15.

SCHWESTERN DES SCHWEIGEGEBOTS

Das Gefängnis untergräbt die Macht der Paten, aber nicht ihr Ansehen. Paten, die Haft- beziehungsweise lebenslange Freiheitsstrafen abbüßen, setzen ihr Vertrauen in ihre Brüder, Söhne, Neffen, Ehefrauen und Töchter. Ihnen vertrauen sie ihren Besitz, die Firmen und Teile des operativen und kriminellen Geschäfts der Clans an. Die Übergabe der Macht erfolgt sowohl in den Mafia-Hochburgen des Südens als auch innerhalb ihrer Ableger in den nördlichen Kolonien der Mafien. Die Paten vertrauen dem Schweigegebot, der Omertà, das ihre Frauen während ihres gesamten Lebens eingehalten haben. Es ist kein Zufall, dass die Frauen, die den Mafiosi in guten wie in schlechten Zeiten zur Seite stehen, als »Schwestern des Schweigegebots« (Sorelle dell’Omertà) bezeichnet werden.

Es ist ein Akt extremer Treue, den die Frauen der Mafia vollbringen. Treue zum Clan-Chef, zum Patriarchen, zum Boss und zu den Söhnen, die in die Fußstapfen ihrer Väter treten, sowie zum unabänderlichen System. Gewohnt an die archaischen Riten und an die Mafia-Macht, erziehen sie ihre Söhne im Gebrauch der Macht und zur Ehrerbietung gegenüber dem Boss. Einige lehnen sich auf, arbeiten mit der Polizei zusammen, um ihre Kinder vor dem Schicksal der Väter zu bewahren. Der Traum von einem ehrlichen Leben für die Kinder führt dazu, dass sie nach und nach die moralische Verpflichtung zum Schweigen hinter sich lassen. Ein Schweigen, an das sie mit dem Bluteid gebunden sind.

Die Frauen, die die Vorherrschaft der Mafia-Kultur stützen, entwickeln sich während der Haftzeit der beteiligten Männer von Opfern zu Racheengeln, zu Schwerkriminellen. Sie ordnen Strafexpeditionen an, begleichen schmutzige Rechnungen und stoßen neue illegale Unternehmungen an, um sie in die legale Welt einmünden zu lassen. Sie werden zu Unternehmerinnen, die an die Spitze von Firmen treten. Firmen, die echte Werte schaffen und Gewinne abliefern und mit deren Hilfe man die Herkunft der Drogenmilliarden verschleiern kann. Die Mafien respektieren die Frauenquote eher als die meisten italienischen Unternehmen und Behörden.

Wenn die Männer da sind, tarnen die Frauen als nicht Vorbestrafte für gewöhnlich die krummen Geschäfte der »Familie«. Damit kommt den Mafia-Frauen heutzutage eine Funktion zu, die für die Clans, die auf dem Rücken des Turbokapitalismus ins moderne Zeitalter eintreten, überlebenswichtig ist. Einer kürzlich durchgeführten Erhebung der sizilianischen Anti-Mafia-Organisation SOS Impresa zufolge, einem Ableger des Unternehmerverbandes, der gegründet wurde, um die Unternehmer zu verteidigen, die Schutzgelderpressungen und Wucher anzeigen, beträgt die Zahl der Frauen, die aufgrund des Artikels 416b des italienischen Strafgesetzbuches inhaftiert sind, 84. Aber tatsächlich übersteigt die Zahl der Frauen, die direkt oder indirekt wegen mafiöser Verstrickungen hinter Gitter sitzen, deutlich die 100.

Louis Vuitton, Dolce & Gabbana und Gold, auf das man verzichten müsste. Für Luana sind Markenartikel ein Zeichen der errungenen Macht im reichen Norden. Seit ihr Vater sie an die Spitze der Familienfirma gestellt hat, spürt sie angesichts ihrer neuen Macht öfter ein inneres Frösteln. Sie weiß, wie man Waffen gebraucht. Das musste sie bislang verbergen, auf Anweisung von oben. Das Konsortium aus Kooperativen, das sie führt, kann in seinen Büchern Aufträge in Millionenhöhe verbuchen. Zu ihren Kunden gehören die Supermarktkette Esselunga und Coca-Cola. Mit der Plackerei machen sie, bis die Auslagerung von Dienstleistungen reguliert wurde, märchenhafte Gewinne. Luana kennt jedes Geheimnis ihrer Familie. Ihre Methoden hat sie längst akzeptiert und verinnerlicht. Sie protestiert nicht, sie ist ein Teil des Systems.

Luana weiß genau, wem sie trauen kann und wer ihre Feinde sind. Es herrscht Krieg mit anderen Clans aus Isola di Capo Rizzuto, und mit ihren Verbündeten Arena und Nicoscia ziehen sie in die Schlacht. Auch wenn man in der Emilia-Romagna und der Lombardei eher zum Geschäftemachen und zum Schweigen neigt, auf den Straßen Kalabriens wird geschossen. Man kann sich nie sicher sein, denkt Luana. Besser, man ist jederzeit wachsam. Im Umfeld der Mafia verliert das Wort Vertrauen seine Bedeutung. Luana weiß, dass ihre Familie in den Polizeiberichten und in den Zeitungen auftaucht und in Verbindung mit den Nicoscias gebracht wird. Sie kennt die Verhaltensmaßregeln. Auch Entführungen gegenüber ist sie gleichmütig. Den Profit, der damit gemacht wird, verurteilt sie nicht. Sie nutzt das Geld, um mit ihrem Sohn zu verreisen.

Sie steht dem Vater in schwierigen Momenten bei. Als man versucht, ihn umzubringen, gibt sie ihm die Zuversicht zurück, die er verloren hatte. »Dir hat niemand was zu wollen«, beruhigt sie ihn. »Das waren vier Arschlöcher, die können organisieren, was sie wollen, aber der Clan wird sich niemals gegen dich erheben, das weißt du. Zu dem Zeitpunkt, als sie zuschlagen wollten, warst du nicht mal da. Erinnerst du dich?«, sagt Luana als Verwalterin der Familienfirma.

An Macht gewöhnt man sich. Sie macht unempfindlich. Luana verzieht keine Miene, als sie zusammen mit ihrem Vater und ihrem Onkel verhaftet wird. Vor den Augen der Fernsehkameras tritt sie flankiert von zwei Polizisten vors Haus. Dabei verliert sie keine Sekunde ihre Haltung. Sie ist selbstsicher. Mit aufrechtem Gang geht sie zum Polizeiauto. In der Hand hält sie ihr Louis-Vuitton-Köfferchen. Im Gefängnis bekommt sie jedoch eine andere Macht zu spüren. Luana bleibt nur kurz hinter Gittern. Das Gericht wird sie als freie Frau verlassen, alle ihre Besitztümer werden ihr zurückerstattet. Aber aus dem Bericht der Staatsanwaltschaft von Mailand geht eindeutig hervor – auch wenn ihm das Gericht nicht zu folgen vermochte –, welche Rolle ihr zukommt. Sie ist Ehefrau, Schwester, Geschäftsführerin, die schweigt, um die Familienehre zu retten. Sie zieht es vor, keine Kronzeugin zu werden, ihr geht es darum, an die Spitze des Familienunternehmens zurückzukehren.

Angela Diana ist täglich mit der Camorra konfrontiert. Auch wenn sie nicht mehr in San Cipriano d’Aversa lebt, sondern in Bastiglia, in der Provinz Modena. Sie hat dennoch nie die unsichtbaren Grenzen des Clans hinter sich gelassen. Sie hat eine Entscheidung getroffen, auf welcher Seite sie stehen will. An der Seite ihres Vaters und Clan-Chefs Raffaele »Rafilotto« Diana.

Angela und ihre Mutter Maria sind echte Manager. Sie sind in der Lage, die Einkünfte des Clans zu steuern. Sie organisieren Geld zur Unterstützung der inhaftierten Clan-Mitglieder, halten aber gleichzeitig auch den weiteren Betrieb der einträglichen Geschäfte aufrecht. Die rechtmäßigen und die unrechtmäßigen. Ehefrau und Tochter des Paten der modernen Mafien. Unternehmerinnen. Es ist nicht das erste Mal, dass die Frauen des Clans verhaftet wurden.

Raffaele selbst wurde nach sechsjähriger Flucht im Mai 2010 festgenommen, als einer der Anführer des Clans aus dem Raum Caserta. Der Clan der Casalesis hat sein Kraftzentrum in den Familien. Daher ist es keine Seltenheit, dass im Zuge der zahlreichen Polizeiaktionen auch Jahre später noch Ehefrauen, Kinder, Cousins oder andere enge Verwandten der Paten inhaftiert werden. Dieser familiäre Zusammenhalt ist eines der Kennzeichen der Camorra. Er ist ebenso fundamental für die ’Ndrangheta, für die Cosa Nostra und in etwas geringerem Maße auch für die Camorra Neapels. Mütter, Töchter und Söhne nehmen die Posten der Väter ein und führen das Goldzepter der Macht auf ihrem Territorium. Sie treiben die »Tribute« ein und verwalten die Reichtümer des Clans. Neben der Rolle als Managerin ist die Mafia-Frau jedoch unvermindert stark in die Tradition eingebunden und respektiert jederzeit die Regeln der Mafia.

Die Frauen, die am besten diese Dichotomie in sich zu verbinden verstehen, erringen Ruhm und Anerkennung, Macht und Respekt. Sie erhalten die Gelegenheit, das von ihren Männern geschaffene Imperium zu bewahren und zu vervielfältigen, bevor sie selbst hinter Gitter wandern und eine kalte Zelle auf sie wartet. Die Frauen in den Clans können festlegen, wie viele Millionen sie in ein bestimmtes Unternehmen investieren wollen. Was sie aber nicht können, ist, zum Friseur zu gehen und sich um ihr Äußeres zu kümmern, während ihr Mann hinter Gittern sitzt. Ihr Äußeres muss immer dem aktuellen Status ihres Mannes angepasst sein. Ist der Boss in Freiheit und gibt Befehle, ist die Frau abgesichert, gut gekleidet und protzt mit ihrem Reichtum. Ist der Mann aber im Gefängnis, wird sie umgehend unsichtbar und lässt sich gehen, und das, obwohl im selben Moment die Insignien der Macht an sie übergeben werden und sie als Stellvertreter des Paten in Erscheinung treten muss.

Die drei Frauen, die während der letzten Anti-Mafia-Operation verhaftet wurden – Maria Capone, Angela Diana, Ehefrau und Tochter von Raffaele »Rafilotto« Diana, sowie Barbara Crisci, Ehefrau von Giuseppe Caterino (Bezirksstatthalter der Mafia in Modena vor seiner Verhaftung, ihn ersetzte Diana) –, hatten eines gemeinsam. Sie waren alle in der Lage, Firmen zu führen, aber gleichzeitig lehnten sie die Regeln der Clans ab, welche von ihnen das Opfer verlangten, sich dem Paten zu unterwerfen. Unternehmerische Fähigkeit hatte auch Iana Gurlui bewiesen, die Freundin eines Mafioso aus dem Umfeld von Nicola Schiavone, dem Sohn von »Sandokan«. Er wurde während einer der letzten Anti-Mafia-Operationen verhaftet. Gemeinsam mit zwei Gefängniswächtern, die gemeinsame Sache mit den Gangstern gemacht hatten. Ihm kommt eine zentrale Rolle zu. Ihm oblag es, die Einnahmen der Clans zu verwalten und den Kontakt zum Mutterhaus, zur Provincia, zu halten. Ein Geschäft, das alle zwei Wochen 100.000 Euro in die Kassen des Clans spülte.

Dazu war es notwendig, eine Vertrauensperson zu installieren, und es ist nur naheliegend, dass vor allen anderen die Ehefrauen, Verlobten oder Töchter der Mafiosi diese Rolle übernehmen. Während die Männer sich vor der Justiz wegen Zugehörigkeit zum Organisierten Verbrechen verantworten müssen, verwalten ihre Frauen das Imperium. Wenig Schießereien und viele gute Geschäfte, das ist die Politik, mit der sich die Mafia das Entrée in die legale Wirtschaftswelt nicht nur in Modena verschafft hat. Eine Politik, die von den Spitzen des Clans beschlossen wurde und an der auch die Frauen aktiv partizipieren.

Diese Frauen können auch zum Instrument der Verbindung zwischen nördlichen Unternehmern und den Mafia-Bossen werden. Pasquale Zagaria, der Bruder des 2012 gefassten Oberbosses Michele Zagaria, hatte eine Tochter von Aldo Bazzini geheiratet, einem bekannten und mächtigen Bauunternehmer aus Parma. Dieser war ebenfalls wegen mafiöser Umtriebe zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Den Richtern zufolge hatte er als offizieller Strohmann des Clan-Chefs Pasquale »Bin Laden« Zagaria fungiert. Ehefrauen, Schwestern, Freundinnen, Töchter und einfache Fußsoldaten können Strohmänner und -frauen werden. Sie können ihre Identität in ein Tauschgeschäft einbringen und sich an die Spitze von Firmen und Immobilienholdings hocharbeiten, sowie sichere, unverdächtige, nicht abgehörte Telefone besorgen. Sie verwalten die Reichtümer, die es mit dem Rest der Familie zu teilen gilt. Und im Wirbel der Tarnbezeichnungen und Strohmänner in der Wirtschaft, die zur Verwirrung der staatlichen Strafverfolgungsbehörden führen sollen, können auch die Verlobten der Töchter und die Schwestern der Bosse eine Rolle übernehmen. Die Taktik der Tarnung des Immobilienbesitzes durch weibliche Führungspersonen ist mittlerweile verbreitete Praxis innerhalb der Ständepolitik der Mafia-Organisationen. Schwestern fungieren in diesem System auch als Ratgeber und Informationsbeschaffer. Schwestern, die eigentlich Gott geweiht sind, die aber ihren Brüdern, den Feldmarschällen der Clans, raten, wie sie sich verhalten und vor wem sie sich in Acht nehmen sollen.

Rosa Alba Maria hat das Gelübde abgelegt. Sie gehört zum Orden der Paolinerinnen und ist stellvertretende Klinikdirektorin am Krankenhaus Regina Apostolorum in Albano Laziale. Gleichzeitig ist sie die Schwester von Paolo Martino, dem Boss der Mailänder ’Ndrangheta, der sich zwischen Handlangerdiensten, Gepäckträgern, Spielautomaten, Zeitungskiosken und Nachtlokalen, in der Welt des Spektakels und der Politik bewegt. Rosa Alba und Paolo stehen sich sehr nahe, die räumliche Distanz hat daran nichts zu ändern vermocht. Vertrauen und gemeinsame Interessen sind die Basis ihrer Gespräche. Der Boss wendet sich an sie, um von ihren Kenntnissen zu profitieren, wenn es darum geht, Informationen über geplante Untersuchungen gegen ihn und seine Verbrecherbande einzuholen.

Die Prestigeposition der Schwester an der Verwaltungsspitze des traditionsreichen Krankenhauses, das nahe der päpstlichen Sommerresidenz im Südwesten Roms gelegen ist, gibt Paolo die Sicherheit, über eine wichtige, unmanipulierte Informationsquelle zu verfügen. Rosa Alba ist in der Lage, auch brisante Dinge in Erfahrung zu bringen, mittels einer dritten Person, einer Mitschwester, die – wie aus den Untersuchungsunterlagen hervorgeht – sehr hoch in der vatikanischen Hierarchie angesiedelt ist.

Als er seiner Schwester davon berichtet, dass angeblich gegen ihn etwas im Gange sei, verspricht ihm diese, sich umzuhören. Wenige Tage später meldet sie sich bei ihm und bestätigt seine Befürchtungen. Eine Freundin von ihr hat sie darüber informiert, dass es offenbar einen Verräter unter Paolos Leuten gibt, der heimlich mit den Justizbehörden zusammenarbeitet. Aus den Worten von Rosa Alba kann man die ganze Verachtung heraushören, die sie gegenüber jemandem empfindet, der mit der Justiz zusammenarbeitet und den Staatsanwälten Hinweise gibt, in welche Richtung sie ermitteln sollen. Sie benutzt das Wort »singen« statt »kollaborieren«.

Aber die Bereitschaft von Rosa Alba, ihrem Bruder, dem Mafioso zu helfen, geht noch deutlich weiter. Sie ist bereit, ihm die Betschwester vorzustellen, die ihr die Informationen über die in Gang befindlichen Ermittlungen vermittelt hat. Zudem sagt sie ihm, dass auch die Schwester seine Bekanntschaft machen möchte. Rosa Alba ist seit langem Hüterin unaussprechlicher Geheimnisse, die man nicht beichten kann. Geheimnisse in der Grauzone zwischen Religion und Verbrechen, Beispiele für die furchtbaren Bande, die Teile der Kirche mit der Mafia verbinden. Dies wurde auch wiederholt von Don Luigi Ciotti beklagt wurde, dem Gründer und Präsidenten der Vereinigung Libera. In seinen engagierten Reden erinnert er oft daran, dass man glaubwürdig sein muss, bevor man gläubig werden kann, und dass die Treue sich nicht darauf beschränken darf, Kruzifixe mit Küssen zu bedecken, sondern dass man der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen muss. Man muss sie praktizieren und sie verbreiten.