20.
»TURIN GEHÖRT UNS«
Vor der großen Hofgesellschaft hält man still
Wenige Worte und die Augen zu Boden
Der der spricht ist der der befiehlt
Mit seiner Stimme unterwirft er uns
Traditionelles Sprichwort der ’Ndrangheta
»Lasst uns einen Kreis bilden«, sagt Don Rocco, der Unternehmer-Mafia-Boss der ’Ndrangheta in Turin, und fügt hinzu: »Vom jüngsten bis zum ältesten.« Mit dem Blick sucht der Pate den Täufling. Dieser soll sich heute dem »Schwanzschnitt« oder der »Kupierung« unterziehen, um als unterster Dienstgrad in die ’Ndrangheta aufgenommen zu werden.
»Wo ist der Lehrling?«
Die Mitglieder zeigen auf ihn. Der junge Mann macht einige Schritte nach vorn, flankiert von zwei Respektspersonen, den Paten Don Totò und Don Micu. Sie sind seine Wächter. Sie stellen das »Paar« dar, also die Garanten für die künftige Treue des Neophyten zur Mafia.
»Junger Mann, was führt Sie her?«
Dieser Satz wird von Don Rocco ausgesprochen. Damit beginnt die Initiationszeremonie.
»Blut und Ehre«, antwortet Manuele sichtlich bewegt.
Ab diesem Moment gibt es kein Zurück mehr. Jetzt kann man nur noch als Toter die »ehrenwerte Gesellschaft« verlassen.
»Wie muss das Betragen sein und was sind die Pflichten des Lehrlings gegenüber den weisen Meistern?«
»Der Lehrling ist der demütige Diener, die Pflicht ruft ihn. Er muss bereit sein, jedem Befehl zu folgen, und muss demütig und weise in allen seinen Verhaltensweisen sein«, lautet die entschiedene Antwort desjenigen, der sich intensiv vorbereitet hat. Vielleicht weil er sich dazu verpflichtet fühlt, vielleicht auch, weil er an das System Mafia glaubt. Und er hat schon lange auf die entscheidende Antwort gewartet.
»Über wie viele Straßen verfügt die Gesellschaft?«
»In der Gesellschaft gibt es drei Straßen.«
»Womit wurden sie gebaut?«
»Mit Hühnerbeinen.«
»Und welche Straße haben Sie genommen, um ein Lehrling zu werden?«
Der Mafia-Aspirant kennt die festgelegte Antwort: »Die rechte, weil ich meine weisen Meister dort gehen sah.«
»Gut gemacht, Picciotto.«
»Auf der linken Straße gehen nur Bullen, Verräter und Schwätzer.«
An diesem Punkt wird ein Heiligenbild des Erzengels Michael gereicht, das angezündet wird und das völlig verbrennen muss. Dann greift der Pate nach dem Handgelenk des Aufzunehmenden und macht einen kleinen Schnitt, so dass einige Blutstropfen hervortreten, die auf das brennende Heiligenbild fallen.
»Wenn ich dich bis jetzt als ehrenwerter Unterstützer kannte, so kenne ich dich ab jetzt als ehrenwerten Lehrling. Ab jetzt bist du Teil dieser Familie und der ehrenwerten Gesellschaft.«
Es ist eine Lektion des mafiösen Ehrenkodexes, was der Pate hier mit dem Neuling veranstaltet. Es geht weiter mit der Erläuterung einiger grundlegender Regeln für den Neugetauften.
»Die Gesellschaft ist eine Familie, und daher sind alle Mitglieder Brüder und müssen sich als solche respektieren. Es gilt das Prinzip ›Einer für alle, alle für einen‹. Wenn einer von der Familie oder einer der Freunde stirbt, muss man zu seinem Begräbnis gehen, und man darf sich nicht schämen, den Kranz oder Blumen zu bringen, da man damit Respekt bezeugt. Und bevor man ans Grab tritt, muss man sich der betroffenen Familie vorstellen und ihr seine Hilfe anbieten. Man darf keine Angst haben vor denen, die einen schief anschauen, sondern vor denen, die einem zulächeln.«
Manuele ist jetzt Lehrling, nach den Fachausdrücken der ’Ndrangheta ein Picciotto d’Onore. Mit 17 Jahren ist er jetzt ein Mann, und »ein guter Christ«. Der Ehrenkodex der ’Ndrangheta sieht eigentlich eine Aufnahme erst mit 18 Jahren vor, aber für ihn hat der Oberboss einer Ausnahme zugestimmt. Manueles Vater ist ein Clan-Angehöriger im Range eines Quartino. Das ist einer der höchsten Grade dieser Mafia. Er leitet die Mafia-Zelle von Turin.
Die Geschichte von Manuele verbindet sich mit jener eines anderen jungen Mafia-Angehörigen. Arcangelo Gioffrè war ebenfalls mit 17 zum »Mann« geworden. Auch für Arcangelo wurden die Riten gelesen. Er ist der Sohn von Peppe Gioffrè, Chef einer anderen Mafia-Zelle in Turin. Bessere Referenzen gibt es kaum innerhalb der Mafia. Ihr anzugehören, davon hat Arcangelo immer geträumt. Er ist mit der Mafia aufgewachsen, hat sie sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen.
Er erinnert sich an die Geschichten, die sein Vater zu Hause erzählte. Eine kommt ihm an diesem Abend in den Sinn, nachdem er die Zeremonie überstanden hat. »Du musst Angelo Gioffrè sein, und nicht der Sohn von Peppe Gioffrè. Wenn es nötig ist, bist du mein Sohn. Aber du musst dir deine eigene Machtposition erkämpfen, unabhängig von mir. Mir würde es gefallen, wenn dich die Leute fürchten und respektieren. ›Wahnsinn, der Sohn von Peppe Gioffrè‹, sollen sie sagen. Du sollst dein Leben genießen, ausgehen und nicht immer unter deinesgleichen bleiben. Der innere Zirkel besteht nur aus vier oder fünf Leuten, das ist auf Dauer Inzucht.«
Für den jungen Arcangelo ist das eine Lektion fürs Leben. »Bleib nicht immer im inneren Zirkel der Kalabresen. Das hat mir mein Vater vorgegeben«, erinnert sich der Sprössling. Seine Zukunft ist vorgezeichnet, zurück kann er nicht mehr. Die Zukunft wird aus unaussprechlichen Geheimnissen bestehen, geheimen Versammlungen, Gewalt, Befehlen.
Die ’Ndrangheta als Karriereinstrument und als Mittel, gesellschaftliche Anerkennung zu gewinnen. Das ist die große Illusion, die viele junge Leute und Unternehmer in die Arme der »Krake« treibt. Sie entscheiden sich, auf den Karren aufzuspringen, der von den Bossen gesteuert wird. Als ob es eine Rolltreppe wäre, die einen automatisch in höhere Gesellschaftsschichten bringt. Aber die Mechanismen, auf denen die Übertragung von der Macht der ’Ndrangheta beruht – gerade im Hinblick auf die Gesellschaft Italiens –, sind nicht auf Verdienste gegründet. Die Führung der Mafia ist nur direkten Verwandten der mächtigsten Bosse zugänglich. Ein einfacher äußerer Zuträger wird bis zum jüngsten Tag der Sklave seines Paten sein. Sein Schicksal lautet Knast, den man für den Boss abreißt. Sein Schicksal lautet Tod, erlitten anstelle wichtigerer Mafia-Mitglieder. Oder aus Gründen der »Schändlichkeit«. Schändlich ist jeder, der das System, dessen Opfer er ist, bei der Polizei verpfeift. Die Kronzeugen sind besonders »schändlich« in den Augen der ’Ndrangheta. Sie stehen auf derselben Stufe wie »Bullen«. Ein Schimpfwort, das auch für Kaufleute und Unternehmer gebraucht wird, die die Mafia anzeigen.
»Freunde« sind für die Mafia diejenigen, die das Schweigegebot bis ins Grab respektieren, egal ob sie aus der Politik oder der Wirtschaft stammen. »Freunde« sind auch diejenigen, die die Ideale des Rechtsstaates verraten, Staatsanwälte, Politiker, Ermittler, die sich dem Mafia-Klüngel anschließen. Für die Mafiosi teilt sich die italienische Gesellschaft in zwei Gruppen auf: »Schändliche« und »Freunde«. Alle anderen sind bedeutungslos. Die ’Ndrangheta bewegt sich jenseits der Ideologien. Wer auch immer ihr Vorteile garantiert, wird freundlich aufgenommen in die Gemeinschaft all derer, die die Mafia im Bereich der Legalität unterstützen. Alle anderen sind Feinde, die es zu vernichten gilt, oder mächtige Gegner, denen man aus dem Weg gehen muss. Je nach dem Grad der Militarisierung einer bestimmten Region.
Mit dieser Herangehensweise, frei von jeglichen ideologischen Dogmen, hat es die ’Ndrangheta geschafft, tief in die Gesellschaft des Piemont einzudringen. Auch in der regionalen Hauptstadt Turin ist es ihr das geglückt. Vor Ort tönt man: »Turin gehört uns!«, »Turin ist fest in unserer Hand!« oder »Der Chef von Turin ist mein Jahrgang, mein Kumpel. Der hat Turin komplett im Griff.« Im Schatten der Mole Antonelliana, des großen Museumsgebäudes im Zentrum Turins, kommandiert die ’Ndrangheta – wenn man den Worten von Giacomo Lo Surdo Glauben schenkt, einem Angehörigen der ’Ndrangheta-Filiale Piemont. Er gehört zur obersten Koordinierungsebene vor Ort. Diese wird streng abgeschieden von den übrigen Zellen, die von rangniedrigeren ’Ndrangheta-Mitgliedern geleitet werden und denen die Ausführung gewalttätiger Aktionen obliegt. So definieren es jedenfalls die Ermittler, die die Operation »Minotauro« durchführten. Ihnen zufolge sind in der Provinz Turin insgesamt neun Mafia-Zellen mit über vierhundert Mitgliedern präsent.
Wo die ’Ndrangheta-Clans in Piemont nicht selbst unternehmerisch tätig sind, saugen sie den übrigen Unternehmern das Blut aus. Hundert Euro im Monat. Das ist die Summe, die einige Gewerbetreibende der Region Turin an die Clans abführen müssen, damit sie ruhig schlafen können. Die Methode trägt die Signatur von Vincenzo Argirò vom Crimine in Turin und von Antonino Occhiuto, einem der Anführer der abtrünnigen ’Ndranghetisten von der Bastarda. Jeder treibt Schutzgeld für seinen Herrschaftsbereich ein. Eine Methode, die den Clan-Chefs von Turin aber nicht mehr in den Kram passt. »Ich werde ihn in Rivarolo abpassen, den Arsch, das gibt Krieg, ich schwör’s euch.« Bruno Iaria gibt sich zum Äußersten entschlossen. Wenn Occhiuto es wagen sollte, den Fuß auf eine »seiner« Baustellen zu setzen, werden die Waffen sprechen.
Die Bosse aus dem kalabrischen Careri (bei Reggio di Calabria), die Turin zu ihrer Wirkungsstätte erkoren haben, halten Schutzgeld für ein überholtes Erbe der Vergangenheit. Die Zukunft sieht anders und weitaus lukrativer aus: Materiallieferung, Dienstleistungen, Subaufträge. Und das alles völlig legal. Zumindest nach außen. Die von ihrem Gönner, dem Unternehmer Nevio Coral, eingeheimsten Gefälligkeiten summieren sich zu enormen Beträgen. Der »Bitte« der Clan-Chefs folgend bezahlt der Unternehmer sogar Geld für den Unterhalt von Angehörigen inhaftierter Mafiosi.
Die ’Ndrangheta ist ein Minotaurus, der seine Drogenmillionen im Wasser des Po wäscht. Sie setzt sich aus unverdächtigen Honoratioren der Gesellschaft zusammen, aus externen Unterstützern, die über jeden Zweifel erhaben sind, aber auch aus »Soldaten«, die jederzeit in der Lage sind, sich wie furchtbare, ausgehungerte Ungeheuer auf die Feinde der Mafien zu stürzen. Monster, die mit profitablen Geschäften ihren Schnitt machen: Materialzulieferung für die Bauwirtschaft (Autotransporte eingeschlossen) und Nachtclubs gehören zu den legalen, Drogenhandel, Erpressung, Wettbetrug zu den illegalen Aktivitäten der ’Ndrangheta.
»Ich glaube, dass wir letztlich alle Unternehmer sind, jeder auf seine Art. Es stimmt nicht, dass wir Betrüger sind. Wir müssen uns eben auch von irgendwas ernähren«, sagt Nevio Coral, der mit der ’Ndrangheta bei der Vergabe von Subaufträgen zusammenarbeitet. »Wir haben mit dem Bürgermeister einen vielversprechenden Ansprechpartner. Er hat mich heute morgen darum gebeten, die Geschäftsführung der Gesellschaft, über die er uns Aufträge im Wert von 2,5 Millionen Euro verschaffen will, einem seiner Vertrauten zu übertragen.« Aus einem per Wahl errungenen Posten können gewinnbringende Aufträge resultieren, darüber ist sich Vincenzo Todarello, der zu den Verdächtigten der Untersuchung in Turin gehört, im Klaren. Aber er ist nicht gewillt, wie er Francesca Argirò verrät, das Angebot, das er von Nevio Coral erhalten hat, mit den vorgesehenen Personen zu teilen.
Turin ist eine geheimnisvolle Stadt, eine europäische Kapitale und vielleicht die einzige Stadt Italiens mit wirklich europäischem Geist. An Arbeit mangelt es hier wahrlich nicht. Im Schatten der Stadtmauer von Turin reiht sich Baustelle an Baustelle. Neue Gebäude werden errichtet, viele davon von ehrlichen Firmen, die sich im Besitz von Emigranten aus Sizilien, Kalabrien oder Kampanien befinden. Wie viele Arbeiter haben die eigene Existenz geopfert, zuerst in der Textilindustrie, dann in den Fiat-Werken? Turins Reichtum wuchs auf dem Rücken der arbeitsamen Emigranten. Unter anderem dank der zugewanderten Emigranten aus dem Süden hat die Stadt ihren europäischen Spirit entwickelt.
Turin ist auch eine sehr gastfreundliche Stadt. In den Genuss dieser Gastfreundschaft kamen auch die Vertreter der Unterwelt. Getarnt und versteckt hinter den Ehrlichen, haben sie den richtigen Moment abgewartet, um viele Reichtümer der Region Piemont in ihre Gewalt zu bringen. Dabei stießen sie auf keinen großen Widerstand. Im Gegenteil. Piemontesische Unternehmer haben sich bereitwillig auf Verhandlungen mit der ’Ndrangheta eingelassen. Jemand, der über die entsprechenden Kontakte verfügt, ist der Unternehmer Nevio Coral. »Honorarkonsul der Elfenbeinküste« nennen ihn seine Anhänger. Eigentlich ist die Gemeinde Leini, deren Bürgermeister Coral lange Jahre war, gefolgt von seinem Sohn Ivano als Amtsnachfolger, eine Kooperation und Städtepartnerschaft mit der Elfenbeinküste eingegangen. Was den Neid der Mafiosi weckte. »Weißt du was das heißt, Botschafter der Elfenbeinküste zu sein? Da kannst du Obst importieren, Ananas, Pfirsiche und so was.« An diesen millionenschweren Importen wollen die Clans partizipieren. »Dann gibt’s da noch die Metalle«, wie die Tochter des Clan-Chefs weiß. »Die kommen später. Wir müssen das Schritt für Schritt angehen, das hat alles seinen politischen Preis«, antwortet Todarello, der Francesca Argirò wertvolle Einsichten gibt, für die ihm die abhörenden Beamten sehr dankbar sind. So zum Beispiel, als er ihr gegenüber zugibt, dass sein Vater »deutlich mehr Potential hat als ich selbst, besonders mit Bürgermeister Coral. Wir werden eine Firmengruppe konstruieren. Zu der sollen auch einige der Leute kommen, die heute Abend da sind, alles ehrenwerte Leute.«
Die Führungsfiguren der ’Ndrangheta in Piemont zeigen den Ermittlern zufolge ein deutliches Interesse an Coral und seiner Familie. Ihnen geht es darum, Geschäfte zu Sonderkonditionen abzuschließen und neue Kontakte zu knüpfen. Coral dient ihnen dabei als ›Eintrittskarte‹ in die Welt der Unternehmer und Politiker.
»Wie er sich in den Banken verhält, das hat was. Aber wenn man erst mal so reich ist, vertrauen einem die Banken ohnehin.« Wenn die Mafiosi da reingehen würden, stünde gleich die Staatsanwaltschaft vor der Tür. Da sind sich die beiden Mafiosi sicher. Der Unternehmer und Politiker sorgt für die Aufträge, und die Bosse sorgen für die Wählerstimmen. Der Kreis schließt sich. Die Arbeitsbeziehungen zwischen Coral und den Bossen bestehen schon seit vielen Jahren. Und sind auf den Coral-Baustellen unübersehbar. Wo die ’Ndrangheta den Wachschutz versieht, das Baumaterial liefert, die Maschinen und die sonstigen Dienstleistungen.
Nevio Coral und Vincenzo Argirò vertrauen sich. »Es herrscht ein Klima intensiver Konspiration zwischen dem Beschuldigten und seinen Bekanntschaften aus der Mafia«, wie die Ermittler es beschrieben. Was auch durch die häufigen, irritierenden Besuche des Unternehmers aus Leini bei verschiedenen prominenten Mafiosi belegt wird. Er pflegt enge Beziehungen zu Giovanni Iaria, der in der Lokalpolitik aktiv ist, und zuvor Stadtrat und Assessor der Gemeinde Cuorgnè war. Zudem ist er der Onkel von Bruno, der ebenfalls in den Genuss der privilegierten Freundschaftsbeziehung zu Coral kam. Coral ist jemand, den Bruno Iaria gern um sich hat. Coral unterhielt auch zu Giuseppe Gioffrè Arbeitsbeziehungen, dem Boss, der jahrelang in Turin ansässig war, bis er im Dezember 2008 in Bovalino (Kalabrien) erschossen wurde.
»Gioffrè war einer der eifrigsten Anbieter für Sicherheitsdienstleistungen auf den Baustellen von Coral, für die er auch regelmäßig engagiert wurde, so dass Gioffrè seinerseits mit den Firmen, die er leitete, bei der Verteilung der Subaufträge bzw. der Zulieferungen mitmischen konnte.« Es handelte sich um ein gut geöltes System, das die Paarung Coral/Mafia etablierte. Nicht zuletzt deshalb rief Gioffrè bei einer Gelegenheit aus: »Nevio hab ich zu dem gemacht, was er heute ist. Ich hab ihn großgemacht. Und er war mir sehr dankbar dafür. Er sagte wörtlich: ›Scheiße Mann, hier wagt sich wirklich niemand an mich ran.‹ « Was natürlich auch mit einem Umstand zusammenhing, den Gioffrè in einem anderen Abhörprotokoll eingestand, als er erzählte, dass Coral ihm fünfzig Prozent der gemeinsam erwirtschafteten Profite gebe.
Nevio ist die reinste Gelddruckmaschine für die Mafia. Das ist den Mafiosi, die um ihn herumscharwenzeln, nur allzu bewusst. Den Ermittlern zufolge ist er ein »Goldesel, der Geld ausspuckt, und den jeder Clan an sich binden will, so dass zeitweise echte Auseinandersetzungen zwischen den Clans entstanden.« So etwa beim Wettstreit der Clans um die lukrativsten Subaufträge beim Bau der neuen Werkshallen der Coral GmbH. »Ich gehe zu ihm, und die zapfen ihn an wie einen Ziegenbock«, zog Gioffrè über potentielle Konkurrenten her. Diese Spannungen sorgen sogar für Konflikte innerhalb einzelner Clans. Beschimpfungen zwischen Onkel und Neffe, die über eine Summe streiten, die von einer Coral-Baustelle stammen soll. Bruno Iaria brüllt seinen Onkel Giovanni an, den er verdächtigt, aus einer gemeinsamen Kasse Geld gestohlen zu haben. Damit habe er ihn vor den anderen Mafia-Zellen, mit denen – wie es die Regeln der Gemeinschaft vorsehen – bereits vorläufige Verträge über die Vergabe von Subaufträgen geschlossen worden seien, in schlechtes Licht gerückt.
Giovanni Iaria dagegen erfreute sich ungebrochener Harmonie mit Coral, wie aus ihren abgehörten Unterhaltungen hervorgeht. Darin bittet Coral bei Iaria um einen Termin. »Ich würd mich gern demnächst mit dir zusammensetzen, um über all das noch mal zu reden, was wir in der letzten Zeit gemacht haben. So ’ne Art Rückschau, dann kann ich dir auch noch ein paar andere Sachen sagen, die nicht für Dritte bestimmt sind. Über die Politik.« Die Rückschau fiel sicher für beide Seiten sehr erfreulich aus. Einerseits ist die private Bautätigkeit das bevorzugte Tätigkeitsgebiet der ’Ndrangheta-Clans in Piemont: Wenig Kontrollen und viele Subaufträge. Andererseits garantieren die Mafia-Firmen ihren Auftraggebern Ruhe auf den Baustellen und keinen Stress mit Gewerkschaften.
Coral verspricht Iaria dann, ihn bei der Verteilung von Arbeitsplätzen und Verwaltungsposten angemessen zu berücksichtigen. Es geht darum, eine Arbeitsgruppe zu schaffen, die ihren gemeinsamen Interessen dienen soll. Er bietet sogar »einem Mafioso vom Schlag eines Giuseppe Gioffrè an, den Sitz einer seiner Firmen (die Firma Misiti) in den Geschäftsräumen der Coral GmbH einzurichten, natürlich ohne jegliche weiteren Zahlungsverpflichtungen wie etwa Miete oder anderes.« Gefälligkeiten, hinter denen sich ein veritabler Teufelspakt verbirgt, wie selbst Gioffré eingestehen musste. Auf den Baustellen der Coral ist die ’Ndrangheta neben dem Wachschutz auch mit ihren Lastwagen, Baggern, Zimmerleuten präsent. An der Coral verdienen alle umliegenden Mafia-Zellen. Von Volpiano über Cuorgnè bis nach Turin. Sie sind am Bau des neuen Werksgeländes der Coral GmbH beteiligt, und am Bau der Büros der Altair Gruppe (die zur Coral-Holding gehört). »Große Baustellen«, die man ausbeuten kann. Ohne größere Verstellungen. Die ausführende Gesellschaft für die von der Coral GmbH vergebenen Aufträge wird offiziell von der Ehefrau von Valter Macrina geführt, einem vorbestraften Führungsmitglied der Mafia-Zelle von Volpiano (die Region, in der auch die Baugelände liegen). Auf einer der Baustellen ist auf dem offiziellen Schild Macrina als »Direktor der Arbeiten« aufgeführt. Ohne die geringste Mühe darauf zu verschwenden, das irgendwie zu verbergen. Gleiches gilt für die übrigen Geschäftsbeziehungen. So ist Macrina beispielsweise ganz offiziell als Mitgesellschafter bei der Edil.Ma.Co. eingetragen. Die übrigen Anteile hält die Coral GmbH. Anfallende Subaufträge werden innerhalb der »Familie« vergeben.
Für die Zelle von Cuorgnè arbeitet Bruno Iaria, für die von Turin sind Gioffrè, D’Agostino und Giuseppe Zucco tätig. Zucco ist daneben auch noch selbst Unternehmer und hat in wenigen Jahren ein Firmenimperium geschaffen. Den Posten des örtlichen Zellenchefs hatte er bis zu seinem Tod inne. Die von ihm geschaffene Immobilienholding mit der Canavesana Costruzioni an der Spitze, ist eine der wichtigsten Baugesellschaften rund um die Stadt Canavese (nördlich von Turin). Die Holding erwirtschaftete märchenhafte Gewinne. Innerhalb der Gesellschafterstruktur der Zucco-Holding tauchen auch Alberto Balagna, Giampiero Bertolino und Maurilio Bena auf, die wiederum Mitgesellschafter von Coral in der Provana GmbH sind: einer öffentlich-rechtlichen Gesellschaft für Kommunaldienstleistungen, deren Mehrheitsbeteiligung von der Gemeinde Leini gehalten wird.
Wo es den Clans nicht gelingt, eigene Firmen auf Baustellen einzuschleusen, holen sie sich mit Erpressung ihren Anteil. So passierte es einem ehrlichen Bauunternehmer, der keine Subaufträge an Mafia-Firmen vergeben wollte. Antonio Sinisgalli hatte eine Ausschreibung der Gemeinde Nole (nördlich von Turin) gewonnen. Die Gruppe um Argirò, die von der Ausschreibung Wind bekommen hatten, ließ Sinisgalli durch den Architekten Bartesaghi ausrichten, dass sie einen Subauftrag von ihm erwarten. Und zwar nicht irgendeinen, sondern die lukrativen Ausschachtungsarbeiten im Flussbett des Stura-Flusses. Aber Sinisgalli lehnt ab. Die Arbeiten vergibt er an eine andere Firma. Eine Schmach für die Bosse, die den Sinisgalli daraufhin in das Büro eines befreundeten Unternehmers bestellen. Ihm werden zwei Möglichkeiten angeboten: Die Vergabe eines Subauftrags an eine Mafia-Firma oder Zahlung von 20.000 bis 50.000 Euro in Cash.
Sinisgalli fährt von diesem Treffen direkt zur Polizei, erstattet Anzeige und identifiziert die Erpresser anhand von Fotos. Sinisgalli ist ein mutiger Mann. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen, die die angebotenen »Kompromisse« der piemontesischen ’Ndrangheta-Clans stillschweigend akzeptieren. Einer ’Ndrangheta, die nach und nach in alle Geschäftsbereiche vorstößt, legale und illegale. Von der Bauwirtschaft bis zu den Spielhöllen. Privatclubs, die einfach eröffnet werden, wofür nur eine kurze Mitteilung an die Gemeinde notwendig ist. Es müssen hierfür auch keine Lizenzen oder Bescheide beigebracht werden. Faktisch handelt es sich um Automatenspielhallen, illegale Spielcasinos. Orte, an denen junge wie alte Spielsüchtige ausgenommen werden. Der Club Pivello Sportivo und der Club Circolo Giuseppe Cesare Abba in Turin, in der Via Maddalene, sind zwei dieser illegalen Spielhöllen der ’Ndrangheta in Piemont.
Dabei wird die unternehmerische Methode, die spezifische Rollenverteilung auch im Wettgeschäft eingehalten: Geführt werden die diversen Privatclubs von Angehörigen der Mafia-Zellen vor Ort. Die Profite werden unter den beteiligten Zellen aufgeteilt. Neben der Zelle, die eine bestimmte Unternehmung starten möchte, ist noch die Beteiligung der Zelle notwendig, auf deren Territorium die Einrichtung liegt. Aber natürlich ist auch die Zustimmung des obersten regionalen Koordinationskomitees, des Crimine der jeweiligen Region, einzuholen. Ein Teil der Einnahmen wird den Angehörigen inhaftierter Clan-Mitglieder überwiesen, unabhängig davon, welcher Zelle diese angehören (also eine Art Umlage, die alle ’Ndrangheta-Zellen bezahlen).
Es wird intensiv gespielt in den Spielhöllen der ’Ndrangheta, vor allem »Texas Poker«. Hierzu heißt es im offiziellen Statut des Pivello-Clubs: »Freizeitaktivität ohne Gewinnerzielungsabsicht. Beabsichtigt wird dagegen, Laiensportaktivitäten zu praktizieren und zu bewerben (Turniere, Wettkämpfe, Meisterschaften), sowie interne Ausbildungs- und Fortbildungsgänge.« »Texas Poker« untersteht dem Crea-Clan in Turin. Um es in der Spielhölle von Leini anbieten zu können, muss Gioffrè um die Erlaubnis von Boss Crea bitten, mit dem er dann auch die Einnahmen teilen muss. »Er wollte sechzig Prozent. Ich hab zu ihm gesagt, Freundchen, was machen wir jetzt, wir alle müssen essen. Lass uns den Vertrag abschließen. Wir haben hier fünfzig Prozent der Einnahmen einbehalten. Mit anderen läuft es auch so, dass die fünfzig Prozent behalten. Also haben wir uns auf fünfzig geeinigt.« So lässt sich die Vereinbarung im Kern zusammenfassen.
Angesichts der Tatsache, dass Leini der Jurisdiktion der Mafia-Zelle von Volpiano untersteht, geht ein Teil der Einnahmen an den Agresta-Clan, dem dieses Territorium untersteht. Aber Neid sorgt für Streit. Die monatlichen Einnahmen übersteigen 50.000 Euro netto für jede aktive Spielhölle. Ein Profit, der vielen Appetit macht. »Das ist nunmal unser Gebiet, und daher müssen wir künftig alle anderen in aller Höflichkeit zurückweisen«, ließ der Agresta-Clan Gioffrè wissen. Die Spannungen steigen jedoch auch im Hinblick auf den Crea-Clan. Dessen Vertreter fordern, an den Einnahmen des Clubs von Gioffrè beteiligt zu werden, ihrerseits teilen sie aber keine Einnahmen. Eine Zeitbombe, die jederzeit explodieren kann.
Vermutlich stecken diese Spannungen hinter dem Anschlag, dem Giuseppe Gioffrè im Dezember 2008 zum Opfer fällt. Die aufgeheizte Stimmung hatte zuvor schon dafür gesorgt, dass Gioffrè die beiden Oberbosse der ’Ndrangheta, Pasquale Barbaro und Giuseppe Pelle, um Rat bat. Barbaro, dem die Situation Sorgen bereitete, diskutierte darüber auch mit dem Boss Antonio Papalia, der anordnete, den Konflikt beizulegen, da die Einnahmen aus den illegalen Spielhöllen der Versorgung der Angehörigen der Inhaftierten zugute kämen. Der Sohn von »Gambazza« sieht das alles etwas entspannter. »Ich würde dir raten, dich mit Cosimo [Crea] zu einigen.« Dann kommen die Verhaftungen dazwischen, die wenigstens kurzfristig für eine Abkühlung der Emotionen sorgen. Im April 2008 trifft es die Brüder Crea. Sie werden beschuldigt, zwei illegale Spielhöllen betrieben zu haben. Daraufhin schließt Gioffrè vorsichtshalber den Club von Leini, um nur wenige Monate später einen anderen in Turin zu eröffnen. »Die Leitung wird gemeinschaftlich von den Chefs verschiedener Mafia-Zellen ausgeübt.« Was der Circolo Giuseppe Cesare Abba an Einnahmen abwirft, wird unter allen Beteiligten aufgeteilt. »Diese spezielle Spielhölle bringt mehr als 100.000 Euro pro Monat.« Franco d’Onofrio zufolge, einem der Mitglieder des Crimine, gibt es Streit um die Abrechnung der Profite. Am 14. November fällt der Verdacht auf Gioffrè. Wenn die Führungsspitze der ’Ndrangheta erst einmal an der Treue eines Mitglieds zu zweifeln beginnt, ist die Strafe nicht weit. Zwei Monate später wird das von der ’Ndrangheta festgelegte Urteil vollstreckt: Don Peppe Gioffrè stirbt in Bovalino bei einem Attentat.
Für die ’Ndrangheta-Clans in Piemont besteht das Wettgeschäft nicht nur aus den illegalen Glücksspielen wie Poker. Das Spielautomatengeschäft betreibt jeder Clan für sich auf seinem Territorium. Es gibt jedoch eine Vereinbarung der ’Ndrangheta von Piemont auf höchster Ebene, die dem Agresta-Clan eine Art monopolistischer Verwaltung der Maschinen zuspricht. Zum Einsatz kommen auch Videospielgeräte aus der Produktion von Dario Corsini und Donato Cerrone. Mit ihnen hatte »der Marando-Agresta-Clan geschäftliche Beziehungen aufgenommen und teilte mit ihnen die Einnahmen«. Auch diese Einnahmen kommen dem Unterhalt der Angehörigen der Inhaftierten zugute.
Neben den Videospielgeräten führt die ’Ndrangheta auch klassische gastronomische Betriebe. Sie sind in der Hand der Clans aus Turin, die dem schönen Leben zugetan sind, dem süßen Nichtstun, also dem dolce far niente. Diese Clans stellen die Geschäftsführung der Cafés, Bars und Nachtclubs im Raum Turin. So auch im Fall der Bar Italia und der Bar Alexander, die ihnen als Tarnung, aber auch als Treffpunkt und Wahlkampfbüro dienen, oder um die Riten der Aufnahme neuer Mitglieder zu begehen.
In den Nachtclubs machen die Clans Geschäfte klar und sorgen für die Unterhaltung ihrer eigenen Clan-Mitglieder. Der Club Kiss One in Borgallo ist so ein Ort. Er wird von Antonino Perito geführt. Alles fing mit einer Schutzgeldforderung durch Bruno Iaria an. Im Laufe eines Jahres, berechneten die Ermittler, kamen so 20.000 Euro zusammen. Aber die Schutzgelderpressungen der ’Ndrangheta haben häufig einen tieferen Sinn. So wie der Zinswucher. Der Kauf des Clubs, der heute von Iaria geführt wird, lief über einen Kredit, den er dem Vorbesitzer zur Verfügung gestellt hatte, um das Schutzgeld zu bezahlen. Mit festem Ablösedatum. Als der nicht zahlen konnte, gehörte der Club Iaria.
Im Lokal benimmt sich Iaria wie ein »echter« Mafioso. Champagner berühmter Marken gibt es für ihn gratis, dazu Unterhaltung durch die Mädchen des Clubs, denen er Getränke bestellt, ohne dafür zu bezahlen. Er greift in die Organisation des Betriebs ein, sorgt für Streit mit anderen Stammkunden, hauptsächlich Kalabresen, »in einer Art und Weise, die seine dominierende Position unterstrich«. Arroganz, die er auch gegenüber den Mädchen an den Tag legt, »die er benutzt, um die eigenen Gelüste zu befriedigen, sowie die seiner Freunde und Gefolgsleute aus Kalabrien«. Iaria gibt die Telefonnummern der Mädchen an Freunde und Bekannte weiter. Eine Verhaltensweise, die unter den Mädchen des Kiss One für Irritationen sorgt.
Sex mit den Mädchen aus dem Osten ist nicht nur bei den Leuten von Iaria als Dienstleistung gefragt. Auch Giuseppe Barbaro brachte für gewöhnlich russische oder rumänische Mädchen in einen bestimmten Club in Turin, La Mansarda. Die Mädchen reisten, wie der Kronzeuge Rocco Varacalli erzählt, in der Regel »über Bovalino [Kalabrien] nach Italien ein. Er ließ sie dort für sich arbeiten, als ›Unterhaltungsdamen‹. Prostitution ist eigentlich ein unwürdiges Geschäft für einen ›Ehrenmann‹ der ’Ndrangheta. Und wurde von Natino [Brunos Vater Fortunato Iaria] nicht gutgeheißen. Er hatte Angst vor Polizeikontrollen, bei denen auffliegen konnte, dass die Mädchen keine regulären Aufenthaltsgenehmigungen hatten. Doch Natino ließ zu, dass Barbaro weiter Mädchen in den Club schleppte. Er wollte einem höheren Führungskader der ’Ndrangheta gegenüber nicht respektlos erscheinen. Und er wollte vermeiden, dass Barbaro ihn an Antonio Agresta ›auslieh‹, um für diesen Aufträge auszuführen und Gefälligkeiten zu organisieren.«
Dass die Mädchen über Bovalino ins Land kamen, wird auch durch eine abgehörte Unterhaltung des ermordeten Paten Gioffrè bestätigt. »Unser Kumpel Peppe hat mir erzählt, dass er noch zwei Mädchen in Bovalino habe. Ich hab ihm gesagt, dann bring sie doch mit. Das hat er auch getan. Jetzt sind sie hier. An die darf keiner ran, da ist er sehr eifersüchtig. Kumpel Natino, der ihm den Unterhalt zahlt, kann der sich so einen Luxus leisten wie Kumpel Peppe?«
Piemonteser Geschäfte, die den scharfen Geruch von Kokain verströmen. »Wir gehen zusammen joggen. Ich bin einfach zu fett geworden. Ich muss wieder ein paar Kilo runterkriegen.« Mit den überflüssigen Kilos ist aber kein Fett gemeint, sondern Kokain. Es handelt sich um Codeworte, abgesprochene Formulierungen, Gesprächspausen, die mehr sagen als tausend Worte.
Die Drogenhändler der Clans haben einen Cordon der Geheimhaltung um sich herum errichtet. Pasquale de Carolis ist zusammen mit seinem Bruder Costantino der norditalienische Repräsentant von Giuseppe Nirta, dem flüchtigen Boss, der es geschafft hat, ein unsichtbares, aber luxuriöses Leben zwischen dem Valle d’Aosta und Lloret de Mar in Spanien zu genießen. Den Ermittlern zufolge ist er die zentrale Steuerungsinstanz für den Drogenhandel der ’Ndrangheta. Bei ihm werden die Kokainlieferungen bestellt, vermittelt durch De Carolis, Gioffrè, Iaria, Agresta, Praticò und Mangono. »Dann nehm ich die Schweinewurst und die Salami.« Auch das ist eine kodierte Mitteilung. Tatsächlich geht es in dieser Unterhaltung zwischen den beiden Bossen um das »weiße Gold«. »Wie ist eigentlich der Preis?« – »1,5 Millionen Euro«, erklärt Gioffrè seinem Sohn Arcangelo die Importprojekte.
Kokainflüsse überschwemmen Italien. Piemonte, Emilia-Romagna, Lombardei. Ein breiter weißer Strom flutet die Halbinsel. Die Ermittler beobachten abgehende Lieferungen in Bovalino, Platì und Rom. Mit Zielen in Spanien, Belgien und Frankreich. Von dort trifft das Kokain auf den Lkws vertrauenswürdiger Spediteure wieder in Italien, diesmal in der Emilia Romagna und in Piemont, ein. Einer der Mafiosi, die mit der Organisation des Kokaintransports beauftragt waren, war Antonio Pagliuso, der »Crimine logistisch beim Transport der Substanzen unterstützt«. Er ist der Bruder von Fortunato, der 2010 zusammen mit anderen Clan-Unternehmern der Region Crotone (Kalabrien) und der Emilia-Romagna verhaftet wurde. Beide waren Gesellschafter der Bazzoni Autotrasporti GmbH in Gualtieri bei Reggio Emilia. Pagliuso unterstanden darüber hinaus zahlreiche Kuriere ausländischer Staatsangehörigkeit, die in Modena wohnten.
Wie immer geht es um die Achse Piemont-Emilia. Daraus ergibt sich eine neue Geschäftsidee. Ziel der Clans ist es, in den Nachtlokalen das Kokain immer in ausreichenden Mengen vorrätig zu haben. Kokain und Nachtclubs. Eine einträgliche Verbindung, wie sie im Gespräch über einen anderen Club ihre Bestätigung findet. »Wir suchten meinen Cousin auf, der eine Discothek hat. Er war einverstanden, vorausgesetzt wir liefern es ihm so zuverlässig wie Gottes Boten.« Der Cousin, über den hier gesprochen wird, ist Natale Surace, Eigentümer eines angesagten Lokals im Zentrum von Bologna. Er wird während der Operation »Marte« gefasst, die sich gegen die Clans von Romeo »U Staccu« und Giampaolo »Russello« aus San Luca richtete.
Auch unter den mittelalterlichen Zwillingstürmen im Zentrum Bolognas haben die Clans aus San Luca mittlerweile Fuß gefasst. Sie betreiben Pizzerien, Bars und verticken Kilo um Kilo Kokain. Ärzte, Anwälte, Selbständige, Unternehmer gehören zu ihren Kunden. Also die »gute« Gesellschaft. Darüber hinaus haben sie Hotels und Parkhäuser als logistische Basen in ihren Besitz gebracht.
Jedenfalls scheinen sie nicht erst seit gestern im Hauptort der Emilia-Romagna angekommen zu sein. Ihre kokainabhängigen Kunden zeigen Respekt und Dankbarkeit. Die Bosse bieten gute Qualität und gelten als »die besseren«, wenn es darum geht, es zu vermeiden, Spuren zu hinterlassen, die die Drogenfahndung misstrauisch machen könnten. »Mir brachten sie jede Menge Kilos, aber jetzt sind die Kalabresen verschwunden. Man hat ihre Bosse verhaftet, die aus San Luca. Das ist das Mafia-Dorf. Sie sind dort große Nummern.«
Kokain und Pizza, das sind die Spezialitäten der Clans aus San Luca. Wie in Deutschland, so auch in Bologna. Sie bewegen sich entlang ihrer bevorzugten ökonomischen Stoßrichtung. Unter von der Polizei dokumentierten Reisen der Clan-Drogenhändler Pizzata und Martè waren auch auffällige viele ins Valle d’Aosta. Reine Vergnügungstrips? Oder Dienstreisen, um neue Kokainpartien von Giuseppe Nirta zu übernehmen, der mittlerweile angeblich seine Zelte in diesen Alpentälern aufgeschlagen hat. Das war eine der Fragestellungen, die der Operation »Minotauro« zugrunde lagen. Aber weder diese noch die Folgeoperation »Marte« brachten darauf eindeutige Antworten.
Eine einzige Pizzeria reicht den Männern aus San Luca natürlich nicht aus. Antonio und Pasquale Marte aus San Luca wollen eine ganz für sich allein, und beschließen, einfach eine aufzumachen. Außerhalb von Bologna, in San Lazzaro di Savena. Um das neue Projekt auf den Weg zu bringen, führen sie mit einer »befreundeten« Steuerberaterin aus Bologna Gespräche. Sie gehört zum Netzwerk, das die ’Ndrangheta umgibt und sie mit weiten Bereichen der Gesellschaft verbindet. Die Brüder sind auch an einem Zigarettenladen im Zentrum von Bologna interessiert. Dessen bisherige Besitzer sind Stammkunden von ihnen. Clans aus San Luca haben im Zentrum von Bologna ansonsten hauptsächlich in Einzelhandelsgeschäfte und Gastronomiebetriebe investiert. Und so die Bar von Giuseppe Giampaolo erworben, der von den Ermittlern in Bologna für ein Mitglied des gleichnamigen ’Ndrangheta-Clans gehalten wird. Drogenbeschaffer Antonio Martè hielt sich dort des Öfteren auf.
Gaststätten und Cafés der Clans aus San Luca siedeln sich auch gern im Umfeld der Universität Bologna an, deren Akademiker eine zahlenkräftige, wohlerzogene, wohlhabende, wissensdurstige Kundschaft darstellen, eine ebenso unverdächtige wie kosmopolitische Kundschaft, die sich vom Bologneser Ableger der Romeo- und Giampaolo-Clans verpflegen ließ. Studenten, Arbeiter, Verkäufer, Angestellte, Selbständige, dazu Chirurgen, Chefärzte, Kabarettisten, Schauspieler und Teilhaber angesagter Clubs des lebhaften Nachtlebens von Bologna. Die nur ausnahmsweise ins Visier der Polizei geraten.
Pech hatte Raffaele Giunta, für den die Anti-Mafia-Behörde von Bologna einen Haftbefehl beantragte. Giunta war Arzt am Krankenhaus Sant’Orsola im Bereich der allgemeinen und der Transplantations-Chirurgie. Der Ermittlungsrichter lehnte zwar den Haftbefehl ab, aber aus den Unterlagen erschließt sich ein beunruhigendes Bild. »Tu mir doch diesen Gefallen, ich muss die ganze Nacht operieren«, schrieb Giunta an Alessandra Baretta, eine Kundin der beiden Mafia-Drogenhändler Pizzata und Martè. »Ich bin todmüde, seit heute früh bin ich hier, und wir müssen noch die ganze Nacht operieren. Ich hab noch zweihundert Notfälle vor mir, verstehst du?«, drängelte der Mediziner.
Noch beredter in Sachen Abhängigkeit ist das, was ein Freund von Baretta in einem abgehörten Gespräch sagte: »Gerade haben sie einen [Kurier] geschnappt, der aus Kolumbien kam, bei dem ist ein Beutel im Bauch geplatzt.« Und fügt hinzu: »Giunta hat ihn operiert und zwei der Kokain-Eier eingesteckt, eins für sich und eins für seinen Chefarzt. Die übrigen hat die Polizei mitgenommen.« Der Diebstahl war umsonst, wie die Beschuldigten erklärten, weil das Kokain von unterirdischer Qualität, fast ungenießbar war. Obwohl das »Paket« direkt aus Kolumbien stammte. Sogar ein Gerichtsmediziner, der als Berater für die Staatsanwaltschaft arbeitet, soll zu den Abnehmern des Kokains gehören.
Den Behörden ins Netz ging auch Natale Surace, geboren in Bagnara Calabra (Kalabrien), der aber schon seit Jahren in der Emilia-Romagna lebt. Er arbeitet als Technik- und Logistik-Referent der Universität und ist für die Vermietung der Räumlichkeiten zuständig. Von der Festnetznummer der Fakultät in der Via San Giovanni in Monte rief er bei der Pizzeria San Donato der Schwestern Pedullà an, den Töchtern von Maria Strangio.
»Die ’Ndrangheta in Bologna«, titelte eine Zeitung, die die ganze Geschichte brachte. Heutzutage keine Sensationsmeldung mehr in der Emilia-Romagna und in Piemont. Zwei Regionen, die die Kokain-Ökonomie verbindet. Zusammen mit der Lombardei formen sie ein »weißes« Dreieck. Das, was einmal aufgrund der Vorherrschaft der linken Parteien in diesem Gebiet als »rotes Dreieck« bekannt war, ist jetzt zu einem großen Marktplatz geworden, auf dem ein »Nahrungsergänzungsmittel« dominiert: Kokain. Ein Produkt mit außerordentlich hoher Nachfrage. Durch die Nase gezogen von seriös erscheinenden Selbständigen und von Jugendlichen, die nach Grenzüberschreitungen suchen. Eine Droge, die die üblichen Hierarchien und sozialen Grenzen überschreitet und von der die ’Ndrangheta unglaublich profitiert. Die Lasterhaftigkeit der Bevölkerung spült ihr täglich Unsummen in die Kassen. Die Mafia kumuliert durch entsprechende Investitionen der Drogenprofite horrende Vermögenswerte – und Macht. Beides lässt sich leicht zu neuen Profiten umsetzen innerhalb des Wirtschafts- und Finanzsystems der boomenden Regionen, in denen die Clans agieren.
Natürlich gibt es immer noch Leute, die meinen, die ’Ndrangheta sei eine Erfindung des Sensationsjournalismus, um die Auflagen zu steigern. Nicht wenige denken so. »Aber was ist die Mafia denn wirklich? Was isst sie, was trinkt sie? Wo lebt sie, wer hat sie je gesehen, die berühmte ’Ndrangheta?« Der Boss wurde zur Furie, als er seinen Namen einmal in der Turiner Zeitung La Stampa las. Es ging in dem Bericht um einen Kronzeugen, der über Gioffrès Aktivitäten in Turin sprach und dabei Affären und Mordanschläge erwähnte. »Verfickter Verräter«, beschimpfte ihn Gioffrè.
Dass die ’Ndrangheta tatsächlich ein Hirngespinst sei, eine Medienerfindung, ist die Privatmeinung von einigen. Fakten zählen dabei offensichtlich nicht. Vielleicht hat die Fehleinschätzung damit zu tun, dass die ’Ndrangheta immer unbewaffnet dargestellt wurde, als diejenige, die ihre Waffen abgegeben hat. Was in der Realität natürlich niemals so war. Im Gegenteil. Boss Gioffrè, der immer betont hatte, dass er nicht wisse, was eine Mafia sei, wurde selbst in Bovalino mit Maschinenpistolen regelrecht hingerichtet.
Hinter dem Anschlag steckten natürlich wieder Geschäfte. Konkurrenz. Neid. Atmosphärische Störungen im Ablauf der Millionengeschäfte. Das oberste Standgericht der ’Ndrangheta hatte das Urteil gefällt, sein Schicksal entschieden. Daran haben die Ermittler keinen Zweifel. Die gewalttätige Seite der Clans ist jedoch in den letzten Jahren zumeist übersehen worden. Vielmehr richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Reichtümer und die Macht der ’Ndrangheta. Aber in Turin, in Mailand, in Modena, in Bordighera wurde und wird weiterhin geschossen. Immer noch werden die Nächte von Brandanschlägen erleuchtet, mit denen Unternehmer eingeschüchtert werden sollen.
Es gibt Morde, die in der südlichen Peripherie der Region verübten werden, die die mafiöse Dynamik betreffen und auf ihre nördlichen Aktivitäten durchschlagen. Der Minotaurus repräsentiert das doppelte Antlitz der Mafien. Zurückgezogen und gewalttätig, finster und unverdächtig, liebenswürdig und grausam. Jenseits der »Gotenlinie« ist die Bestie trotz ziviler, juristischer und polizeilicher Bemühungen immer noch auf freiem Fuß. In ihrem Schlupfwinkel, unter einer dicken Decke aus Gleichgültigkeit.