7.
LOMBARDISCHE
POLITKORRUPTION
Pasquale Libri wird von Phantasmagorien heimgesucht. Stunde um Stunde verbringt der 37-Jährige im Juli 2010 damit, über die Vergangenheit, die Zukunft und seine Freveltaten nachzudenken. Sein väterlicher Freund Carlo Chiriaco ist verhaftet worden, die Anti-Mafia-Behörde ermittelt gegen ihn. Es sind niederschmetternde Tage für Libri. Die Staatsanwälte zählen ihn zum lombardischen Zweig der ’Ndrangheta. Und es ist in dieser Situation nicht gerade hilfreich, in Reggio di Calabria geboren und mit der Nichte des obersten Mafia-Bosses Kalabriens verheiratet zu sein – Rocco Musolino, jenseits der Achtzig, das Clan-Oberhaupt »aus den Bergen«, ist der Onkel von Sonia Suraci, der Ehefrau von Libri.
Musolino gilt als eine der charismatischen Führerfiguren der ’Ndrangheta. Er gehört zum Serraino-Clan aus Reggio di Calabria. Und es ist seinem Charisma und seiner Autorität als Krimineller zu verdanken, dass es unter seiner Oberherrschaft im dortigen Gebiet nie zu mafiainternen Auseinandersetzungen oder Umsturzversuchen gekommen ist. Bis zum 23. Juli 2008. An diesem Tag wird Musolino in einer klassischen Mafia-Verschwörung ermordet. Carlo Chiriaco, Jahrgang 1950, geboren ebenfalls in Reggio di Calabria, und Pasquale Libri unterhalten sich darüber in einem während der Operation »Crimine« abgehörten Gespräch. Sie kommentieren aus einer Entfernung von über tausend Kilometern das Geschehen. »Haben sie auf ihn geschossen?«, fragt Chiriaco. Libri antwortet: »Ja, sie haben ihn am Arm getroffen. Er war nichtsahnend im Auto unterwegs.« Daraufhin der Direktor der Gesundheitsbehörde von Pavia: »Verdammt, haben sie ihn mit ’ner Schrotflinte umgelegt?« – »Mit ’ner Lupara«, bekräftigt die Stimme am anderen Ende der Leitung, die von den Ermittlern als Pasquale Libri identifiziert wurde. »Bei Santo Stefano haben sie auf ihn geschossen (…). Was das Problem war? Dass es alle von den Serrainos wussten.« Chiriaco will es jetzt genauer wissen: »Aber gehörte er denn zu Serraino?« – »Scheiße, und ob er dazugehörte, und zwar bis heute.« – »Und es gab keine Reaktion darauf? Haben sie niemanden verhaftet deswegen? Wurde niemand anderes umgebracht?« Libri erklärt seinem Freund, dass es noch keine Reaktion vonseiten der Clans gibt, »aber die Staatsanwälte haben sich beschissen verhalten, die haben alles beschlagnahmt, was ihm gehörte (…) präventiv, das machen die sonst nie.«
Das sind Reaktionsweisen, die man nur verstehen kann, wenn man die ’Ndrangheta kennt, ihre typischen Reaktionsweisen, die Hunderte von Kilometern entfernt von Kalabrien spürbar werden. Vom Dorf Santo Stefano im Aspromonte bis ins oberitalienische Pavia verbreitet sich die Nachricht vom vergossenen Blut des Paten schnell innerhalb der Mafia-Strukturen. Die Verwandten von Pasquale sind keine kleinen Nummern in der Mafia-Hierarchie. Er selbst ist als Abteilungsleiter für die Auftragsvergaben am San-Paolo-Krankenhaus in Mailand zuständig. Mit seinem Kollegen Chiriaco unterhält er sich oft über die ’Ndrangheta. Dann erinnern sie sich an vergangene Zeiten, als sie noch selbst an der Macht waren, als sie in der Mafia etwas galten. Sie scherzen miteinander, »und jetzt sind wir zu kleinen Gesundheitsbeamten geschrumpft«. Sie bilden eine verschworene Gemeinschaft und sehen sich oft.
Pavia ist eine kleine, gemütliche Stadt, die hinter ihrem glänzenden Äußeren jedoch eine geheime Macht beherbergt, welche auf heimtückische Weise die legale Macht infiltriert. Wirtschaft, Politik, Gesundheitswesen. Die ’Ndrangheta wächst still und heimlich heran, sie kreist die Beute auf Zehenspitzen ein, um dann brutal zuzupacken. Aus den Abwasserrohren unter den prächtigen Palästen der Macht kriechen »Beauftragte« mit ehrlichem Gesicht. Wichtige Verbindungspersonen, die beide Welten zusammenbringen. Zusammen bilden ’Ndrangheta und die legalen Institutionen ein »System«.
Pasquale und Carlo. Sie sind Freunde, bekleiden bedeutungsvolle Posten innerhalb des Gesundheitswesens in der Lombardei. Pasquale denkt an seinen inhaftierten Vertrauten. An die Wahllokale. An die Geschäfte, die sie zusammen angeschoben haben. Wie jenes, das er ihm gegenüber bereits ein Jahr zuvor angedeutet hatte. Rocco Musolino musste damals eine größere Geldsumme als Investment unterbringen. Pasquale sprach mit Chiriaco darüber, der ihm empfahl, zu bauen und dann wieder zu verkaufen. Der Ziegelstein als Zinsgarant. »Das Kapital dazu hat er. Ihm gehören Häuser in Rom und in Mailand, in New York und in Paris.« Als Libri seinem Freund die Absichten des investitionsgestimmten Onkels erläuterte, erwiderte Chiriaco: »Viel besser wäre ein einziges Investment zu 15 Millionen Euro, am besten er kauft ’ne ganze Häusersiedlung.« Libri gab Chiriacos Rat weiter.
Aber nach der Verhaftung seines Freundes Carlo befällt ihn die Angst. Mit den Geheimnissen, von denen der Freund weiß, könnte dieser ganze Bücher füllen. Ganz zu schweigen davon, was er mit Geständnissen für sich rausholen könnte. Pasquale ist verwirrt. Die ’Ndrangheta-Orthodoxie bestraft solche Schwächen ohne Gnade. Jemanden zu verpfeifen kommt einem Selbstmord gleich. Entweder ermorden sie dich, oder sie bringen dich dazu, dich selbst umzubringen. Wie Bruno Piccolo, denkt Pasquale. Wenn er aussagt, würde er seine eigene Frau verraten. Schande käme über sie. Würde sie ihn verlassen und Trauerkleidung tragen? Zu viele Gründe, die gegen eine Kooperation mit der Polizei sprechen, für einen Mann, dem von klein auf die symbolische Liturgie der ’Ndrangheta vorgelebt wurde. Auch wenn er kein direktes Mitglied ist, so ist ihm die ’Ndrangheta-Kultur doch in Fleisch und Blut übergegangen. Und wenn sie erst mal in dein Herz und in dein Hirn eingedrungen ist, ist es fast unmöglich, sie wieder aus dem Leib zu bekommen. Er weiß, dass die Reaktionen seines familiären Umfelds vom geltenden Mafia-Wertesystem bestimmt würden. Für Pasquale gibt es kein Vertun.
Als Erstes hätte er es mit der Polizei und den Staatsanwälten zu tun. Aber nicht nur mit ihnen, vermutlich. Er fühlt, dass nach der umfangreichen Verhaftungswelle vom Juli das Ende nahe ist. 304 Verhaftungen zwischen der Lombardei und Kalabrien. Seine Geschichte nähert sich dem Ende. Und der Gedanke an seinen Freund Carlo, der hinter kalten Kerkermauern sitzt, lässt ihn nachts nicht mehr ruhig schlafen. Es ist nicht nur das Gefühl, die Anti-Mafia-Behörde an den Hacken zu haben. Es ist vor allem die unangenehme Erkenntnis, sich ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu fühlen. Wenn du die geheimen Netzwerke der ’Ndrangheta kennst und vor Gericht aussagst, hängt dein Leben am seidenen Faden. Es geht nicht nur um die ’Ndrangheta-Verbrechen, die seinen Kopf füllen. Es geht um das innere Gleichgewicht, das ihm langsam entgleitet. Und Pasquale erträgt die Rolle des Seiltänzers nur schwer. Sie ist Teil dessen, was ihn langsam, aber sicher umbringt.
Wie jeden Morgen trifft Pasquale im San-Paolo-Krankenhaus in Mailand ein. Er arbeitet dort als leitender Angestellter. Sie kennen ihn dort alle. Um elf Uhr hat er ein wichtiges Treffen mit dem Führungsgremium der Klinik. Nach dem Termin verlässt er das Haus wieder. Und denkt an das, was sein Leben einmal gewesen ist. Er erinnert sich daran, wie er einmal Teilhaber einer Treibstoffgesellschaft war, und er denkt an das Scheitern dieses Projekts zurück. Dann das Krankenhaus. Kalabrien. Die ’Ndrangheta-Atmosphäre, die ihm seit frühester Kindheit an vertraut ist. Die Erinnerungsfetzen überstürzen sich. Er denkt wieder an Chiriaco. An die Bosse. An Cosimo Barranca, den lokalen ’Ndrangheta-Machthaber von Mailand. Und an jene Begegnung in der Via Pirelli in Mailand während der Wahlkampagne, als Chiriaco und Barranca sich zum Wahlkomitee von Angelo Giammario begaben, dem Regionalabgeordneten des Partito delle Libertà (dt.: Partei der Freiheiten).
Und er erinnert sich an die Diskussionen mit Chiriaco über die ’Ndrangheta, die öffentliche Auftragsvergabe und die Aufteilung des Kuchens im lombardischen Gesundheitswesen. Er erinnert sich in seinem von Angst paralysierten Hirn daran, wie sie seiner Frau Sonia einen Arbeitsplatz versprachen. Dann überlappen sich die Gedanken. Der Druck wird immer stärker. Die letzten Momente im Denken von Pasquale Libri sind rabenschwarz, eingefärbt wie die finstere Nacht. Dann ist da nur noch Leere.
Sie finden ihn am Fuß der Treppe, die hinauf bis ins achte Stockwerk führt. 25 Meter im freien Fall. Und Ende. Libri fällt in einen Zwischenraum von einem Meter Durchmesser. Sein Schädel knallte mehrfach gegen Treppenvorsprünge, bevor er auf dem Marmorboden aufschlägt. Die edle Steinfläche färbt sich rot.
Niemand hat etwas gesehen. Selbstmord, sagen die Experten. Die Ermittlungsbeamten folgen zunächst dieser These. Kurze Zeit später ändern sie ihre Meinung. Angeblich wurde Pasquale kurz vor seinem Tod mit zwei Unbekannten gesehen. Dann gibt es noch das rätselhafte Polohemd, das jemand um den Kopf des Toten gewickelt hat. Und warum hätte Pasquale sich im Treppenhaus in den Tod stürzen sollen? Rundum gibt es zahlreiche Fenster, die sich dafür besser geeignet hätten. Langsam wird ein Krimi daraus. Die Staatsanwälte nehmen auch andere Möglichkeiten ins Visier. Wurde er umgebracht, weil er Einzelheiten von Intrigenspielen zwischen Politik und Gesundheitswesen kannte, deren Enthüllung kompromittierend für beide sein könnten? Oder war es doch Selbstmord?
Sonia ist verzweifelt. »Er hat nicht mal einen Abschiedsbrief hinterlassen«, beklagt sie, während sie einsam in ihrem stillen Zuhause sitzt, von den Familiengeheimnissen bedrängt. »Pasquale hatte keine Angst. Natürlich sprachen wir zu Hause über das, was so passierte, von den Verhaftungen, die bekannt geworden waren. Für kurze Momente schien er in dieser Zeit irgendwie anders, vielleicht etwas angespannt. Aber er hatte überhaupt keinen Grund sich umzubringen.« Die Ärzte, die Kollegen von Pasquale, vermeiden jeden Kontakt mit der Presse, mit der Öffentlichkeit. Sie zeigen sich erschüttert. »Es ist eine schwierige Situation«, flüstern sie sich untereinander zu.
Das San-Paolo-Krankenhaus war Pasquales Leben. Es stellt einen übergroßen Teil seines Berufslebens dar, der helfen könnte, das Dunkel aufzuhellen, das die verschiedenen Formen der ’Ndrangheta-Präsenz in der Lombardei umgibt. Auf seinem Schreibtisch finden sich Artikel über die Verhaftungen vom 13. Juli 2009 sowie Dokumente über die Vergabe der Großaufträge am San-Paolo-Krankenhaus. Darunter viele, die Pasquale selbst leitend beaufsichtigte. Die Sicherheitsprüfung für das Computertomographiegerät, die Vergabe der Gartenarbeiten, der Wettbewerb um die Sanierung des gesamten Gebäudekomplexes, die Sanierungsarbeiten an der Kantine.
»So geriet auch die Verbindung zwischen Pasquale Libri, Chiriaco und dem Generaldirektor des San-Paolo-Krankenhauses, Giuseppe Catarisano, ins Blickfeld der Ermittler. Die Zusammenarbeit der drei begann 2003, als sie sich gemeinsam am Dental Building (dt.: Haus der Zahnmedizin) beteiligten, einem öffentlich-privaten Gemeinschaftsunternehmen, das 2005 in Konkurs ging und an dem das Krankenhaus San Paolo zu sechzig Prozent beteiligt war, während die restlichen vierzig Prozent der Anteile von privaten Investoren gehalten wurden, die sich in der Stiftung Ge.si.s zusammengeschlossen hatten. Dieses Projekt der Pseudoprivatisierung zahnärztlicher Behandlungen wird als der größte Fehlschlag im lombardischen Gesundheitssystem der letzten zehn Jahre angesehen.
Auch wenn die These vom Selbstmord bestätigt wurde, blieben die Untersuchungen zum Todesfall Libri in den Händen der Anti-Mafia-Behörde und wurden auf andere Ausschreibungen im Gesundheitswesen ausgedehnt. Es ist nur zu verständlich, dass die Geldgier der Mafia von einem Geschäftszweig angezogen wird, in dem allein in den letzten zehn Jahren öffentliche Gelder in Höhe von vier Milliarden Euro investiert wurden, aufgeteilt in 589 öffentliche Bauvorhaben im Bereich des Gesundheitswesens. Die Ermittler zeigten sich davon überzeugt, dass sich von den Vorgängen rund um das San-Paolo-Krankenhaus Verbindungen zu anderen Vorkommnissen herstellen lassen. Es geht dabei um weitere Krankenhäuser der Lombardei«, so Cesare Giuzzi im Corriere della Sera.
Gesundheitswesen und Politik sind in Italien zwei Seiten derselben Medaille. Die Regionalpolitik bestimmt die jeweiligen Führungskräfte, legt Veto ein, bietet Arbeitsplätze, führt Ausschreibungen durch und organisiert das Pflegewesen. Das alles ist mittlerweile ein milliardenschweres Geschäft geworden. Eine Goldgrube für die Mafia. Die staatlichen Gesundheitsbehörden werden von den Clans benutzt, um ihren Einfluss auf die Politik zu vergrößern. Denn vom Gesundheitswesen in die Politik ist es in Italien nur ein kleiner Schritt. Der im Gesundheitsbereich engagierte Mafia-Boss stellt die Allegorie der modernen organisierten Kriminalität dar. Mit sauberem äußeren Erscheinungsbild, aber schmutzigen Händen. Mediziner und Mafia-Bosse sind diejenigen, denen die Menschen ihre Zukunft anvertrauen. In der Hoffnung auf ein sorgenfreies Leben.
Der Mafia-Boss wird in den von Folklore durchtränkten Legenden als Ehrenmann beschrieben, der in der Lage ist, die inneren und äußeren Konflikte der Gemeinschaft zu lösen. Er kann demjenigen eine sorgenfreie Zukunft verschaffen, der ihm Respekt und Ehrerbietung entgegenbringt. Das Gesundheitswesen besitzt für die ’Ndrangheta auch symbolische Bedeutung, die die Aura des Bosses zu erhöhen vermag. Im kalabrischen Locri ist die Gesundheitsbehörde bis heute Verteilstation für gutbezahlte Posten, Beförderungen, Vergünstigungen und Ausschreibungen mit hohen Etats.
Politische und kriminelle Strukturen leben im Gesundheitswesen einträchtig zusammen. Die Vorherrschaft der ’Ndrangheta in diesem Bereich erlaubt es den Clans, das Alltagsleben der Menschen in Kalabrien noch stärker zu dominieren, in unmittelbaren Kontakt mit ihnen zu treten und sie zu »beraten«. Im Norden sorgen die Weißkittel der Mafia dafür, dass diese für ihre subjektiven Interessen innerhalb der lombardischen Lokalpolitik ein Forum erhält. Von den einzelnen Gemeinden bis an die Spitze der Region und der Provinz. Lange verbarg die ’Ndrangheta ihr Interesse am ökonomischen und sozialen Bereich der Lombardei. Um schließlich, in einem günstigen Moment, ihr tödliches Gift in einen von Korruption zerrütteten Organismus zu injizieren, Gift, das dafür sorgt, die letzten Widerstandsnester von Ethik und Anstand in einer verführbaren politischen Klasse mit dem Raffinement der Mafia zu zersetzen. Eine politische Klasse, die sich am anderen Ende der sozialen Skala hart und erbarmungslos gegenüber Einwanderern und Armen zeigt.
An Politikern, die das öffentliche Interesse so deformieren, dass es den Interessen der Clans zugänglich wird, herrscht in der Lombardei kein Mangel. Das lässt die Mafiosi in der Lombardei letztendlich glauben, in der Lombardei gebe es eine Masse von unverdächtigen und manchmal sogar unbewussten Unterstützern der Mafia. Äußere Mitläufer, die das menschliche Kapital der Mafia bilden, so definieren es die Staatsanwälte. Wie zum Beispiel der Mediziner und Direktor der Gesundheitsbehörde von Pavia, Carlo Chiriaco, der lange Zeit als Spitzenvertreter der ’Ndrangheta im Gesundheitswesen der Lombardei galt.
Den Ermittlungsbeamten gelang es, ihn dabei zu filmen, wie er das Büro des Abgeordneten Giancarlo Abelli betrat. Die beiden kennen sich, Abelli selbst gab es öffentlich zu. Es kann sein, dass der Abgeordnete Abelli die problematische Vergangenheit, die dunkle Seite von Chiriaco nicht kannte, sondern den damaligen öffentlichen Eindruck von der unbefleckten Weste des Mediziners, seines Engagements für die Interessen der Region teilte.
In Untersuchungshaft genommen wurde Chiriaco auf Antrag des Gerichtshofs in Mailand. In den Akten wird seine Vergangenheit so beschrieben: »Chiriaco wurde für einfache und schwere Erpressung in Pavia am 26. September 1991 verurteilt, zusammen mit Renato Ferrari, Fortunato Pellicanò und Fortunato Valle. Seine Komplizen wurden abschließend einzeln verurteilt, während er nach zwei Siegen in Berufungsverhandlungen einen Freispruch wegen Verjährung erzielen konnte. Aus den abgehörten Telefongesprächen und den Abhörmaßnahmen vor Ort geht hervor, was sich damals wirklich abgespielt hat. 1991, als Chiriaco schon stellvertretender Direktor im Gesundheitswesen und Abteilungsleiter für Sicherheit in der universitätsmedizinischen Poliklinik San Matteo von Pavia sowie Präsident der angeschlossenen Fürsorge-Institutionen war, verstrickte er sich in einen Fall schwerer Erpressung, verließ aber zum Abschluss des anschließenden Prozesses mit List und (strafrechtlich nicht belangbaren) Lügen den Gerichtssaal als freier Mann. Und das, obwohl es sich um eine Straftat handelte, die in typisch mafiöser Art und Weise betrieben worden war, und an der er aus freien Stücken mitgewirkt hatte.«
Das ist nicht der einzige Fleck in der Vergangenheit des Spitzenmediziners. 2007, ein Jahr bevor er Direktor der Gesundheitsbehörde wurde, wurde er abschließend wegen Bruch des hippokratischen Eides verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Sergio Daffra – obwohl er als Zahntechniker nicht über die notwendigen medizinischen Abschlüsse verfügt – mit Wissen von Chiriaco zahnmedizinische Behandlungen vorgenommen hatte. Zusammenstöße mit der Justiz, die seine Karriere nicht weiter beeinträchtigten. Chiriaco ist ein Mediziner mit Geheimnissen. Er selbst gab im Verlauf einer abgehörten Unterhaltung zu, den Tod von Menschen in Kauf genommen zu haben.
»Mit 19 stand ich das erste Mal vor Gericht. Es ging um Mordversuch, aber die Gesetze kommen uns ja wunderbar entgegen. Wenn du etwas machst, kannst du dir sicher sein, dass du davonkommst. Wenn du jedoch etwas nicht machst, riskierst du es, verurteilt zu werden. Die ganze Geschichte ist wahr, wir haben versucht, ihn zu erschießen (er flucht), es stimmt, dass wir auf ihn geschossen haben. Das Ganze endete mit einem Freispruch wegen nicht nachgewiesener Beteiligung.« Anschließend beklagte er sich, sechs Monate in Untersuchungshaft zugebracht zu haben. Wie seltsam ist die Gesetzeslage, dachte Chiriaco. Aber nicht weniger seltsam verhält es sich mit dem Gesundheitswesen. Vergleichbar einer verstopften Arterie, bedroht von Klumpen diffuser und latenter Macht, die das kollektive Wohl dem Eigeninteresse von Politik und Mafia unterordnen.
Die Stimmabgabe ist Ausdruck der Macht des Souveräns und erfolgt durch das Volk. Sie kann zur Handelsware werden. Ein Recht, das man gegen Vergünstigungen und garantierte Vorzugsbehandlung eintauschen kann. Die Mafia-Mentalität des Stimmenkaufs hat sich mittlerweile bis in den letzten Winkel des ausgepowerten Italiens verbreitet.
Doch bis heute verbindet die große Mehrheit der Italiener das Phänomen der Mafia ausschließlich mit den südlichen Landesteilen, mit den »Dumpfbacken« vom unteren Ende des Stiefels. Aber die Ereignisse, die Ermittlungen, die Anzeigen der Staatsanwaltschaft und die Berichte der Polizisten zeichnen ein anderes Bild. Wenn Demokratie eine Idee ist, die ständig angestrebt werden muss, dann versperren die Clans den Weg zu echter Demokratie. Auch in der Lombardei generiert die ’Ndrangheta mittels der individuellen Stimmrechte Profite – durch den Verkauf von Wählerstimmen an den Meistbietenden.
Sie zahlt, schmiert, bedroht, isoliert. Sie regiert im Stillen und im Verborgenen. Durch zwischengeschaltete Personen. Sie vergibt Aufträge an Personen, die von diesen in den Regierungsgebäuden umgesetzt werden. Unverdächtige Selbständige mit doppelter Moral. Im Büro oder in der Anwaltspraxis sind sie Erfolgsmenschen ohne Fehl und Tadel. Aber sobald sie unbeobachtet sind, werden sie zu Drahtziehern der Mafia. In den abgehörten Autos und bei geheimen Versammlungen geben sie zu, mit der Mafia zusammenzuarbeiten. Selbst führende Stellungen in der Mafia innezuhaben.
Die Staatsanwälte der Anti-Mafia-Behörde von Mailand schreiben: »Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Cosimo Barranca und Pino Neri versprochen haben, beiden Kandidaten bei den lombardischen Regionalwahlen (Giancarlo Abelli und Angelo Giammario) eine bestimmte Anzahl von Stimmen zu beschaffen. Dies geschah auch durch ›Vermittlung‹ von Carlo Chiriaco, dem führenden Vertreter des Gesundheitswesens in der Lombardei.«
Das sind nicht nur Worte. Die Staatsanwälte konnten auch die entsprechenden Geldsummen beziffern, die den Besitzer wechselten. »Fünfzig bis sechzig Fotokopien«, vermutlich 50.000 bis 60.000 Euro, die Rechtsanwalt Sciarrone, ein Spießgeselle von Giammario, zu diesem Zweck von dritter Seite erhielt, »im Hinblick auf die Regionalwahlen 2010«. Das Interesse der Familie Barranca an der Wahl von Giammario wird offenbar auch durch eine Unterhaltung bestätigt, die Pasquale Barranca (der Bruder von Clan-Chef Cosimo) mit Carlo Chiriaco führte. Darin sagt Barranca, dass seine Tochter »dort, im Viale Monza, die Anrufe für Giammario entgegennimmt«.
’Ndrangheta und Politik verbinden sich nicht nur in Gestalt des Abgeordneten Abelli und des Regionalrats Giammario. In den Mailänder Abhörprotokollen der Operation »Crimine« wurde auch der Name von Antonio Oliviero genannt, gegen den zurzeit im Rahmen eines Strafverfahrens ermittelt wird. Oliviero war früher Abgeordneter in der vom Abgeordneten Penati, dem Chef des linksliberalen Parteienbündnisses der Lombardei, geleiteten Fraktion der Regionalversammlung. Oliviero habe bei den Kommunalwahlen 2009 in Cologno Monzese die Kandidatur von Leonardo Valle in die Wege geleitet, dem Sprössling von Mafia-Boss Francesco Valle. Der Name Oliviero stellt keinen Zufallstreffer dar. Er ist mit der Tochter von Antonia Mancuso, der Schwester der Brüder Pantaleone, Antonio und Cosimo Mancuso, verheiratet. Die Mancuso-Jungs sind die Bosse des gleichnamigen Clans, deren Herrschaftsgebiet die Provinz Vibo Valentia in Kalabrien ist.
Aus den Ermittlungsakten zur Operation »Tenacia« der Anti-Mafia-Behörde von Mailand geht hervor, dass dem ehemaligen Abgeordneten des Berlusconi-Wahlbündnisses PdL und Ex-Regionalrat Massimo Ponzoni, gegen den aber bislang keine Anklage erhoben wurde, Beziehungen zur Mafia »von gegenseitigem Interesse« vorgeworfen werden. Auch Emilio Santomauro, Führungsfigur der christdemokratischen Nachfolgepartei UdC, zuvor in der Alleanza Nazionale aktiv, fiel in diesem Zusammenhang auf. Am 25. Januar 2000 war er in eine Schießerei vor seinem Büro verwickelt. Als Strohmann des Mafia-Clans Guida wurde gegen ihn ermittelt, die Anklage jedoch wieder fallengelassen.
Auch die Lega Nord, die sich vor allem durch ihre Fremdenfeindlichkeit auszeichnet, zeigte sich einem Flirt mit der Mafia nicht abgeneigt. Angelo Ciocca, der mit einem Vorsprung von 18 000 Stimmen zum Abgeordneter der Regionalversammlung in der Lombardei gewählt wurde, erscheint in den Akten der Anti-Mafia-Behörde wegen seiner Beziehungen zu Pino Neri, der zusammen mit Chiriaco verhaftet wurde und als Boss der örtlichen Mafia gilt. Neri habe Ciocca kontaktiert, damit dieser einen seiner Vertrauten bei den Kommunalwahlen unterstütze. Zudem wurde Ciocca zusammen mit Neri fotografiert.
In den Abhörprotokollen brüstet sich Neri damit, dass er Ciocca in »schöne Immobiliengeschäfte eingebunden« habe. Bis heute wurde keine Anklage gegen den Lega-Nord-Abgeordneten erhoben, der zum Zeitpunkt der Aufnahmen auf der Piazza Petrarca in Pavia Regionalabgeordneter der Partei war. Nach den Anschuldigungen des Kronzeugen Di Bella vermieden es Ciocca und Castelli daraufhin, gemeinsam abgelichtet zu werden.
Es herrschen finstere Beziehungen zwischen der Politik und der ’Ndrangheta in der Lombardei. Es sind Geschichten von den ungekrönten Königen des Gesundheitswesens. Von verwirrten Politikern, die auch dort auf Stimmenfang gehen, wo sie es eigentlich gar nicht dürften. Von skrupellosen Unternehmern, die im Luxus leben und auf Koks sind. Sie verschleudern öffentliche Gelder, während sie in Luxuskarossen herumfahren und Schmiergelder verteilen, um öffentliche Aufträge zu bekommen, um Beförderungen und medizinische Behandlung zu erlangen. Rechte, die eigentlich jedermann zustünden. Und die hier, wie im Süden, in den Ruch von Vergünstigungen und Vorzugsbehandlung gekommen sind.
Institutionelle Aktivitäten und Partikularinteressen bringen den freien Markt vom Weg ab. Eine perverse, brutale Osmose findet statt, die die Demokratie untergräbt. Diese zerbricht unter den wiederholten Schlägen einer skrupellosen Allianz zwischen Politik und Unternehmertum, die es den verschiedenen Mafien (’Ndrangheta, Cosa Nostra, Camorra etc.) seit 150 Jahren erlaubt, als selbständig handelnde Wirtschaftssubjekte aufzutreten, als integraler Teil des produktiven Wirtschaftssystems nicht nur Italiens.
Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags an diesem 19. Juli 2010 in Mailand. Viele hoffen darauf, dass die Zeit wieder ihr frenetisches Tempo des mythischen Mailands aufnehmen möge. Die weiße Umrisszeichnung am Fuß des Treppenhauses wird in den nächsten Tagen bald verschwunden sein. Noch erinnert sie an gefährliche Verwicklungen und an Alpträume, die den Selbstmörder heimgesucht hatten. Sie gleicht dem Fingerabdruck jenes geschmeidigen lombardischen ’Ndrangheta-Systems, das seine Macht aus dem innersten Zentrum ihrer Hochburgen in Kalabrien bezieht und sich von dort aus nach Europa und in die ganze Welt ausbreitet. Wie ein Blutegel saugt die Mafia den vitalen Lebenssaft aus der Demokratie, blockiert sie die Spielräume der Wahlfreiheit. Sie zerrüttet die Regeln der Marktwirtschaft, zersetzt die Ethik mit der scharfen Säure ihrer Macht.
Pasquale Libri ist eines der Opfer dieses Systems. Ein Angeklagter, ein Verdächtiger. Freund und Spießgeselle der Mafiosi. Am Ende ist er tot. Ermordet oder aus freien Stücken. In jedem Fall ein Zeuge furchtbarer und abartiger Verbrechen. Mit Chiriaco hatte sich Pasquale in den abgehörten Gesprächen über die ’Ndrangheta unterhalten, über öffentliche Ausschreibungen und das Postengeschacher im lombardischen Gesundheitswesen. Libri war sowohl Beobachter als auch Akteur in diesem System. Er hat die ’Ndrangheta wachsen sehen, und hat miterlebt, wie sie sich die Region der ehemaligen moralischen Hauptstadt Italiens unter den Nagel riss, diese in einen Schraubstock zwängte und zudrehte. »Sicher ist nur, dass er tot ist«, schrieb Tommaso Besozzi 1950 in der Wochenzeitschrift L’Europeo über den berühmten Urahn der sizilianischen Mafia, Salvatore Giuliano, der von manchen auch als Märtyrer und Widerstandskämpfer angesehen wird.
Das Wurmnest, welches das hervorragende Gesundheitswesen der Lombardei in seinem Inneren birgt, ist derzeit nicht in Gefahr. Und seine Aktionsfreiheit ist ungebrochen.