8.
KALABRISCHE EXILANTEN
»Mit den Leuten aus Kalabrien, die auf unseren Baustellen arbeiten, sind wir sehr zufrieden. Niemand von denen macht Ärger.« Ivano weiß, dass man sich mit den Männern der ’Ndrangheta im Zweifelsfall besser gut stellt. Denn dank ihrer Mitwirkung wird auf den Baustellen in der Lombardei ohne größere Störungen gearbeitet. Eine Region, die schon in süßen Träumen von künftigem Geldsegen schwelgt. Gleichzeitig lauern die Verwalter riesiger Anlagevermögen darauf, in die lukrativen Projekte für die Expo 2015 in Mailand zu investieren.
Mit dem Begriff »Calabrotti« (Kalabrische Exilanten) bezeichnet die unternehmerische Entourage von Ivano jene aus Kalabrien gebürtigen Männer, die für Subunternehmer auf den Baustellen der Firma Perego General Contractor arbeiten. Eine Firma, die eine wirkliche Erfolgsgeschichte vorweisen kann. Für die ’Ndrangheta ist sie eine verführerische Beute, die mit den Zähnen gepackt und in großen Bissen heruntergeschlungen wird. Eine von vielen Firmen in der Lombardei, die attraktiv ist für diese Art von »Anlegern«. Ivano ist nicht der einzige, der Illusionen hegte, was die mutmaßliche Antriebskraft des ’Ndrangheta-Kapitals anging, das so harmlos im eleganten Zweireiher daherkommt. Sie gleichen eher klassischen Managern aus Mailand als dem, was sie eigentlich sind: Söhne einfacher Leute aus dem verarmten Hinterland Kalabriens. Ivano träumt davon und will unbedingt erreichen, dass die Perego Marktführer in Sachen Tiefbau wird.
Die Wunschträume von Ivano setzen eine perverse Spirale der Eskalation in Gang. Er sieht, Tag für Tag, wie seine Firma zusehends in Stücke zerfällt. Und obwohl seine Geschäftsbilanzen mittlerweile dunkelrote Farbe angenommen haben, sucht er weiter die Unterstützung der ’Ndrangheta. Die Anziehungskraft von Macht ist wie eine Droge für den lombardischen Unternehmer, schlimmer als Kokain. Sein Leben läuft schnell aus dem Ruder. Es verliert zusehends den Zusammenhalt in den Händen der Teilhaber, an die er sich hilfesuchend gewandt hatte und mit denen er enge, vertrauensvolle Beziehungen pflegt. Andrea Pavone und Salvatore Strangio vertraut Ivano blind. Und als sie sich bei ihm als jemand vorstellen, der für die gegenwärtige Krise von Ivanos Firma mit Sitz im oberitalienischen Lecco die Lösung hat, öffnet er ihnen Tür und Tor.
Salvatore Strangio zählt für die Mailänder Staatsanwälte zu den schweren Jungs: »Pistolen, Maschinenpistolen, Handgranaten, Geschäfte mit der Schwester von Pablo Escobar (dem berühmten kolumbianischen Drogenbaron), Falschgeld. Das Ganze abgeschmeckt mit Kommentaren zu seinem Verhalten vor, während und nach der Haft. Diese prototypischen Diskurse belegen die verbrecherische Gesamtpersönlichkeit Strangios. Er ist nicht nur Mitglied einer der wichtigsten ’Ndrangheta-Gruppierungen, sondern zugleich jemand, der mit Gewohnheitsverbrechern und Händlern aller möglichen illegalen Waren auf vertrautem Fuß steht.« So weit die Ausführungen in den Ermittlungsakten der Operation »Tenacia« vom Juli 2010, zusammengestellt von der Anti-Mafia-Behörde Mailand.
Ivano arbeitet seit Jahren mit »Calabrotti« zusammen. Im Netzwerk der Subunternehmer hat die ’Ndrangheta das letzte Wort. Das wissen die Unternehmer. Jede Schaufel Erde, die im Norden, im Süden, im Osten oder im Westen der Lombardei transportiert wird, rollt auf Lastwagen, die zum Firmenimperium der ’Ndrangheta in der Lombardei gehören. Das Gesetz der Mafia wird hier allgemein respektiert. Wer das nicht tut, hat mit Drohungen und Einschüchterungen zu rechnen.
Den Mafiosi, die seit den achtziger Jahren eigene Firmennetzwerke aufgebaut haben, mangelt es jedoch teilweise an entsprechender Qualifikation. Ihre Unternehmensführung ist ausschließlich von Partikularinteressen bestimmt. Für das Gewinnstreben der Clans werden giftige Schlacken in Betonfässer gefüllt und illegal vergraben. Krankmachende Materialien, begraben unter der Erde, die von den Tiefbaufirmen der ’Ndrangheta ausgehoben, transportiert und abgelagert werden. Giftige Abfälle und Fundamente aus Stahlbeton. So arbeiten die Clans der lombardischen ’Ndrangheta-Ableger.
In den Jahren, in denen persönliche Besitztümer von Mafiosi im Rahmen von Gerichtsverfahren beschlagnahmt wurden, der Reichtum der Clans aber dennoch exponentiell anstieg, war es das Interesse der ’Ndrangheta in Norditalien, die Führung einiger Industriesektoren im Norden in die Hand zu bekommen. Inzwischen geht es ihr darum, Produktivprozesse vom Innern der Firmen selbst aus zu lenken und zu leiten. Um damit einen kontinuierlichen Prozess des Geldumschlags zwischen Nord und Süd des Landes in Gang zu setzen, wo jeweils sehr unterschiedliche Wirtschaftsformen zu Hause sind.
Die ’Ndrangheta setzt alles daran, diese durch Aussondern ihres Giftes von innen aufeinander abzustimmen. Die Unternehmen, zu deren Teilhabern die Mafiosi gehören, verbinden die zwei Randgebiete des Systems Italien miteinander. Das Beispiel der Firma Perego, einem führenden Unternehmen der Lombardei, ist dabei typisch und steht für viele andere Fälle, in denen kalabrische Großunternehmen unter die Führung von Clans kamen. In der Lombardei, in Ligurien und in der Emilia-Romagna – jenseits der imaginären Linie, die Nordvon Süditalien trennt, die vom Kapital der ’Ndrangheta permanent durchstoßen wird – spielen sich die Bosse als Unternehmer auf. Dunkle Teilhaber, die über Wohl und Wehe der Firmen entscheiden.
Anfangs hatte der Mann, dem Ivano die Rettung seiner Firma anvertraute, versprochen, die tief in den roten Zahlen befindlichen Konten der Firma aufzufüllen. Salvatore Strangio ist ein Mafioso, Ivano spürte das sofort. Aber er macht sich keine Gedanken deswegen. Er ist unbesorgt, »mit Salvatore, dem Calabrotto, an meiner Seite, wird es niemand wagen, mir in die Quere zu kommen«.
Er hatte ihn anheuern lassen und mit der Sicherheit der Baustellen beauftragt, was zugleich Sicherheit für ihn selbst bedeutete. Im November 2008 lässt Ivano den Vertrag mit Strangio unterzeichnen. Ivano hat im Laufe der Zeit einige Kalabrier kennengelernt. Die Firma Perego vergibt seit Jahren Subaufträge an ihre Unternehmen. Es ist ein schleichender Prozess der Unterwanderung seiner eigenen Firma, dem Ivano beiwohnt. Er fühlt sich wehrlos, umnebelt von der weißen Droge, die ihm die Nasenschleimhäute wegätzt. Strangio kennt die Schwächen von Ivano. Vor seinen Untergebenen beschreibt er ihn als »verrückten Kokser«, der wegen seiner Drogenabhängigkeit die Firma in den Ruin treiben werde. Strangio verspricht ihm, das Schicksal der Firma, die sich gerade um einen Löwenanteil der Ausschreibungen für die Expo 2015 beworben hat, zum Besseren zu wenden. Die Weltausstellung ist für die Clans eine attraktive Beute. Das Mittel, um sie in ihre Fänge zu bringen, stellt die Firma Perego General Contractor dar.
Die Allmacht der Clans ist unübersehbar. Im Bausektor nimmt sie die Form von Gebäuden, Straßen, Brücken, Bahnhöfen und Kongresszentren an. Tiefbau als Entäußerung einer Macht, die ihre Wurzeln in der Wiege der ’Ndrangheta im Aspromonte hat, jener mythischen »Mutter Kalabriens«, die als das pulsierende Herz der unehrenhaften Gesellschaft gilt. Aus dem heimatlichen San Luca in Kalabrien empfängt Salvatore Strangio seine Anweisungen, wie er im Falle der Perego vorgehen soll. Es war der inzwischen verstorbene Oberboss Antonio »Ntoni Gambazza« Pelle, der die Planung der Unternehmenspolitik von Ivanos Firma übernommen hatte.
Hinter Ivano Perego, der die Firma offiziell leitete, stand die ’Ndrangheta. Sie entschied, was zu tun war. Ein Gipfeltreffen in Bovalino (Kalabrien) besiegelte das Schicksal der Firma. »Das, was zwischen Sommer 2008 und Frühjahr 2009 rund um die Firma Perego geschah, ist prototypisch dafür, wenn es gilt, die ökonomischen Kontrollstrategien zu verstehen, die die ’Ndrangheta-Bosse konzipiert haben. Es ist klar, dass eine Firma wie die Perego für die Kriminalität vom Schlage der Mafia einen enormen Wert darstellt. Die Kontrolle einer Firma dieses Typs bietet mindestens drei unschätzbare Vorteile für die Mafia: Sie kann Tiefbauarbeiten, das bevorzugte Arbeitsgebiet der lombardischen Ableger der ’Ndrangheta, selbst direkt steuern; sie kann Ausschreibungen und Unterausschreibungen befreundeten Firmen zukommen lassen, wie etwa dem Unternehmen SAD von Salvatore Strangio, zu deren weiteren Teilhabern Bosse wie Pavone und Morabito gehörten; und natürlich an oberster Stelle: sie kann durch zwischengeschaltete Personen direkt über ein Unternehmen verfügen, das die richtige Größe dafür hat, um sich wesentliche Teile öffentlicher Ausschreibungen unter den Nagel zu reißen, und dank ihres absolut unverdächtigen und ordnungsgemäßen äußeren Erscheinungsbildes kommt sie auch für Großprojekte wie die Expo 2015 in Frage.«
Diesbezüglich erhebt die Anti-Mafia-Behörde von Mailand schwere Vorwürfe gegen die ’Ndrangheta: »Hier gibt es einige Herren, die ohne jegliche berufliche Ausbildung, die ihr Auftreten rechtfertigen könnte, sich das Recht anmaßen, zu entscheiden, wer eine bestimmte Kapitalgesellschaft führt, wer davon ausgeschlossen wird, wer für wen den Posten aufgibt, wie die Arbeiten verteilt werden. Und sie sorgen für permanenten Austausch mit dem fernen Kalabrien, wo andere, wie der verstorbene Pate Antonio Pelle im besagten San Luca oder in Rosarno, gebeten werden, aufgetretene Streitigkeiten zu schlichten, mit einem Durchsetzungsvermögen, das ihnen zuerkannt wird ohne Diskussionen und ohne den Hauch eines Zweifels von allen Beteiligten. (…) All das bestätigt das eindrucksvolle Kontrollvermögen der organisierten Kriminalität aus Kalabrien und ihr internes Strukturierungspotential.« So weit die Untersuchungsakten der Operation »Tenacia« der Anti-Mafia-Behörde Mailand.
Salvatore Strangio, der Mann, dem Ivano und der damalige Oberboss Antonio Pelle vertrauen, beginnt mit der Umsetzung eines präzisen Plans: Rettung der ins Schlingern geratenen Firma. Das Mittel dazu ist, die Firma bis zum Platzen mit ’Ndrangheta-Kapital vollzupumpen. Die Firma Perego General Contractor ist nur eine der Firmen, die Ivano und seine früheren Geschäftspartner schufen. Aber die übrigen Firmen sind größtenteils schon stillgelegt, eine davon, die Perego Straßenbau, hat 18 Millionen Euro Schulden und soll über einen Vergleich abgewickelt werden. Bis das geschieht, versteckt sich die Mafia hinter der Firma und Ivano schiebt den Männern von Strangio die Wachstumsprojekte zu. Andrea Pavone entwirft mit Zustimmung von Strangio einen Plan zum Wiederaufstieg der Perego. Ivano ist verblüfft. Hinter diesem Plan entdeckt er, benebelt von Korruption und verhätschelt vom Luxus, den Rettungsanker. Fusionen und die Übernahme von konkurrierenden Firmen gehören zur Strategie, die die Mafiosi verfolgen.
Von den rauen Bergen Kalabriens bis zu den geschmeidigen Erhebungen des Finanzkapitalismus ist es für die Mafiosi nur ein kleiner Schritt. Die ’Ndrangheta hat ihre Überzeugungen und ihre archaischen Charakterzüge auf dem deregulierten System des Kapitalismus im dritten Jahrtausend aufgebaut. Dem Turbokapitalismus. Einem weltweiten Wettstreit, in dem die Skrupellosigkeit gewinnt, mit der Firmen und Finanzen geschaffen werden. Auf der Verliererseite steht die Ethik, die unter den tödlichen Schlägen des im Wettbewerb befindlichen Egoismus und des kriminellen Profits ins Wanken gerät. Am Ende triumphiert derjenige, der den unternehmerischen und politischen Weitblick, wie er ethisch orientierter Geschäftsführung innewohnt, hinter sich lässt.
Die Mafia-Clans haben im Norden ein System geschaffen und im Süden ein Gemetzel veranstaltet. Letztlich halten sie das Land zusammen, das unter dem Ansturm autonomistischer Tendenzen von jedem Winkel des Landes aus leidet. Und das darin geübt ist, ein auf Korruption, Befehlen und Vergünstigungen gegründetes Netzwerk zu knüpfen. Blut, Blei und Einschüchterungen stellen den Klebstoff dar, der die verzweigten Intrigennetze zusammenhält, welche die Mafia im Laufe ihrer über hundertjährigen Geschichte geknüpft hat. Und es ist jene mafiöse Bindekraft, die Italien seit seiner Vereinigung 1870 zusammenhält, die von der Vereinigung daSud aufgegriffen wurde, die zum Jubiläum der italienischen Einheit eine provokante Kampagne startete, »Die Mafia-Clans schweißen uns zusammen«. Provokant, aber realistisch. Ein für Italien typisches Paradoxon, das von der ewigen Herrschaft des mafiösen Systems zeugt, welches den Alltag im Süden regiert und im Norden die Wirtschaft leitet.
Ivano weiß nichts von den Hintergründen, warum seine Firma auserwählt wurde. Nicht einmal, warum die Clans aus der Lombardei ihren gierigen Blick überhaupt auf seine Firma richteten. Vage hat er eine Vorstellung davon, aber er wird abgelenkt von dem Luxus, mit dem er sich umgibt, und von den üppigen Geschenken, die er an Mafiosi und Politiker verteilt. In der Lombardei sind Typen wie Ivano Perego die typischen Schnittstellen zwischen Mafia und Politik. Das ist ihm bewusst. Er stellt sich mit beiden Seiten gut. Von der einen sind öffentliche Ausschreibungen und Vergünstigungen zu erwarten, von der anderen Schutz und Hilfe, wenn es darum geht, die Konkurrenz auszuschalten.
Er bildet sich ein, alles unter Kontrolle zu haben. Doch dabei hat er längst überhaupt nichts mehr unter Kontrolle, sondern er leitet lediglich einen Namen, eine leere Hülle. Der Wirtschaftsbulldozer der ’Ndrangheta, in Gestalt von Salvatore Strangio und Andrea Pavone, hat sein Werk vollbracht. Die Steuerung der Firma ist bereits in der Hand der Mafia. Augenblicklich fordert sie von Ivano Beförderungen, die Verteilung der Subaufträge nach ihrem Gusto, politische Kontakte, öffentliche Ausschreibungen sowie Privataufträge. Ivano ist in die Vorhölle eingedrungen, ohne sich dessen zunächst bewusst zu sein.
Er fährt fort, sich jovial und makellos zu zeigen. Er nimmt an den Parteiveranstaltungen teil, bei denen man als Unternehmer dabei gewesen sein muss. Er schleicht sich ein in die Treffen der Compagnia delle Opere Lombarde (COL, ein christlicher Industrieverband der Lombardei), begleitet von seinem Freund, dem Politiker Antonio Oliviero. Seine enge Verbindung zu dem Politiker stellt Ivano gern zur Schau. Dann kann es schon mal vorkommen, dass er einen Sportwagen Marke Audi RS 6 verschenkt. »Antonio ist mein Wohltäter«, rechtfertigt er sich oft vor Bekannten und Freunden und setzt seinen Kurs Richtung Abgrund zielstrebig fort. Die politischen Versammlungen mit Oliviero. Das Handy, das unaufhörlich klingelt. Die Versprechungen der Politiker, was das weitere Wachstum der Firma angeht, dass er Mitglied des COL werden könne, was Ivano in die Lage versetzen würde, Zugang zu Krediten der im COL zusammengeschlossenen Banken zu erhalten. Von alldem ist er fasziniert, gleichzeitig enthebt es ihn auf angenehme Weise von den Verantwortlichkeiten, die jemand intensiv wahrnehmen müsste, dem wirklich am Wohl seiner vor dem Untergang stehenden Firma liegt.
Ivano zieht es vor, öffentliche Auftritte zu inszenieren. Wenn er sich selbst im Fernsehen sieht, ist er hochzufrieden. Am besten in der ersten Reihe, Arm in Arm mit einflussreichen Politikern. »Alle waren da, Lupi, Formigoni, und ich in Poleposition mit Oliviero«, erzählt er seinen Freunden mit leuchtenden Augen. Auf der Armbanduhr von Ivano ist ein großes N für ’Ndrangheta eingraviert. Damit lösen sich diese ganzen Lügengeschichten und rassistischen »unpolitischen« Legenden der Lega Nord und anderer auf, denen zufolge die Mafia ausschließlich ein Phänomen des zurückgebliebenen Südens Italiens sei. Eingerahmt zwischen repressiven Maßnahmen gegen Süditaliener und Slogans von der Partei Umberto Bossis, die in etwa lauten »Im Norden sollen nur Firmen aus dem Norden Arbeit finden«. Es wirkt fast wie ein Beweis des Sankt-Florian-Prinzips, wenn man sie auf die entgegengesetzte Politik der Mafia-Clans anwendet. Die ja ruhig immer weiter um sich greifen kann, aber nicht in meinem Vorgarten. Die Lega Nord propagiert ernsthaft, auf diese Weise die mafiösen Organisationen zu bekämpfen, und ignoriert dabei bewusst die vielen Norditaliener, die mittlerweile in den Diensten der Mafia stehen.
Bossis Partei schiebt damit dieses kriminelle, politische und ökonomische Phänomen, das mit Teilen der herrschenden politischen Klasse im boomenden Norden in bestem Einvernehmen steht, erneut ausschließlich den Süditalienern zu. Dieser äußerst aggressive Virus hat jedoch längst die vielen gerühmten sozialen Antikörper niedergemacht, auf die die Lokalpolitiker in der Po-Ebene, in der Lombardei und in Ligurien so stolz sind. Die Werte und Ideale, die den Widerstand gegen den Nazifaschismus inspirierten, sind nur noch eine ferne Erinnerung. Die Erfahrungen dieser außergewöhnlichen Epoche des Kampfes für die Menschenrechte wurde restlos vom Karrierestreben verdrängt, hat dem Druck des vordringenden, krankmachenden und zersetzenden Sickerwassers nachgegeben, mit denen die Mafia-Clans solche Ideale zerstören. Und begraben. Ideale, welche in den Ideen und Aktionen einer verantwortungsbewussten Gesellschaft leben, die zur Erinnerung fähig ist. Aber nicht nur auf rhetorische, sondern auch auf aktive Weise. Projektbezogen. Sie sind die Basis des Fortschritts der freien Gesellschaft, die sich den üblen Mafia-Schädigungen entgegenstellt. Eine Gegenbewegung von unten, die in den Regionen des Nordens kämpft, anklagt und unbeeinflusst vom unermesslichen Reichtum der Mafia-Organisationen unermüdlich für wirklichen sozialen Fortschritt eintritt.
Dagegen hat sich der Lombarde Ivano Perego dazu entschieden, die mächtigste und geheimnisvollste Verbrecherorganisation der Welt ins Boot zu holen. Mit seinen politischen Freunden und zahllosen Unternehmerkollegen aus Norditalien, die dem Werben der Clans mit ihren angebotenen Diensten nur zu gern erlegen sind, spielte er eine zentrale Rolle beim Aufstieg der lombardischen ’Ndrangheta-Ableger. Dabei treffen zwei Arten der wirtschaftlichen Betätigung aufeinander, jene von Strangio und jene von Perego. Salvatore Strangio, geboren in Natile di Careri, ist Inhaber der Firma Ivano innerhalb des örtlichen Riesenunternehmens Perego. Ersterer bekommt Aufträge von letzterem und führt dabei eigentlich die Gesellschaft, die ihm die Aufträge erteilt. Aufträge und Subaufträge, die Strangio wiederum an die zwanzig örtlichen Mafia-Unterzentren verteilt. Eine Steuerzentrale, die dem Mafioso Strangio untersteht. Wenn er die Arbeiten verteilt, achtet er sorgsam auf die Gleichbehandlung aller örtlichen Mafia-Ableger. Das lombardische Territorium ist in Einflusszonen der einzelnen Mafia-Ableger aufgeteilt. Wenn ein Auftrag der Perego die Stadt Rho betrifft, muss der Subauftrag den ’Ndrangheta-Clans vor Ort zugewiesen werden. Betrifft der Auftrag den Ort Bollate, fahren die Lkws der dort ansässigen ’Ndrangheta-Statthalter den Aushub von den Baustellen zur Deponie. Ein längst aus dem Ruder gelaufener und verzerrter Markt, der geprägt ist von den Übereinkünften zwischen dem örtlichen Unternehmertum und den ’Ndrangheta-Firmen. Das ist nicht das Vorspiel zu einem Monopol. Das ist ein bereits zum System erhobener und von der ’Ndrangheta in der Lombardei gesteuerter Trust.
Es ist kein Aufflackern von Unternehmerstolz, was Ivano dazu bringt, Strangio wieder loszuwerden. Er ist eingeschnappt und wird in seinen separatistischen Plänen vom Bewusstsein bestärkt, andere ’Ndrangheta-Vertreter auf seiner Seite zu haben. Ivano erträgt es nicht mehr, von Strangio über die Art und Weise der Unternehmensführung nach ’Ndrangheta-Methode belehrt zu werden. Er weiß, dass Strangio ihn für unfähig hält. Es sind Gerüchte aufgekommen. Sie ärgern und verängstigen Ivano. »Er möchte mich ersetzen«, denkt er sich und zerbricht sich den Kopf darüber, was er jetzt tun kann. Man hat ihm zugetragen, dass Strangio ihn durch einen »echten« Unternehmer ersetzen will. Einen, der die Gesellschaft wirklich führt.
Für Ivano ist es eine absurde Situation. »Stimmt schon, um die Finanzen unserer Firma steht es schlimm«, räumt er im Stillen ein. »Das Unternehmen steht kurz vor dem Zusammenbruch.« Und Strangio möchte es um jeden Preis retten. »Warum?«, fragt sich Ivano. »Was ist der Grund dafür, dass sich Strangio so engagiert, dass er einen echten Geschäftsführer in mein ausgezehrtes Unternehmen setzen will?« Die Antwort ist banal und beleuchtet gleichzeitig eine raffinierte Mafia-Methode der Bosse des dritten Jahrtausends. Salvatore Strangio kennt die desaströsen Bilanzen von Perego General Contractor. Mit seinem Vorhaben, einen versierten Geschäftsführer einzustellen, der die aufgelaufenen Probleme lösen soll, hält Strangio an der Firma fest. Denn es ist ein Tarnunternehmen, Camouflage, die ihn mitten hinein in die Fülle der lukrativen Aufträge für die Expo 2015 und vieler anderer Vorhaben in der Lombardei bringen soll. Dorthin, wo die Milliarden verteilt werden.
Strangio hält Ivano tatsächlich für komplett unfähig. Seiner Meinung nach besteht dessen Talent einzig und allein darin, Geld zu verschleudern. Strangio vertraut nicht einmal seinem Kumpanen Andrea Pavone, trotzdem zieht er ihn für die Beziehungen zu den Vergabeinstitutionen in Erwägung. Eines weiß Mafioso Strangio ganz sicher: Wenn es mit der Perego so weitergeht, wird die Firma untergehen und damit das Ansehen der ’Ndrangheta beschädigen. »Die Firma darf nicht abschmieren, das ist nun mal so, dafür gibt’s gute Gründe, sehr gute. Die dürfen wir keinesfalls über die Wupper gehen lassen«, argumentiert Strangio. Ihm liegt daran, sich die Aussichten auf künftige Milliardengewinne offenzuhalten. Noch verstecken diese sich hinter den Abgasen der Metropolenregion, in den hochtoxischen Abwässern der Industriebetriebe und unter den Hunderttausenden von Kubikmetern Beton, aus denen die Gebäude der Mailänder Weltausstellung 2015 entstehen sollen.
Ivano ist fest entschlossen, sich zu wehren. Er denkt mittlerweile gar nicht mehr daran, sich so einfach beiseiteschieben zu lassen. Und zieht dafür Andrea Pavone auf seine Seite, den offiziellen Teilhaber an der Perego und Strohmann Strangios im Unternehmen. Pavone kennt die Welt von Strangio nur zu gut. Er ist nicht leicht zu erschrecken. Nicht einmal, wenn die Männer von Strangio vor seiner Villa ein riesiges Kreuz ablegen. Eine Einschüchterungsmethode, die Pavone auf die Seite anderer möglicher Investoren für die Perego treibt. Eine Aktion, die zunächst unbeachtet bleibt und im Nachhinein Strangio und seine Schlägertypen ungläubig dreinsehen lässt.
»Lasst uns einen blutigen Ziegenkopf, einen Hundekopf oder irgendwas anderes vor seine Hütte schmeißen, das ihm das Blut gefrieren lässt, direkt vor sein Haus, damit er weiß wird vor Schreck. Wir fangen an mit dem Kreuz. Wir zimmern ein Kreuz und schmeißen ihm das vor die Tür.« Das war der Plan, wie er von den Abhörmikrofonen der Polizei mitgeschnitten wurde. Ausgetüftelt wurde er von Strangio und Pasquale Nocera, um die übrigen Firmenteilhaber daran zu erinnern, dass man einem Boss wie Strangio Respekt schuldet. Denn Perego und Pavone arbeiten gerade daran, Strangio auszubooten. Sie haben die Zahlungen an ihn vonseiten der Perego General Contractor eingestellt, sie informieren ihn nicht mehr darüber, welche anderen »Calabrotti« sie jetzt mit den Erdarbeiten für die Baustellen beauftragen. Den Schaden zu Lasten von Strangio besiegelt schließlich eine Zeitungsschlagzeile. »Der Strangio-Clan aus San Luca ist an den Bauarbeiten für die Expo beteiligt«, titelt die Mailänder Zeitung Corriere della Sera.
Strangio wird von Panik erfasst. Obwohl der Corriere della Sera den Heimatort verwechselt – Salvatore Strangio gehört zu jenem Teil der Familie, der aus Natile di Careri (bei Reggio di Calabria) stammt –, fühlt Strangio, dass der Wind sich gedreht hat, und möchte sich in Sicherheit bringen. Durch die Gerüchte, die Ivano Perego und Andrea Pavone in Umlauf setzen, werden die Spannungen noch verschärft. Strangio entwickelt Wahnvorstellungen und verschwindet, ohne weitere Forderungen zu stellen. Doch Strangio wird einfach durch einen anderen ersetzt: Rocco Cristello, Statthalter der ’Ndrangheta in Mariano Comense (nördlich von Mailand). Und während Strangio noch alles daran setzt, in Erfahrung zu bringen, ob seine nächste Verhaftung bevorsteht, stellt Cristello die Baustellen der Perego unter seinen Schutz, übernimmt die Verteilung der Aufträge und wird stiller Teilhaber.
Cristello macht seinen Job als Mafia-Unternehmer. Aber er verlangt einen Anteil dafür. Perego soll umgehend die umfangreichen Kredite ablösen, die sich bei den ’Ndrangheta-Firmen in den langen Jahren der Zusammenarbeit angehäuft haben. Weder Perego noch Pavone haben auch nur die leiseste Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollen. Stattdessen bieten sie ihm die Firma an. Cristello akzeptiert und bereitet den nächsten Schachzug vor. Dazu hielten die Staatsanwälte von Mailand in ihren Untersuchungsakten fest: »Cristello wird Teilhaber, über die Tarngesellschaft Comitalia und über den Strohmann Brusadelli (zusammen mit Alessandra Coruzzi und Hasan Bayati) von der Pharaon-Gruppe. 2009 ist der Südtiroler Baukonzern Cosbau noch unternehmerisch aktiv und hat gerade für den Wiederaufbau der vom Erdbeben zerstörten mittelitalienischen Stadt Aquila Aufträge im Wert von 21 Millionen Euro ergattern können. Ziel von Cristello ist es, Anteilseigner eines neuen Megakonzerns zu werden, der aus der Cosbau, dem Engagement neuer Kapitalgeber und der anschließenden Fusion mit dem, was an Werthaltigem in der Perego bleibt, entstehen soll. Am 16. November 2009 beginnen die Transaktionen, mit denen die Übertragung der Anteile ausgeführt werden sollen. Sie ziehen sich bis Anfang Dezember hin. Dadurch werden Cristello und die Statthalterei der ’Ndrangheta in Mariano Comense Teilhaber der Perego.«
Durch den Einsatz von Pavone wird die Fusion erfolgreich zum Abschluss gebracht, die ’Ndrangheta hat bei der Cosbau zumindest für kurze Zeit den Fuß in der Tür. Doch dann fallen all die schönen Pläne in sich zusammen, denn die Cosbau geht in Konkurs. Pavone und Perego steht das Wasser bis zum Hals. Das Unternehmen Perego steht vor dem Aus. Die schiere Größe, die Ivano immer als Wettbewerbsvorteil ansah, stellt sich nun als Nachteil für die ins Trudeln geratene Firma heraus, die unter der Last der Kreditzinsen und der hohen laufenden Kosten zusammenbricht.
Daraufhin wollen Strangio und Cristello ihr Geld zurück und sinnen auf Rache. Als Erster reagiert Strangio und entführt Pavone. Eine Blitzentführung, die durch das Einschreiten eines anderen Bosses beendet wird. Der Bruder von Rocco Cristello lässt Pavone frei. Der hat dem Tod ins Auge geblickt. Vor seinen Augen zog sein ganzes Leben vorüber. Vieles, was er bereut, oder auch nicht. Er hat Angst und sucht Hilfe. Er heult, ist verzweifelt. Er weiß, dass das Mafia-Tribunal die zugedachte Strafe ohne Zögern ausführt. Er hat bis jetzt überlebt. Ohne Orientierung schleppt er sich durch Lecco. Seine Gedanken kreisen um das, was noch kommen könnte. Er denkt an die Schreckgespenster aus der Vergangenheit und an die Fallen, die in der Zukunft lauern.
Das, was Andrea Pavone und Ivano Perego widerfahren ist, erinnert mich an das, was mir ein Unternehmer aus dem Gebiet der Brianza (bei Mailand) erzählte, der ebenfalls direkte Erfahrungen mit der ’Ndrangheta machen musste. Als Opfer. »Die haben den Norden bereits erobert. Still und heimlich sind sie in die Lombardei gekommen, haben sich ganz unauffällig verhalten und in der Zwischenzeit mit skrupellosen Unternehmern und Lokalpolitikern ein engmaschiges Netzwerk geknüpft. Diese Beziehungen bestehen aus Korruption und gegenseitigen Begünstigungen. Aus Rechten werden Gunstbeweise. Auf dieser Grundlage konnte die ’Ndrangheta nach und nach ihre ganze mafiöse Gewalt entwickeln. Die Mafiosi können jetzt als Unternehmer andere Unternehmer treffen und ganz offiziell deren Baustellen betreten, um dort ihre Macht durchzusetzen, wenn sie bisher bei der Vergabe von Arbeiten oder dem Anheuern von Arbeitskräften nicht bedacht wurden. Ihr wahres Gesicht zeigten sie erst, als sie schon ihr Netzwerk in die korrumpierbare Schicht der lombardischen Gesellschaft ausgedehnt hatten.«
Die Worte des Unternehmers wiegen schwer. Sie sind geeignet, die Überzeugungen von denjenigen zu erschüttern, die generell abstreiten, dass sich das Imperium der ’Ndrangheta mittlerweile bis nach Norditalien ausgedehnt habe und den Rahmen von Ordnungswidrigkeiten längst hinter sich gelassen hat. Es handelt sich keineswegs um solche vermeintlichen Ordnungswidrigkeiten, wenn bei großen Teilen der Wirtschaft in der Lombardei Recht und Gesetz durch ein Flechtwerk aus Vergünstigungen und Korruption ersetzt werden. Es ist das beunruhigendste Indiz für die Herrschaft einer mafiösen Organisation in einem bestimmten Gebiet. Wie in Kalabrien, Kampanien, Sizilien, Apulien und mittlerweile auch in der Lombardei. Eine ’Ndrangheta von brutaler Dynamik, die sich ausgedehnt hat und schon etablierter Teil des Gesellschaftssystems geworden ist.
Diese mafiöse Unterwanderung steckt längst nicht mehr in einer embryonalen Phase, wie die Hardliner der Nordparteien glauben machen wollen. Dazu faselt die Regierung unverständliches Zeug von einem angeblichen Kampf gegen die Mafia. Man sonnt sich im Glanze vermeintlicher Erfolge, die nur durch den entsagungsvollen Kampf einiger verdienter Angehöriger der Exekutive zustande kamen, um dann dieselben Personen als »Krebsgeschwüre« zu beschimpfen – wie etwa im Fall der Staatsanwältin Ilda Boccassini, die für ihre Erfolge in der Anti-Mafia-Operation »Crimine« in den Himmel gelobt wurde, um dann für ihre Ermittlungen im Sexskandal um den damaligen Ministerpräsidenten Berlusconi und die minderjährige Prostituierte mit dem Künstlernamen Ruby Rubacuori (dt.: Ruby Herzensbrecherin) alias Karima el-Mahroug aufs Übelste beschimpft zu werden.
Die Regierung bleibt leider überwiegend gleichgültig gegenüber denjenigen, die täglich systematischen Widerstand leisten gegen die Herrschaft der Mafia, die in konkreten Aktionen ihren Anti-Mafia-Widerstand unter Beweis stellen. Gegenüber denjenigen also, die Abendveranstaltungen organisieren, das Problem Mafia im Gespräch halten, vom täglichen Widerstand erzählen, von der Auflehnung gegen die Mafia, die Unterdrückungsmechanismen der Mafia anklagen, zum Konsumentenboykott von Mafia-Unternehmen aufrufen und vorleben, wie man vermeiden kann, durch tägliche Unbedachtsamkeiten die Taschen der Bosse noch weiter zu füllen.
Und die Regierung? Feiert in Arcore (dem Landsitz Berlusconis) mit minderjährigen Prostituierten und mit jenem »Talentscout« Dario Lele Mora, der zu den Angeklagten im Ruby-Prozess gehörte und bis heute wegen betrügerischem Bankrott, Steuerhinterziehung und anderer Vergehen hinter Gittern sitzt. Von Mora existieren Aufzeichnungen abgehörter Gespräche mit dem ’Ndrangheta-Boss Paolo Martino. Natürlich nutzt man auch die Hauptnachrichten der wichtigsten TV-Sender Italiens, um die Verhaftung flüchtiger Mafia-Bosse zu verkünden. Aber indem von den glänzenden Siegen der Macht über die Kriminalität berichtet wird, wird die Dimension der Mafia auf die Jagd nach flüchtigen Bossen, auf das Niveau eines Räuber-und-Gendarm-Spiels reduziert. Außerdem wird dabei der chamäleonartige Charakter der Mafia verschwiegen, ebenso wie ihr wirtschaftlicher und politischer Einfluss, der nicht zuletzt auf Regierungsmaßnahmen beruht. Dies hat sich beispielsweise in den wiederholten Steueramnestien während der Berlusconi-Herrschaft gezeigt. Aber auch nicht verabschiedete Gesetze wie jenes zur Geldwäsche, die dadurch nicht im international üblichen Maße verfolgt werden kann, haben dazu beigetragen, dass der Einfluss der Mafia stetig wuchs.