den Aufgaben von Paolo Pelaggi gehörte, Francesco Gentile bei seinen Bankgeschäften im Raum Modena zu unterstützen. Dafür diente er Fiore Gentile als Strohmann für einige Geschäftskonten. Giovanni war es überlassen, für den Rest zu sorgen. Um die entsprechenden Beträge zu sichern und um zu vermeiden, dass diese Transaktionen irgendwelchen Verdacht erregten, schob er das Geld von einem Konto aufs nächste. Er spielte also eine wichtige Rolle, die den Polizisten und Staatsanwälten eigentlich nicht verborgen bleiben konnte. Doch auch in den neuesten Haftbefehlen gegen Mafia-Mitglieder aus Modena taucht sein Name nicht auf.
Giovanni ist zufrieden. Er hat nie an das Märchen von der bösen Mafia und dem guten Rest der Menschheit geglaubt. Für ihn sind die Arenas eine unternehmerisch tätige Familie. Sie investieren, sie bringen Geld in Umlauf. Und was bist du selbst, denkt Giovanni, wenn nicht gut dafür, den Geldkreislauf in Schwung zu halten? In der Vorstellungswelt von Giovanni gewinnt der, der es am schlauesten anstellt. Also derjenige, der es schafft, am meisten Geld zu bewegen, und der finanzielle Abenteuer nicht scheut, sondern die Risiken, die permanent hoch sind, wie ein richtiger Mann wegstecken kann. Und er ist ein Mann, der es versteht, solche Risiken einzugehen.
Er ist ein Ehrenmann, geboren, um Reichtum und Macht in kürzestmöglicher Zeit zu erlangen. Für Fragen nach der moralischen Einordnung der Mittel, die hierzu nötig wären, ist keine Zeit. Jedes Mittel ist erlaubt. Auch, mit der ’Ndrangheta zusammenzuarbeiten. Vor allem mit der ’Ndrangheta, die selbst jedes verbotene Mittel benutzt, um die gesellschaftlich akzeptierten Ziele zu erreichen. Diese anzustreben, steht natürlich jedem offen, aber für die meisten bleiben sie unerreichbar. ’Ndrangheta, Camorra und Cosa Nostra stellen das Know-how zur Verfügung, um denjenigen zu helfen, die Ziele anstreben, ohne jedoch vom Weg abzukommen.
Der Arena-Clan erfreut sich eines märchenhaften Reichtums. Er investiert, organisiert Geldwäsche und übt Macht aus. Von Isola di Capo Rizzuto aus kontrolliert er das gesamte Territorium von Kalabrien bis in die Lombardei und die Emilia-Romagna. Dazu dienen ihm auch Erpressungen, wobei er sorgsam darauf bedacht ist, den ewigen Konkurrenten und Mafia-Kumpels, dem Nicoscia-Clan, nicht in die Quere zu kommen. Den größten Ertrag werfen die Touristenwohnanlagen ab. Die Küste rund um Crotone gehört zu den schönsten des gesamten Mittelmeers. Nach vielen Jahren der sommerlichen Leere, als alle hier Geborenen vor der Sommerhitze in die Berge flüchteten, wenn sie es sich leisten konnten, hielt der Massentourismus Einzug. Und die ’Ndrangheta sorgte für einen freundlichen Empfang. Hotels, Apartmentkomplexe, Tourismusanlagen gehören zum Anlagevermögen der beiden Clans, welches nach außen durch Strohmänner abgesichert ist.
1975 gab es die ersten Verurteilungen, weil Wachleute im örtlichen Valtour-Feriendorf sich als Mafiosi herausstellten. Im Urteil hieß es, dass sich die Männer des Clans als Wachpersonal anstellen ließen und mit Gewalt für Ruhe und Ordnung im Dorf sorgten. Als es in der Ferienanlage zu einem Diebstahl kam – ein schweres Vergehen aus Sicht derjenigen, die für den »Schutz« der Anlage zuständig sind –, wurde der Verdächtige zu Tode getreten. Wo die Mafia die Wachleute stellt, wird seitdem nichts mehr gestohlen. Auch Direktoren eines berühmten Reisekonzerns beugen sich den Wünschen der Mafia, um »arbeiten« und in aller Ruhe kassieren zu können.
Aber es geht nicht nur um traditionelle Geschäfte, legale wie illegale. Der Arena-Clan hat massiv in den Bereich der erneuerbaren Energien investiert. Die Zukunft des Clans speist sich zu einem gewissen Teil aus Windenergie, in die die Clan-Seite zusammen mit Unternehmen aus Deutschland und San Marino Investitionen tätigte. Die jüngere Vergangenheit von Isola di Capo Rizzuto war durch blutige Anschläge gekennzeichnet, die sich der kollektiven Erinnerung seiner Bürger eingeprägten. 2004 begann der Krieg. »Blut fordert weiteres Blut«, Rachefeldzug folgte auf Rachefeldzug. Die Fehde zwischen den Familien Arena und Nicoscia sorgte für viele Tote auf den Straßen von Isola. Kriegsgerät wie Panzerfäuste und Maschinengewehre kam zum Einsatz.
An den Seiten der beiden Clans aus Isola fanden sich zwei weitere mächtige Clans ein, die Dragones und die Grande Aracres aus Cutro (bei Crotone). Der Dragone-Clan, angeführt von »Toto« Dragone, unterstützte die Familie Arena. Daraufhin schlug sich der der Grande-Aracri-Clan, angeführt von Nicolino »Manuzzo« Grande Aracri, auf die Seite der Familie Nicoscia. Während die Spannungen zwischen Cutro und Isola Capo Rizzuto stiegen, festigten sich die strategischen Bündnisse. Jede dieser Familien betreibt Geschäfte im Raum Crotone, aber auch in der Emilia-Romagna. In Reggio Emilia, Modena, Parma und Piacenza sowie in der Lombardei, wo die Clans der Nicoscias und der Arenas die führenden Positionen innerhalb der örtlichen ’Ndrangheta-Ableger einnehmen.
Die Nicoscias sicherten sich gemeinsam mit dem Paparo-Clan aus Isola di Capo Rizzuto einen Großteil der Bauaufträge für das neue italienische Hochgeschwindigkeits-Schienennetz. Die Geschäftsinteressen der Clans aus dem Gebiet von Crotone haben die Grenzen des Heimatgebiets längst überschritten. Die engmaschige Präsenz im Norden hat die Clans in die Lage versetzt, kongeniale Geschäfte miteinander zu tätigen und so mit ihrem System der ausgehebelten Konkurrenz, der heimlichen Absprachen und Kartelle die ehrlichen Unternehmen in den Ruin zu treiben.
Bis 2004 führte Carmine Arena den gleichnamigen ’Ndrangheta-Clan. Im Oktober 2011 wurde er bei einem Attentat getötet, bei dem Panzerfäuste und Maschinengewehre eingesetzt wurden. Isola unterschied sich nur noch wenig von Kabul, Kalabrien nur noch wenig von Afghanistan. Bei diesem Anschlag nach Guerilla-Art wurde auch Giuseppe Arena verletzt, der Cousin und Statthalter von Carmine. Giuseppe war 2006 verhaftet worden, zusammen mit Francesco Gentile, einem weiteren Cousin des Bosses, dem die Aufsicht über die Geschäfte des Clans in der Emilia-Romagna anvertraut worden war, zwischenzeitlich aber wieder freigekommen. Nach der Verhaftung von Giuseppe Arena rückte Fabrizio Arena, Sohn des Oberbosses Carmine, auf die Chefposition auf.
Die Abfolge der Mafia-Massaker ist erschreckend: Nach dem tödlichen Anschlag auf Carmine Arena entkommt einen Monat später Salvatore Arena, ein weiteres Mitglied der Arena-Familie, auf wundersame Weise dem Kugelhagel seiner Feinde. Wieder einen Monat später sind die Nicoscias dran. Pasquale Nicoscia, Cousin des gleichnamigen Oberbosses Pasquale »Macchietta« Nicoscia. Es ist kein Zufall, dass Pasquale direkt vor seiner Haustür erschossen wird. Die Schande, von einem Mord direkt vor dem eigenen Wohnhaus getroffen worden zu sein, wird getilgt und mit gleicher Münze heimgezahlt. Kodex und Liturgie der ’Ndrangheta-Symbolik, die man streng beachten muss, wenn man die Fakten, Exekutionen und Vorgehensweisen der Clans richtig deuten will. Archaik gemixt mit Modernität. Es ist eines der wiederkehrenden Geheimnisse der ’Ndrangheta, dass sie niemals von ihren Traditionen und ihren Gepflogenheiten krimineller Qualität abweicht.
Wie oft ist zu lesen, dass eine Gesellschaft dann zum Untergang verurteilt ist, wenn sie nicht in der Lage ist, die in der Neuzeit eroberten Besitztümer mit den in die Vergangenheit ragenden Wurzeln zu verbinden, welche die Eroberungen ermöglichten. Die ’Ndrangheta-Familien beachten dieses Prinzip, das man als ununterbrochenen Austausch zwischen Vergangenheit und Zukunft definieren könnte, sehr genau. Sie tun dies nicht, um einen positiven Beitrag zur Gesellschaft beizusteuern, sondern weil sie ihre Profite steigern und ihre Macht weiter ausbauen wollen. Eine obsessive Sucht, die vor nichts halt macht, nicht einmal vor dem menschlichen Leben. Die ältere Generation gibt die jahrhundertealten Prinzipien an die jüngere Generation weiter. Die jungen ’Ndrangheta-Kriminellen, von denen viele mittlerweile als »Unternehmer«, Ärzte und Rechtsanwälte arbeiten, passen diese dann der Gegenwart an. Während der Jahre, in denen die Clans Panik auf den Straßen von Isola di Capo Rizzuto verbreiteten, haben sie im Norden erfolgreich Geldwäsche betrieben und ihre Profite kontinuierlich gesteigert.
Für die Mafien kennt das Geschäft keine Atempause, nicht einmal in Zeiten des Krieges. Die den Clans zugeordneten Firmen aus den Bereichen Bauwirtschaft, Transport und Informatik setzten in Modena, Reggio Emilia und in Mailand ihre Geschäfte fort, dienten der Mafia weiterhin zur Geldwäsche und kümmerten sich um die verteilten Subaufträge. 2006 war dann von Isola di Capo Rizzuto bis in die Emilia-Romagna hinein eine Rückkehr zu alten Gepflogenheiten festzustellen. Die beiden verfeindeten Clans der Arenas und der Grande Aracris nahmen Verhandlungen auf, um die Streitigkeiten beizulegen und den Frieden in ihren Herrschaftsgebieten wieder einkehren zu lassen. Denn seit 1999 hatten Cutro und Isola di Capo Rizzuto Schlachtfeldern eines blutigen Krieges geglichen, der die Geschäftstätigkeit und die Profite der beiden Clans in zunehmenden Maße beschränkte. Aus diesem Grund beschlossen die Mafia-Clans aus dem Gebiet von Crotone, der blutigen Fehde ein Ende zu setzen und sich hier, wie auch in der Emilia-Romagna, wieder auf die Geschäfte zu konzentrieren. Das und vieles mehr ging aus den Untersuchungen im Rahmen der Operation »Pandora« im November 2009 hervor.
Einer, der die sich am aktivsten um den Beginn eines Waffenstillstands kümmerte, war Michele Pugliese, angeheirateter Neffe des verstorbenen Clan-Chefs Pasquale Nicoscia und über verwandtschaftliche Beziehungen auch mit dem Arena-Clan verbunden. Pugliese wurde im Juli 2011 wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung zu zehn Jahren Haft und zur Beschlagnahmung seiner Besitztümer verurteilt. Er ist der Sohn von Franco Pugliese, der auf einem Foto im L’espresso mit dem Ex-Senator di Girolamo zu sehen war, der – so die Ankläger – mit von der ’Ndrangheta organisierten Stimmen gewählt worden war. Di Girolamo ist Anwalt und enger Mitarbeiter von Gennaro Mokbel, der zur rechtsradikalen Szene Roms und zu den Exponenten der berüchtigten Magliana-Bande zählt. Mokbel ist den Ermittlern zufolge das Hirn hinter dem Mega-Betrug und der Geldwäsche mit den Firmen Fastweb und Telecom Sparkle.
Pugliese Junior und Senior leben seit einiger Zeit in Norditalien. Der Sohn hat seinen Wohnsitz in Gualtieri di Reggio Emilia, der Vater lebt in der Provinz Modena, die an das Gebiet von Reggio Emilia angrenzt. Die Schwester von Michele Pugliese ist die Verlobte von Fabrizio Arena. Seine Familie gehört zu den erklärten Feinden des Nicoscia-Clans. Im März 2006 planten die Killer der Nicoscias einen weiteren Anschlag. Mit einer Panzerfaust sollte das Auto von Tommaso Gentile in die Luft gesprengt werden. Durch das Zielfernrohr erkannten die Attentäter, dass im Auto auch der Schwager von Pugliese saß, und brachen daher das Attentat ab. Pugliese war bekanntlich der Beauftragte, der zwischen den beiden verfeindeten Clans vermitteln sollte, da er zu beiden verwandtschaftliche Beziehungen hatte.
Den Anführern der Clans aus Isola di Capo Rizzuto war bewusst, dass sie die ehernen Verhaltensnormen der Mafia seit langem verletzt hatten, und sie baten demütig darum, sich wieder dem »Heiligen Buch des Verbrechens, wie es in Reggio di Calabria der Brauch ist«, unterstellen zu dürfen. Ein Ausdruck, den Michele Pugliese benutzte. Beide Clans waren seit 1999 in ein mit wütender Entschlossenheit geführtes Ringen verwickelt, das von jener scheinbar unaufhörlichen Serie gegenseitiger Mordanschläge geprägt worden war.
In den Verhandlungen gelingt es, den Frieden wieder herzustellen. Das beiden Clans unterstehende Territorium im Süden und im Norden Italiens wird zu gleichen Teilen aufgeteilt. Ein Angehöriger des Arena-Clans, der damit beauftragt ist, mit Pugliese zu verhandeln, betont während der Friedensgespräche, wie notwendig es sei, »zum alten Brauch« zurückzukehren, »fünfzig für uns und fünfzig für euch«. Die Verhandlungen finden ihren Widerhall auch im Norden, wo die gemeinsamen Geschäfte ohne Unterbrechung fortgeführt und nicht einmal während der bittersten Momente der Fehde, die sich im Raum Cutro-Isola di Capo Rizzuto abgespielt hatte, ausgesetzt worden waren. Damit bestätigt sich, dass Reggio Emilia, wie Kronzeuge Angelo Cortese berichtete, »das wirtschaftliche Epizentrum der Clans aus dem Gebiet von Crotone« ist.
Bis zu seiner Verhaftung 2009 war Michele Pugliese auch selbst als »Unternehmer« tätig. Zu diesem Zeitpunkt führte er über Strohmänner die Firma Emiliana Inerti mit Sitz in Gualtieri di Reggio Emilia, die Autotransportfirma Nuova Inerti mit Sitz in Kalabrien und Ablegern in der Emilia-Romagna sowie die Baufirma Il Muretto mit Sitz in Trento (Südtirol). Seine Autotransportfirma, so stand es im Beschlagnahmungsdekret zu lesen, machte 2007 einen Umsatz von über zwei Millionen Euro. Seine Unternehmen Nuova Inerti und Emiliana Inerti symbolisieren die wirtschaftliche Seite des Nicoscia-Clans. Bei der Nuova Inerti handelt es sich um eine florierende Firma. Sogar nach der Beschlagnahmung durch die Behörden lief das Geschäft weiter. Wie mir ein anonymer Informant mitteilte, wird die Firma innerhalb der Werkshallen eines anderen großen Autotransportunternehmens mit Sitz in Gualtieri di Reggio Emilia heimlich weiterbetrieben. Seine wirtschaftlichen Aktivitäten betrieb Pugliese mit Hilfe des Strohmanns Federico Periti aus Crotone (Kalabrien).
Neben den unternehmerischen Aktivitäten in der Emilia-Romagna, die von dem Strohmann offiziell geleitet wurden, schöpfte der Nicoscia-Clan einen weiteren Teil seiner Profite aus der Erpressung einiger aus Kalabrien stammender Unternehmer und Einzelhändler, die seit Jahren in Reggio Emilia ansässig waren. Michele Pugliese soll sogar persönlich die Schutzgelder für den Oberboss Salvatore Nicoscia in Reggio Emilia eingetrieben haben. Auf die überhöhten Erpressungssummen ließen sich die Unternehmer mit ihren florierenden, profitablen Firmen ein, weil sie wussten, dass das kleinste Zeichen von Auflehnung Strafaktionen des Paten nach sich ziehen würde. Schließlich war Michele Pugliese der direkte Abgesandte des Oberbosses des Nicoscia-Clans, Salvatore Nicoscia, der gemeinsam mit Pugliese zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde und der Bruder des Regionalbosses Pasquale Nicoscia ist.
Ihre Kontakte untereinander beleuchten das System der Profitteilung und die Verbrechensstruktur, wie sie sowohl in der Emilia-Romagna als auch in Isola di Capo Rizzuto aktiv war. Salvatore Nicoscia bediente sich auch seines Neffen Antonio, um Schutzgelder von Unternehmern im Raum Reggio Emilia einzutreiben. Der Mechanismus ist denkbar einfach. Pugliese machte mit anderen Clan-Angehörigen bei den Unternehmern die Runde. Antonio Nicoscia oder Pasquale Manfredi kamen dann im Auftrag des Oberbosses Salvatore Nicoscia vorbei, um die entsprechenden Beträge abzukassieren. Anschließend wurde das eingenommene Geld unter den einzelnen Familien des Clans aufgeteilt.
Immer wenn die Mafiosi in der Emilia-Romagna auf Inkasso unterwegs waren, wurden die Unternehmer am Vormittag aufgefordert, die »Päckchen« bis zum Abend bereitzustellen. Dies ging aus einer abgehörten Unterhaltung hervor. Auf einer ihrer Inkasso-Reisen sagte Manfredi zu Pugliese, dass er sich wegen der Rückfahrt nach Isola di Capo Rizzuto Sorgen mache und dass er aus diesem Grund die 30.000 Euro, die ihm Pugliese mitgeben wollte, nicht mitnehmen könne. Zudem sei sein Auto schon randvoll mit Kohle gepackt. Das Geld stammte vermutlich aus dem Kokainhandel, den die Gebrüder Capicchiano bis zu ihrer Verhaftung 2008 im Auftrag der ’Ndrangheta in Reggio Emilia betrieben.
Teilweise fuhr Pugliese selbst die Gelder nach Kalabrien zurück, manchmal kam sogar der Oberboss Salvatore Nicoscia auf einen Sprung nach Norditalien. Es ging dabei um hohe Summen. Und keiner der Unternehmer brachte den Mut auf, die Mafiosi anzuzeigen. Einer von ihnen – ihm gehören mehrere bekannte Baubetriebe in der Region – bezahlte allein 5.000 Euro pro Monat an Salvatore Grande Aracri. Betriebe mit einem riesigen Umsatz, die den Mafiosi aus Cutro und Isola di Capo Rizzuto das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Eine der alarmierendsten Feststellungen, die sich aus den Untersuchungsberichten ergab, war, wie schnell die Unternehmer den Schutzgeldforderungen nachkamen. Ein im Süden geborener Unternehmer musste natürlich an die Verwandtschaft im Süden denken, die im Zweifelsfall von den Mafiosi bedroht worden wäre. Also bezahlt er die Mafiosi aus Isola di Capo Rizzuto.
Ohne eine einzige Drohungen auszusprechen, bekamen die Clans von den Unternehmern im Norden, was sie wollten. Im Gegenzug versprachen sie ihnen Vorteile bei der Auftragsvergabe im heimischen Crotone. Die Unternehmer zahlten und stellten den Clans zusätzlich vorteilhafte Rechnungen zur Geldwäsche aus. Die Bosse prahlten damit in den abgehörten Gesprächen. Es ging dabei nicht um Kleingeld. Um ihre Ruhe zu haben und ihren einträglichen Geschäften weiter nachgehen zu können, wurden die Unternehmer so – ob bewusst oder unbewusst – zu den Finanziers von zwei der barbarischsten Mafia-Clans in Kalabrien. Regelmäßig werden den Clans die entsprechenden Summen überlassen, ohne dass jemals die Justizbehörden eingeschaltet werden. Die Unternehmer sind nicht nur Opfer der Mafia, sondern zugleich ihre Komplizen, so wie im Fall der fingierten Rechnungen, denen überhaupt keine reale Gegenleistung entspricht.
Der erste Oberboss, der sich in Reggio Emilia niederließ, war Antonio Dragone. Er war 1981 zur Verbannung nach Oberitalien verurteilt worden. Dies geschah im Rahmen jener verhängnisvollen Justizstrategie, die die Bosse von ihren Familien trennen sollte, aber damit nur erreichte, dass die Mafia im reichen Norden Fuß fassen konnte. Dort angekommen, fand sie ein äußerst fruchtbares Terrain für ihre Aktivitäten vor. Der Clan-Chef Nicolino »Manuzza« Grande Aracri wählte dagegen Brescello als Zweitsitz. Hier siedelten sich auch zwei seiner Schwestern und mehrere Neffen an, darunter Salvatore und Nicolinos Bruder Francesco, der im März 2012 das Gefängnis verlassen konnte, in dem er seit 2008 eingesessen hatte, weil seine Strafe verbüßt war.
Ende der neunziger Jahre zerbrach die Allianz zwischen dem Clan der Grande Aracris und dem der Dragones, und mündete in einen blutigen Krieg, der Cutro und das restliche Kalabrien in Angst und Schrecken versetzte. Dies hatte indirekt auch Auswirkungen auf das Gleichgewicht der Kräfte in Reggio Emilia, wo beide Clans aktiv waren. Daher suchten sie neue Verbündete unter den ’Ndrangheta-Familien von Isola di Capo Rizzuto. Die Grande Aracris fanden bei der Familie Nicoscia Unterstützung und die Dragones bei der Familie Arena. Während man im Süden aufeinander schoss und Mitglieder feindlicher Clans auf der Straße ermordete, setzte man im Norden auf Zusammenarbeit. Doch ab 1991 fielen auch dort die ersten Schüsse. Die Mordserie begann mit einem Anschlag auf Nicola Vasapollo, der in Reggio Emilia unter Hausarrest stand.
Die Familie Vasapollo hatte sich vom Dragone-Clan losgesagt und Killer wie den berüchtigten Paolo Bellini aus der Emilia-Romagna engagiert. Während einer gemeinsamen Zeit im Gefängnis hatte Bellini die Bekanntschaft von Nicola Vasapollo gemacht. Vasapollo bat ihn, San Giovanni, also Pate eines Kindes von Verwandten zu werden. 1992 wurden zwei Maurer aus Cutro erschossen, die in Reggio Emilia arbeiteten. Für den Doppelmord wurden Angehörige des Dragone-Clans aus Cutro verurteilt. Dann zogen die Jahre 1998 und 1999 herauf, an die man sich in Reggio Emilia als »Phase des Blutvergießens« erinnert. Am 8. Dezember 1998 wurde der junge Giuseppe Abramo, der zum Umfeld des Dragone-Clans gerechnet wurde, erschossen. Das Café Pendolino in Reggio Emilia wurde Ziel eines Bombenanschlags, bei dem es zehn Verwundete gab. Das Café war bekannt als »Treffpunkt der Kalabresen«. Ziel des Anschlags war der Mörder von Nicola Vasapollo. Sie verfehlten ihn jedoch. Den Ermittlern gelang es in der Folge, die blutigen Ereignisse zu rekonstruieren, die zwischen 1991 und 1998 für so viele Mordopfer auf den Straßen von Reggio Emilia gesorgt hatten. Dabei handelte es sich nicht einmal um eine echte Fehde zwischen zwei Clans, sondern um Auseinandersetzungen innerhalb eines einzigen Clans, dem der Dragone.
Nach den Jahren der blutigen Kämpfe, die die öffentliche Aufmerksamkeit nachhaltig auf sich gezogen hatten, entschied sich die ’Ndrangheta, wieder zum geräuschlosen Betrieb ihrer »normalen« Geschäfte im Wirtschaftsleben des oberitalienischen Reggio Emilia zurückzukehren. Zwischen den Clans aus der Region Crotone kehrte daraufhin wieder Ruhe ein. Fast schien es, als hätten sie aufgehört zu existieren. Wenn da nicht die gegenseitigen »Warnungen« in Form von brennenden Lastwagen und geklauten Kränen gewesen wären. Vorkommnisse, die selbst den Lokalzeitungen nur wenige Zeilen wert waren. Die ’Ndrangheta, so die Überzeugung vieler, existiert nur, solange sie blutige Anschläge verübt und um sich schießt. Aber solange sie »nur« Geschäfte wie Schutzgelderpressung oder Korruption betreibt, sich Teile des Marktes mit illegalen Mitteln sichert, Material und Aufträge verschiebt, Geldwäsche betreibt und das betroffene Territorium ausbeutet – solange sie also nicht dramatische Schlagzeilen und Polizeieinsätze produziert, sondern nur »alltägliche« Dinge verrichtet –, wird sie nicht mehr als Gefahr wahrgenommen. Dieser Irrglaube ist im ganzen Land verbreitet.
Die bürgerlichen Normen werden dabei zumindest äußerlich respektiert. Gegen diese billige Bauernfängerei wehrt sich der kritische Teil der Zivilgesellschaft immer wieder. Zwar steigt nach jedem Massaker die Empörung, und ein allumfassender Kampf gegen die Mafia wird proklamiert. Aber sobald die Scheinwerfer wieder aus sind, bleiben die verantwortungsbewussten Bürger alleingelassen zurück, ebenso die Staatsanwaltschaften und die Ermittlungsgruppen der Polizei. Die Politik taucht wieder ab ins Alltagsgeschäft. Vielleicht kündigt sie noch einen vom Impuls der Situation bestimmten Verwaltungsakt an, aber praktisch geschieht danach so wenig wie vorher. Konkrete Maßnahmen zum Kampf gegen die Mafia bleiben regelmäßig aus. Bis heute hat es keine der wechselnden Regionalregierungen vermocht, in der Emilia-Romagna ein operatives Außenbüro der zuständigen Anti-Mafia-Behörde zu etablieren. Gerade in dieser Region, in der die Mafia immer skrupelloser die Wirtschaft unterwandert, wäre eine solche Außenstelle dringend nötig. Erst nach einem Artikel in der Gazzetta di Modena, der auf diesen Umstand hinwies, hat ein Parlamentsabgeordneter der Demokratischen Partei aus Modena eine diesbezügliche parlamentarische Anfrage bei Innenminister Maroni eingereicht. Jedoch ist ein solches Büro auch im Jahr 2012 noch nicht eingerichtet worden.
In ihrer bislang letzten Publikation von 2010 hat die nationale Anti-Mafia-Behörde beklagt, dass die ’Ndrangheta und andere Mafien in der Lage sind, auf ebenso konstante wie alarmierende Weise auf die Wirtschaft der Emilia-Romagna Druck auszuüben. Für einige Zeit schien es jedoch, als habe sich die ’Ndrangheta aus der Region zurückgezogen. Doch sie war nur aus den politischen Reden verschwunden. Die Gegend verlassen hatte sie nicht. Die Polizei weiß es jedenfalls besser. In mehreren großen Kampagnen versuchte sie in den letzten zwölf Jahren, der Mafia mit den folgenden Einsätzen beizukommen: der Operation »Scacco Matto« (dt.: Schachmatt, 2000), der Operation »Edilpiovra« (dt.: Bau-Mafia, 2003), der Operation »Grande Drago« (dt.: Großer Drache, 2005) und der Operation »Pandora« (2006), die aber erst 2009 abgeschlossen wurde. Im Anschluss an die Operation »Pandora« fiel der Vorhang für die ’Ndrangheta in der Region im Reggio Emilia. Bis zum nächsten spektakulären Anschlag, der dann wieder für momentane Empörung sorgen wird. Die Politik wird sich entsprechend zu Wort melden. Mit Phrasen, die zumeist dem nächsten Wahlkampf geschuldet sind.