17.
DIE ’NDRANGHETA-DISCOTHEK HOLLYWOOD IN MAILAND
»Ach Gianni, das war so irre, ich bin damals mit meinem Cousin ins Hollywood rein. Umsonst! Wir sind einfach an der Schlange und den Türstehern vorbei, Mann. Als sie ihn gesehen haben, gingen alle Türen auf. Klar hab ich mich ein bisschen gewundert. Dann hab ich mir gedacht: Er ist da bekannt. Einige Monate später hab ich’s in der Zeitung gelesen. Sie hatten ihn mit wer weiß wie viel Kilo Koks geschnappt. Meinen Cousin. Ehrenwort.«
Dieses naive Geständnis habe ich mir vor drei Jahren am kochendheißen Sandstrand von Bovalino (Kalabrien) anhören müssen, als ich meine Muskeln entspannte und meine Knochen aufwärmte, müde der monatelangen Feuchtigkeit der Po-Ebene. Mein Heimatort, zerrissen von den gesellschaftlichen Widersprüchen und den Regeln der »Ehrenmänner«, aber trotz allem meine Wiege. Das Ionische Meer schaukelt mich sanft und salzig, und wie jeden Sommer strömen Farben und Gerüche meiner Kindheit wieder auf mich ein. Ich frische dort die schmerzhaften Erinnerungen auf und tauche nach Regenbogensteinen. Immer wenn ich dort bin, lässt meine Wut ein bisschen nach, die Wut, die ich auf diese Gegend rings um Locri und Bovalino habe. Wegen ihrer passiven, schuldbewussten Unbeweglichkeit. »Ich hasse alle, die nicht Partei ergreifen«, lehrt uns Antonio Gramsci mit Blick auf die Justiz in allen ihren Spielarten. An diesem Meeresufer kann ich mich für einige Momente entspannen, nach einem weiteren anstrengenden Jahr als schlechtbezahlter freier Mitarbeiter, nach all den Jahrzehnten der mafiösen Ungerechtigkeiten und der Protektionswirtschaft.
Dieses wirre, oberflächliche Geständnis eines Jungen aus dem Hinterland des Aspromonte gewährte mir einen Einblick, den die späteren Untersuchungen, die von der Anti-Mafia-Behörde Mailand durchgeführt wurden, bestätigten und bekräftigten. Es ist ein bekanntes Klischee, dass der Journalist niemals schläft, nicht mal im Schlaf. Ein Wortspiel, das aber auf perfekte Weise die Leidenschaft beschreibt, die ich für diesen großartigen und niederträchtigen Beruf hege.
Dieser Cousin, von dem mir der Junge am Strand von Bovalino erzählte, bei dessen Besuch sich die Türen von einem der berühmtesten Vergnügungstempel Mailands wie von Zauberhand öffneten, ist ein hohes Tier der Clans von Platì. Jener Clans, die aus ihrem Herrschaftsgebiet im Aspromonte einen Gutteil ihres Reichtums nach Norden in die Lombardei, in die Gegend zwischen Buccinasco und Corsico transferiert haben. Kokain, Erdbewegungen, Politik, Wachschutz für die Tempel der Unterhaltungskunst, das sind die Aktivitäten dieser Leute. Die Wirtschaftspolitik der Clans aus Platì besteht darin, ihren Verhandlungspartnern die Namen Barbaro, Sergi, Trimboli und Papalia ins Ohr zu flüstern. Schon regnet es Subaufträge und Vergünstigungen, die die Macht der Clans und ihres aktuellen Oberbosses Salvatore Barbaro vermehren. Eine Macht, die sich durch den Handel mit dem »weißen Gold« explosionsartig vergrößerte. Der den Clans immanente Konservatismus sorgt natürlich dafür, dass auch Profite in Milliardenhöhe werthaltig angelegt werden, nachdem sie der entsprechenden Geldwäsche unterzogen wurden. Die Macht der Clans ist nicht zuletzt aufgrund der Unterstützung höherer Gesellschaftsschichten im Zentrum des lombardischen Gemeinwesens angekommen. Die Mafiosi aus Platì sind mittlerweile schon fast sakrosankt geworden. Gegen sie wagt kaum jemand etwas zu sagen, nicht einmal dann, wenn sie hektoliterweise Giftmüll auf Baustellen entsorgen, auf denen Wohnhäuser errichtet werden. Buccinasco und Corsico stellen die jüngsten Eroberungen jenes Herrschaftssystems dar, das sich bis nach Australien erstreckt.
Die Anfänge lagen im Aspromonte, einem gottverlassenen, nahezu undurchdringlichen Waldgebiet in den Hügeln hinter Reggio di Calabria. Von Platì in die Discothek Hollywood ist es ein denkbar weiter Weg. Das Hollywood ist der Dreh- und Angelpunkt der modebewussten Mailänder Jugend, es ist die Discothek par excellence in Mailand. Schauspieler, ihre Agenten, Fußballer, Sternchen, Unternehmer, Finalisten der Sendung »Uomini e donne«, Jungs und Mädchen mit einem festen Vorsatz: mit der richtigen Person anzubandeln, um den Eintritt in die Welt des schönen Scheins zu schaffen. Aber selbst wenn sie es geschafft haben, hineinzukommen. In den VIP-Bereich kommen sie nicht. Dieser ist allein der Elite vorbehalten. Denn im Hollywood sind keineswegs alle gleich. Es gibt genau definierte Grenzen.
In den VIP-Bereich kommt man nur, wenn man bekannt ist. Kennt man die Türsteher, ist das schon mal eine gute Voraussetzung, um hineinzukommen. Die Türen öffnen sich auch für die Sprösslinge der Mafia-Bosse. Der Wachschutz für die Mailänder Clubs, die gerade angesagt sind, befindet sich fest in der Hand der Kalabresen. Das ist die Wahrheit. Und dabei habe ich keine Drogen genommen, wie mir der Gouverneur der Lombardei vorwarf, als ich Formigoni die Frage stellte, wie er sich die starke Präsenz der ’Ndrangheta im Nachtleben der Lombardei erkläre. Gesundheitswesen oder Discotheken, das macht keinen Unterschied. Das Ziel der führenden Politiker in der Lombardei ist es, das Phänomen herunterzuspielen und die unübersehbaren Fakten zu ignorieren.
Man kann es nicht ewig herunterspielen, rief der leitende Staatsanwalt der Anti-Mafia-Behörde von Mailand. Die übrigen Staatsanwälte der Behörde pflichteten ihm bei: Unter den Unternehmern der Lombardei gibt es eine Schweigepflicht. Die Lokalpolitik in der Lombardei, in Ligurien, in Piemont und in der Toskana bemüht sich jedoch redlich, das Phänomen in seiner ganzen Komplexität zu verstehen.
Auch im Hollywood stellen Männer der ’Ndrangheta den Wachschutz. Rausschmeißer aus Platí stellen die Wächter für die Herde der Verrückten, die berühmt werden wollen. Den VIPs wiederum ist alles erlaubt. Das Ziel der Rausschmeißer ist es nicht, die VIPs zu überwachen, sondern die Bienen, die rings um die Honigstöcke des Starsystems herumfliegen. Dass der Betrieb von Wachschutzfirmen zu den Unternehmenszielen der Mafia gehört, gibt Francesco »U Nanu« (dt.: Der Zwerg) Pesce, ein hoch rangiger Mafia-Boss, zu. Während eines Gesprächs, das vom Sondereinsatzkommando der Carabinieri aufgezeichnet wurde, erklärt er, dass die Türsteher vom Hollywood und andere Leute aus Platì ihm behilflich waren. Dabei ging es um eine Schlägerei in einem anderen Mailänder Lokal.
Dort, wo sich sonst Händler und Gewerbetreibende treffen, verbrachten Francesco Pesce und Andrea Fortugno den Abend. Ein Abend, der kein gutes Ende nehmen sollte, vor allem nicht für den Sprössling von Pesce. Einer seiner Leute hatte »aus Spaß« 380 Euro aus der Handtasche einer jungen Frau gestohlen. Das bemerkte jedoch der Freund der jungen Dame, ein hünenhafter Bodybuilder, der den Mafioso darauf ansprach. Anschließend verprügelte er ihn nach allen Regeln der Kunst, nahm ihm den Geldbeutel ab und gab seiner Freundin das gestohlene Geld wieder zurück. Das ist natürlich eine Beleidigung erheblichen Ausmaßes für »U Nanu«. Die Macht des Paten wurde nicht respektiert. Dabei würden natürlich echte Bosse keinesfalls auf eine so törichte Idee kommen, Taschendiebstahl zu begehen. Darüber ist sich Francesco völlig im Klaren. Aber die Sache geht natürlich längst über ein Bagatelldelikt hinaus. Es ist eine Frage der Ehre geworden. Eine Frage der Hierarchie. Eine Frage echten Mafiosotums.
Also beginnt eine fieberhafte Suche nach dem unbekannten, knapp zwei Meter großen Muskelprotz. Sie bedrohen den Inhaber des Lokals und zwingen ihn, eine Liste der an diesem Abend Anwesenden zusammenzustellen (sofern der Wirt sie namentlich kennt). Der Wirt gehorcht und wird dann auch noch gezwungen, den Mafiosi aus der eigenen Tasche vierhundert Euro zu bezahlen. Zwanzig Euro mehr als die ursprüngliche Summe, weil der Schläger von Francesco im Getümmel weitere zwanzig Euro verloren hatte. Währenddessen treffen zusätzliche Kalabresen im Lokal ein. Der Wirt erkennt sie an ihrem Dialekt. Pesce beschreibt es etwas genauer: »Rausschmeißer vom Hollywood und Leute aus Platì.« Wenn »U Nanu« ruft, kommt Platì angelaufen. Unter den Angehörigen der Mafia ist die gegenseitige Hilfe eine zentrale Verpflichtung. Gegenseitige Unterstützung stärkt den Zusammenhalt, stärkt die Organisation und festigt die Strukturen.
Der dickliche Francesco setzt alles daran, sich für die erlittene Schmach zu rächen, und zwar jetzt und hier, direkt vor dem Lokal. Er ist zutiefst beleidigt worden. Auch wenn einer seiner Schlägerjungs namens Fortugno eigentlich der Auslöser des ganzen Schlamassels war. Francesco Pesce, der Sprössling des berühmten Clans, leitet jetzt die Operation und entwirft den Schlachtplan. Er schaut sich nach einer Waffe um. Er verfügt über beste Verbindungen. Er ist ein Duzfreund von »Ciccio« (dt.: Dickerchen) Pesce. Sein Clan kontrolliert weite Teile des Mailänder Territoriums. Sie kontrollieren den Drogenhandel, organisieren Entführungen und lassen nicht einmal die Panino-Verkäufer vor den Discotheken in Ruhe, wenn diese keine Abgabe zahlen.
Alle entrichten ihren Obulus. Selbst die Brötchenverkäufer. Alle sind sie von der Gunst der Clans abhängig, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auch andere müssen sich den Forderungen des Pesce-Clans unterwerfen. Die kriminellen Beziehungen von »Ciccio« Pesce erlauben es ihm, in kurzer Zeit eine ganze Waffensammlung zur Verfügung zu haben. Er muss nur einmal kurz fragen. Und so macht er es auch, als er seinem Kumpel Francesco zuhilfe kommt und sich an der Jagd auf den Idioten beteiligt, der es wagte, einen Mafioso zu verprügeln und dadurch dessen Boss zu beleidigen. Die Waffe bekommt er von einem »Kollegen«. Aber für einen aus dem Pesce-Clan ist es nicht ratsam, mit einer Waffe in der Hand durch Mailand zu laufen. Wo soll ich sie verstecken, überlegt sich der junge Nachwuchs-Pate. Andrea muss mir das abnehmen. Das ist die Lösung.
Andrea ist ein Angestellter des Hollywood. Einer der vielen Türsteher, die auf der Gehaltsliste der ’Ndrangheta stehen. Er sorgt für die Sicherheit der Lokale. Für diesen Service wird er ordentlich bezahlt. Und wenn »Ciccio« Pesce einen Befehl erteilt, dann gehorcht er. Er versteckt die Waffe. Das alles spielt sich noch im Hollywood, in dem schicken, angesagten Club der koksenden Mailänder Jeunesse dorée ab. Für die Sicherheit der bezahlenden Mailänder Nachtlokale zu sorgen, gehört zu den ureigensten »Dienstleistungen« der ’Ndrangheta. Dieser Sektor untersteht dem Flachi-Clan. Der berühmteste Oberboss der Familie war Pepè Flachi.
Giuseppe, genannt Pepè, begann seine kriminelle Karriere als Straßenräuber und arbeitete dabei mit Renato, »dem schönen René«, Vallazasca zusammen. Doch Flachi entschließt sich bald, zu neuen Ufern aufzubrechen. Und sich beispielsweise dem weitaus lukrativeren Drogenhandel zuzuwenden. Im Sommer 1986 entsteht die Allianz mit Franco Coco Trovato. Gemeinsam schaffen sie eine einzigartige kriminelle Organisation, die ihren Einfluss bedeutend erweitert, über das Stadtgebiet von Mailand hinaus bis in die Vorstädte, nach Busto Arsizio, in die Brianza und bis in die angrenzenden Provinzen Como, Lecco und Varese hinein.
Entführungen, Wucher, Raub, Hehlerei, Drogenhandel und Waffenschiebereien. Die Aktivitäten des Flachi-Trovato-Clans sind sehr vielfältig. In der Phase ihrer uneingeschränkten Hegemonie gab es auch zahlreiche Morde an Angehörigen gegnerischer Gruppierungen, um die Kontrolle über die dortigen wirtschaftlichen Aktivitäten zu erringen. Franco Coco Trovato hatte seine Hochburg in Lecco, dem Wahlkreis von Roberto Castelli, dem ehemaligen Justizminister Italiens und einer der Führungspersönlichkeiten der rechtsgerichteten Lega Nord. Ein Kronzeuge, Giuseppe di Bella, hat von Verbindungen zwischen den beiden berichtet. Die ehemalige rechte Hand von Coco Trovato sagte aus, sie öfter zusammen gesehen zu haben. Außerdem habe Franco, der Boss, ihm befohlen, für Castelli zu stimmen. »Ein Gewinner-Pferd«, so hat ihn di Bella gegenüber den Journalisten Gianluigi Nuzzi und Claudio Antonelli bezeichnet, den Autoren des investigativen Buches Metastasen. Verbrechen und Intrigen, von denen di Bella ihnen gegenüber zum ersten Mal öffentlich erzählte.
Nach der Verhaftung von Coco Trovato war es an seinem Filius Emanuele, ihn zu ersetzen. Über dem Haupt von Coco Trovato senior schwebt das Verdikt der Sicherungsverwahrung. Giuseppe »Pepè« Flachi hingegen wird 2015 wieder ein freier Mann sein. So lange führt sein Sohn Davide die Geschäfte. Davide hat sich hierzu mit Paolo Martino verbunden, einem der Vertreter der postmodernen ’Ndrangheta. Seine Macht gründet auf der Kontrolle der Wirtschaft und der Finanzen. Des Weiteren festigt er sie durch seine guten Verbindungen zur Lokalpolitik. Indem er sie auf delikate Weise durchdringt, mit dem klassischen Mittel der Schmiergeldzahlungen.
Eine Waffe, die die legale Macht verführt. Sie dem Willen jener Mafiosi unterwirft, die dazu entsandt worden sind, mit den Institutionen zu »verhandeln«. Mafiosi, denen ein Ruch an Legalität anhaftet. Ein schnell verfliegendes Parfüm, das den Gestank und die Fäulnis überdecken soll, die die Mafia-Clans umgeben. ’Ndrangheta-Mitglieder in der Lombardei, die sich mit ausgemachten »Ehrenmännern« der Politik Kalabriens unterhalten.
Paolo Martino beispielsweise – das hielt das Sondereinsatzkommando fest, das ihn beschattete –, traf sich mehrfach mit Giuseppe Scopelliti, dem amtierenden Präsidenten der Region Kalabrien und Ex-Bürgermeister von Reggio di Calabria. Diese Begegnungen spielten sich nicht am Südende Italiens, sondern in der Lombardei ab. Über diese Treffen schrieb die Zeitung Calabria Ora, bevor die Redaktion vor die Tür gesetzt wurde: »Im Zentrum der Untersuchungen steht der schwindelerregende Handel mit Bauaufträgen, den einige Unternehmen aus Reggio di Calabria, die der Mafia nahestehen, in der Lombardei aufgezogen haben. Sie wurden dabei von Vermittlungsbemühungen hochrangiger Politiker aus dem Lager der Mitte-Rechts-Parteien unterstützt, die von ihren Kollegen in Kalabrien dazu animiert worden waren.«
Scopelliti wurde bisher in keinster Weise juristisch belangt. Aber dafür ausführlich in den Ermittlungsakten der Polizei genannt. Es ist nicht das erste Mal, dass Peppe Scopelliti, der von den Einwohnern Reggio di Calabrias nach wie vor sehr geschätzt wird, weil er ihnen ein Nachtleben im Stil Mailands schenkte, davonkommt. Von ihm ist auch in einem anderen Bericht der Polizei die Rede. Am 15. Oktober 2006 nahm er gemeinsam mit Mafiosi vom Range eines Cosimo Alvaro an der Hochzeit der Eltern von Mimmo Barbieri teil. Barbieri ist ein Unternehmer, der mit öffentlichen Bauaufträgen reich wurde und am 23. Juni 2010 wegen mafiöser Umtriebe verhaftet wurde.
Paolo Martino ist einer jener präsentablen Mafiosi, mit denen viele hochrangige Gesellschaftsmitglieder gern Umgang pflegen. Ein erfolgreicher Unternehmer, gut angezogen, freundlich, liebenswürdig, gut bekannt mit den Promis des Mailänder Nachtlebens, außerdem Verleger. Alles in allem stellt Paolo Martino also für jene, die wie viele andere Einwohner des Landes glauben, einen Mafioso auf den ersten Blick erkennen zu können, jedenfalls wenn er bis an die Zähne bewaffnet oder auf der Flucht ist und daher einfache bäuerliche Kleidung trägt, das passende Gegenbeispiel dar. Martino verkörpert einen fortgeschrittenen Evolutionstyp des klassischen Mafioso, wie sie die ’Ndrangheta mittlerweile hervorzubringen in der Lage ist. Eine soziologische Kategorie, die man als Analyseinstrument benutzen kann. Das Netzwerk von Martino ist deckungsgleich mit jenem der Lombardia, dem Führungsorgan der ’Ndrangheta in der Lombardei, welches die strategischen Entscheidungen der Organisation fällt, so weit sie die Lombardei angehen.
Der Valle-Clan ist Teil dieses Netzwerks. Seine Mitglieder gehören zu den treuesten Mitarbeitern Paolo Martinos. Francesco, Angela, Fortunato und Carmine Valle wurden im Juli 2010 verhaftet. Der Aktionsraum des Valle-Clans umfasste Cisliano, Bareggio und Mailand. Aber sie verschmähen auch die anderen lombardischen Provinzen nicht. Die Unternehmer und Kaufmänner dieser Gegenden lassen sie erzittern. Die ’Ndrangheta hält sich deren Zukunft als Geisel. Aber im Stillen, ohne öffentliches Aufsehen. Als Verbrecher-Profis. In den Augen der Öffentlichkeit erscheinen sie als Unternehmer. Mit guten Verbindungen in die Politik. Überstrahlt von der angeblichen Ehrenhaftigkeit, erpressen sie Schutzgeld und verleihen Geld zu Wucherzinsen.
Die Liste der Unternehmer, die sich an den Valle-Clan wenden, ist Legion. Denn für den Clan ist es – wie in der Branche bekannt ist – nach all den Jahren der Profitakkumulation kein Problem, ins Schlingern geratenen Firmen zu helfen. Liquidität ist nahezu unbegrenzt vorhanden. Chefs und Herdenmitglieder des Clans verfügen ohnehin über unzählige eigene Firmen. Mindestens 13 zählen die Ermittler, die auf den verschiedensten Gebieten aktiv sind. Von Immobilien über Spielhallen, von Finanzgesellschaften bis hin zu Restaurants. Einige lassen sich bis zu den Bossen zurückverfolgen, andere werden von Strohmännern in Form von Verwandten, Freunden oder Vertrauten geleitet. Die Mailänder Staatsanwälte bekamen einen Titel für eine präventive Beschlagnahme. Der Valle-Clan zählt mittlerweile zu den Unterstützern des De-Stefano-Clans aus Reggio di Calabria, einem sehr mächtigen Clan, der sowohl zu rechtsextremen Kreisen als auch zu den Freimaurern und kalabrischen Institutionen enge Verbindungen unterhält. Aber das ist nicht alles. Denn der Valle-Clan, seit Jahren in der Lombardei zu Hause, hat zusätzlich auch noch die Lokalpolitik der Po-Ebene unterwandert.
In Cernobbio, im romantischen Ambiente der Villa d’Este, heiratete Maria Valle ihren Gatten Francesco Lampada. Sie ist die Tochter von Fortunato Valle und wurde 1986 in Vigevano geboren. Ihr Vater endete im Juli 2011 wegen mafiöser Umtriebe hinter Gittern. Mit ihm der Großvater, Francesco Valle, ein Parteigänger des De-Stefano-Clans. Die Carabinieri aus Mailand schrieben 2008 in einem Bericht, das »Francesco Valle, genannt ›Don Ciccio‹, wohl der Chef des Valle-Clans ist«. Bei einer Hausdurchsuchung durch die Polizei von Pavia am 26. Januar 1984 wurden in der Villa Valle Bücher beschlagnahmt, die bei Aufnahmeritualen in die ’Ndrangheta Verwendung finden.
Während der Operation im Juli 2010 traf es auch Tochter Maria. Ihr wird vorgeworfen, mafiöse Geschäfte betrieben zu haben, und – indem sie als Strohfrau an der Spitze der Gestioni Immobiliar Marilena GmbH fungierte – »zur wirtschaftlichen Expansion der kriminellen Vereinigung beigetragen zu haben«. Ein gleichartiger Anklagevorwurf betraf ihren Ehemann Francesco Lampada, Jahrgang 1977, aus Reggio di Calabria. Er wurde beschuldigt, sich mit dem Valle-Clan und ihm nahestehenden Personen wirtschaftlich eingelassen zu haben. Lampada war zusammen mit seinem Bruder Giulio zwar nicht Gegenstand der Untersuchung vom Juli, wurde dafür aber von der Spezialabteilung der Polizei aus Reggio di Calabria als Finanzbeauftragter des Condello-Clans eingeordnet.
Im Juli 2006, vor und nach den Hochzeitsfeierlichkeiten für Maria und Francesco, denkt noch niemand daran. Die Polizei erfuhr sogar erst 2009 durch einen Kronzeugen, der an den Feierlichkeiten teilnahm, dass die beiden verheiratet sind. Es handelte sich dabei um Carlo Alberto Bertoni. Dieser sagte aus: »Die Trauung fand in der Kirche Sant’Angelo statt. Davor standen zwei oder drei Autos mit Chauffeur. Es waren ungefähr dreihundert Hochzeitsgäste.« Die Kirche in der Via Porta Nuova, mitten im Zentrum Mailands, liegt nur wenige hundert Meter vom Polizeipräsidium in der Via Fatebenefratelli und der Carabinieri-Kaserne entfernt. Der festliche Empfang fand in der Villa d’Este in Cernobbio statt.
Derselbe Zeuge sagte aus, dass er einige Tage zuvor Maria Valle dabei begleitet habe, als sie zusammen mit ihrer Tante Angela losging »um eine Anzahlung zu machen«. Das Hochzeitsbankett kostete alles in allem 60.000 Euro und wurde mit einem Scheck bezahlt, der ausgestellt war auf die Zemagi Service GmbH. Das Beratungsunternehmen ging 2010 in Konkurs. Zu den ersten Teilhabern gehörte Giulio Lampada, dessen Anteile schließlich auf den Vater übergingen. Giulio nimmt 2006 gemeinsam mit dem Stadtrat der Partei der Freiheiten, Armando Vagliati, an einem Fest zum Ende des Wahlkampfes der damaligen Bürgermeisterkandidatin Letizia Moratti teil. Zu eben jenem Lampada vermerkt die Polizeispezialeinheit aus Reggio di Calabria: »Typischer Krimineller, völlig im mafiösen Nährboden verwurzelt, mit Zielen und Aufgaben, die mit der Verwaltung des wirtschaftlichen Besitztums des Mafia-Kartells von Pasquale Condello zusammenhängen.«
Bei der Hochzeitsfeier am Ufer des Lago di Como nahmen auch Giovanni Barilla, Schwager von Pasquale Condello, und der Sohn des Oberbosses Domenico Francesco Condello teil. Am Bankett wurden auch weitere Personen aus den Führungskadern der ’Ndrangheta gesichtet: Paolo Martino, Verwandter des verstorbenen Clan-Chefs Paolino De Stefano und mutmaßlicher Mafia-Boss für die Domstadt. Bertoni berichtete, dass Martino, der zu ihm ins Auto steigen wollte, einen dunkelfarbigen BMW 5er bemerkte und auf den Wagen zuging. Darin saßen zwei Mitglieder des Papalia-Clans. Damals erfreuten sich die beiden Söhne von Antonio Papalia, Pasquale und Domenico, noch der Freiheit. Pasquale sitzt heute hinter Gittern und Domenico ist seit Jahren flüchtig. Auf der Gästeliste stand auch Mauro Russo aus Casorio, der ehemals mit dem Camorra-Clan von Raffaele Cutolo verbunden war. Russo galt als Gehilfe von Pasquale Scotti, einem der dreißig meistgesuchten Mafiosi.
Die Hochzeitsfeierlichkeiten gingen schließlich mit einem 45-minütigen Konzert einer neapolitanischen Sängerin, einem Feuerwerk auf dem See sowie Leuchtkaskaden auf dem Rasen der Villa zu Ende. Solche Hochzeiten dienen dazu, Allianzen zu festigen, wie sich an zahllosen anderen Beispielen aus der Provinz Locri oder aus der Lombardei belegen lässt. Der Wert einer solchen ’Ndrangheta-Hochzeit geht weit über den zivilrechtlichen Rahmen hinaus, den man diesem Akt gemeinhin zuweist. Er geht über den klassischen Sinn des Wortes Hochzeit hinaus. Er ist der zentrale Pfeiler, auf dem die Strukturen der ’Ndrangheta aufbauen.
Dass Paolo Martino an der Hochzeit teilnimmt, ist für die Ermittlungsbeamten von Bedeutung. Für sie ist es der lange gesuchte Beleg für die herausragende Bedeutung dieser Hochzeit und des Valle-Clans innerhalb der ’Ndrangheta. Paolo ist die Lombardei genauso vertraut wie Reggio di Calabria. Er fühlt sich in beiden Regionen zu Hause. Er ist mit dem Wirtschaftsleben hier wie dort vertraut. Er kennt Personen von der Spitze des sozialen und wirtschaftlichen Lebens der Lombardei. Reggio di Calabria und Mailand, zwei Gipfelpunkte einer mächtigen und geheimen, archaischen und modernen Struktur. Kalabrien und die Lombardei, Epizentren der ’Ndrangheta-Macht.
Zum Beziehungsgeflecht von Paolo Martino gehört auch Lele Mora. Er war der Mädchenbeschaffer für Bunga Bunga in Arcore, dem prachtvollen Landsitz von Silvio Berlusconi. Der Premier empfing dort Heerscharen hübscher und williger junger Damen, die es mittlerweile zu einer gewissen notorischen Berühmtheit gebracht haben. Escortgirls, die ihre 15 Minuten Weltruhm bekamen und aufsteigen wollten in der Unterhaltungsbranche. Dazu gehörte auch der obligatorische Zwischenstopp in der Villa des Selfmademans Berlusconi. Lele Mora wird inzwischen vorgeworfen, zusammen mit Emilio Fede und Nicole Minetti die Prostitution gefördert zu haben. Im Zentrum der Ermittlungen, die von der Staatsanwaltschaft Mailand geleitet werden, stehen die Abende in der Villa San Martino. Berlusconi hingegen werden Amtsmissbrauch und Sex mit Minderjährigen vorgeworfen. Aber das ist eine andere Geschichte, die dennoch vieles gemeinsam hat mit der Halbwelt der Mailänder ’Ndrangheta.
Mora und Martino stehen in engem Kontakt zueinander. Wie auch der Finalist der TV-Sendung »Uomini e Donne«, Costantino Vitagliano, der Paolo Martino kennt. Dieser ist zwar wegen seiner Verbindungen zur Mafia vorbestraft, das tut aber seiner Beliebtheit in der Nachtszene von Mailand keinen Abbruch. Ebenso verhält es sich mit Vito Cardinale, dem Teilhaber der ’Ndrangheta-Discotheken Hollywood und Loolapalosa. Das Loolapalosa ist ein In-Lokal der Kokserszene Mailands, zu dessen Teilhabern auch Domenico Testino gehört. Außerdem der Club Black Submariner Ladunia. Ein Lokal, zu dessen Teilhabern bis heute der berühmte Fußballprofi Paolo Maldini zählt. Diese Investition des Fußballers rührt noch aus dem Jahr 1995. Damals kommentierte der Sportler den Vorgang so: »Aus Freundschaft zu den Besitzern der Discothek Hollywood habe ich mich hier wirtschaftlich engagiert.«
Zu den Teilhabern des Loolapalosa gehört auch Alberto Baldaccini, Inhaber der Vimar GmbH, zu deren Besitz auch das Hollywood gehört. Das Hollywood war über viele Jahre bevorzugter nächtlicher Aufenthaltsort von Lele Mora. Je tiefer man in diesem Sumpf wühlt, umso öfter fällt der Name Vito Cardinale, eine andere Geschichte, die ebenfalls mit dem Hollywood zusammenhängt. Cardinale ist wiederum einer der Teilhaber des Loolapaloosa, zusammen mit Paolo Maldini und Testino.
Domenico Testino ist seit Jahren auf der Flucht. 1999 bis 2008 war er Geschäftsführer des Lokals, zu dessen Teilhabern auch Paolo Maldini zählt. Bei den Ermittlungen gegen den Fußballprofi stießen die Beamten auch auf Testino, der zahllose Kontakte zu einem Vertrauensmann des Flachi-Clans gehabt haben soll. Darüber hinaus soll er von der Führung des Clans mit dem Drogenhandel beauftragt worden sein. Mimmo Testino selbst gehörte zu den Abnehmern für das Koks des Clans. Wenn er etwas brauchte, rief er Cesare Colombo an, einen Lombarden aus Seregno (bei Mailand), der aber zu den Vertrauten der Drogenhändler der Clans gehört. Sie verabreden sich oft im Loolapaloosa. Testino wird von den Ermittlern so beschrieben: »Er führt verschiedene Gaststätten, in denen es zu untergeordneten Vorfällen dieser Art kam. Er gehört zu den Vertrauten des Flachi-Clans und hat damit Kontakte in die Spitzen der Organisierten Kriminalität hinein. Er bevorzugt Männer des Flachi-Clans als Sicherheitsleute für seine Etablissements. Er kauft bedeutende Mengen an Drogen und scheint ein chronischer Drogensüchtiger zu sein. Damit ist eine Persönlichkeit umrissen, die in sich die Gefahr von Wiederholungsstraftaten birgt.«
Wenn der gesunde Menschenverstand noch eine Rolle spielen und nicht nur Gott Mammon regieren würde, wäre das niemand, mit dem man als bekannter Mann ein gemeinsames Lokal eröffnen sollte. Es ist keine Straftat, die Gewohnheiten und den Lebensstil seiner Geschäftspartner zu ignorieren. Es ist eine Oberflächlichkeit, die von der Profitgier diktiert wird, die niemals befriedigt werden kann. Die Geschichte des Mafia-Gehilfen Paolo Martino überschneidet sich mit denen der Feste in Arcore. Nicht nur wegen der Telefonkontakte zwischen dem Mafioso und Lele Mora. Gesprächspartner war auch Luca Giuliante, der Rechtsanwalt von Lele Mora. Er ist nicht in die Untersuchungen involviert. Allerdings vertrat er kurze Zeit als Rechtsbeistand die minderjährige »Nichte von Mubarak«, die berüchtigte Ruby Rubacuori von »Papa« Silvio Berlusconi.
Martino und Giuliante telefonieren häufig miteinander. Kontakte, die den Ermittlern zufolge nicht zufällig waren und in denen es um gemeinsame wirtschaftliche und unternehmerische Interessen ging. In einem dieser Gespräche ruft Martino begeistert aus: »Ich bin ein Freund von Lele!« Im Zentrum der Unterhaltungen stehen Millionenprojekte. Martino möchte einen Hinweis auf den Ausgang einer Ausschreibung, an der eine befreundete Firma teilnahm. Der Anwalt von Mora ist dafür der richtige Ansprechpartner. Eigenen Angaben zufolge ist er Mitglied einer Kommission, die sich mit dem Programm von Guido Potestà, dem Präsidenten der Region Mailand, beschäftigt. Martino bekommt die gewünschten Auskünfte. »Unsere« Firma, wie sie Giuliante nennt, wird nicht gewinnen, weil die Kooperative aus Ravenna einen außergewöhnlichen Vorschlag gemacht hat und damit die Ausschreibung für sich entscheiden konnte. Als er das erfährt, versucht Martino, die Firma, die den Zuschlag bekommen hat, zu kontaktieren. Vermutlich, um Subaufträge zu ergattern. Der Cousin von De Stefano hat ein Händchen fürs Geschäft.
Paolo Martino ist auch als Verleger aktiv. Heimlich, aber doch. Er veröffentlicht die Zeitschrift Macao. Eigentümer des Verlags ist die Alan Publishing Group, die noch andere Zeitschriften herausgibt wie das New York Magazine, das sich dem Reisesektor widmet, oder die Zeitschrift Hi Life, deren Zielgruppe Unternehmer sind. Obwohl er in keiner Weise zu den Angestellten der Alan Publishing Group gehört, engagiert sich Paolo Martino intensiv, organisiert Interviews mit bekannten Pokerspielern, zu denen auch Weltmeister Salvatore Bonavena gehört. Martino stellt sich den Interviewten als Wirtschaftsredakteur der Zeitschrift Macao vor. Er sei auch mit der Werbung für Unternehmen beauftragt, die Spielautomaten, Billard und Pokermaschinen herstellen.
Er müht sich auch tatsächlich, Werbeaufträge einzuholen. Etwa, indem er einen Mitarbeiter seines Freundes Vito Cardinale kontaktiert, den er aus dem Hollywood kennt. Die Zeit des Ausgehens und der Mora-Philosophie kehren häufig in den Erzählungen Martinos wieder.
Er pflegt auch die Verbindungen nach Kalabrien, nach Reggio di Calabria, als Freund von Gioacchino Campolo, dem König der Spielautomaten Italiens, der 2008 in Reggio di Calabria verhaftet wurde. Speziell Videopoker-Spielautomaten und Videoslot-Automaten möchte Martino beschaffen. Damit beschäftigt sich auch die Zeitschrift. Er kontaktiert verschiedene Hersteller, darunter eine Firma aus Gioia Tauro, die gegenüber dem merkwürdigen Journalisten angibt, zwanzig Spielhöllen zu betreiben und 2000 Spielautomaten zu besitzen. »Leider sind die verschiedenen Geschäftsangebote, die Martino regelmäßig erhält, nicht immer zurückzuverfolgen. Zwar äußert er immer wieder Interesse, behält sich aber zunächst eine Detailprüfung des Angebots vor. So wird ihm auch der Kauf von Anteilen ausländischer Gesellschaften angetragen, die Ferienhäuser in einigen bekannten Tourismusorten Bulgariens, Frankreichs und Montenegros verwalten. Aus der zur Schau gestellten Sicherheit Martinos im Bewerten von Investitionsangeboten lässt sich schließen, dass dieser offenbar tatsächlich in der Lage ist, beträchtliche Mittel in geplante Projekte zu investieren.« Ein Aktenvermerk der Mailänder Staatsanwaltschaft, in dem diese Martino beschrieb. Der Unternehmer, Pate, Geschäftemacher. Ein Modellmafioso des dritten Jahrtausends. Mit einem Fuß im heiligen Tempel der ’Ndrangheta, mit dem anderen in der Kathedrale der Weltfinanzwirtschaft.