16.
LEA UND DENISE, ABTRÜNNIGE MAFIOSI-FRAUEN
Nicht alle Frauen akzeptieren das Gesetz der ’Ndrangheta, das Gesetz der Clans. Sie widersetzen sich. Sie begehren auf. Ihre Leidensgeschichten von Widerstand und Unterdrückung spielen sowohl im tiefen Süden Italiens als auch im Norden des Landes. Erlebnisse von Müttern, Ehefrauen, Töchtern, die gegen den Ehemann, den Sohn, den Bruder aufbegehrten, der zugleich der Boss eines Clans ist, und dafür mit ihrem Leben bezahlten.
Lea wollte nicht länger die Rolle der Mafia-Mutter spielen. Sie wollte nicht länger die Schwester der Omertà geben. Sie war die Schwester eines Paten aus Petilia Policastro (bei Crotone in Süditalien) und die Ehefrau eines Bosses der lombardischen ’Ndrangheta. Ihr Lebensweg war vorgezeichnet. Aber irgendwas sagte ihr, dass sich die Dinge auch ändern können. Die eisernen Regeln der ’Ndrangheta, die seit Jahrhunderten Männer, Frauen und Landschaften in Fesseln schlagen und sie gefangenhalten, können gebrochen werden. Und dass es schon ausreichen würde, zu wollen, sagte sie sich.
Dieser Gedanken kam ihr, als sie ihre Tochter betrachtete. Sie schaute ihr in die Augen und wusste, dass die Flucht aus diesem Tunnel der einzige Weg für einen Neuanfang war. Lea und Denise. Mutter und Tochter, geeint im Kampf um ein anderes Leben. Ein Leben, das sich von ihrem bisherigen unterscheiden sollte. Sie wollten nicht länger Geiseln der ’Ndrangheta sein. Sie wollten eine Zukunft. Sie wollten frei sein. 2002 entschloss sich Lea dazu, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Sie wollte jenes Leben hinter sich lassen, das mit ihrem Nachnamen verbunden war. Seit ihr Bruder es in die höheren Ränge der ’Ndrangheta geschafft hatte, erfreut sich dieser im Raum Policastro und in Mailand eines »guten« Klanges.
Floriano Garofalo ist der unbestrittene Herrscher des Ortsteils Pagliarelle in Petilia Policastro bei Crotone. Ein Boss, dem zahlreiche junge Anbeter folgen. Nachwuchsverbrecher, die davon träumen, es ebenfalls bis ganz nach oben in der kriminellen Hierarchie zu schaffen, bis ins Gremium des Crimine. Unter den Fußsoldaten des Paten war der entschlossenste ein Mann namens Carlo Cosco. Ein Niemand für die Bosse der ’Ndrangheta in Kalabrien und in der Lombardei. Schlachtfleisch, wie all die anderen Jungen. Aber Cosco hatte einen Plan. Seit einiger Zeit trieb ihn der Traum vom Aufstieg um. Am schnellsten ist das traditionsgemäß zu bewerkstelligen, indem man in die führende Familie einheiratet. Dafür bot sich Lea an, die bis dahin ledige Schwester von Floriano. Damit wäre eine Führungsposition in der Mafia-Hierarchie quasi garantiert. Lea wurde eine leichte Beute, für ihn die Eintrittskarte in den Zirkel der respektierten Mafia-Anführer.
Lea kennt das Übel, das sie umgibt, nur zu gut. Sie nimmt es hin, unterwirft sich und wird ein Teil von ihm. Sie ist eine vorbildliche »Schwester des Schweigens«. Stillschweigen ist das oberste Gebot. Ohne Murren hatte Lea die Grundregel der ’Ndrangheta akzeptiert. Ihr konnten die Bosse blind vertrauen.
Zu Beginn der neunziger Jahre ändert sich Leas Einstellung. Nach unzähligen Razzien und ebenso vielen Verhaftungen ihres Mannes hat sie das Gefühl, etwas ändern zu müssen. Dieses unsichere Leben zwischen Rechtsanwalt und Knast macht sie fertig. Dann wird Denise geboren, die sie über alles liebt und die sie vor den Fallstricken der Mafia bewahren möchte. Der Mutterinstinkt bringt sie dazu, Carlo Cosco zu verlassen. Sie überlässt ihn seinem Schicksal, um Denise eine normale, ruhige Zukunft bieten zu können.
Natürlich hat sie versucht, Carlo das Versprechen abzuringen, sein Leben zu ändern, aber sie weiß nur zu gut, dass man sein Todesurteil unterschreibt, wenn man der ’Ndrangheta den Rücken zudreht. Sie weiß, dass ihr Mann nach wie vor in Treue fest zum Clan steht, koste es, was es wolle. Lea entscheidet sich allein, für ihre Tochter Denise. Sie zieht einen Strich unter dieses Leben, das sie als erdrückend empfindet und von dem sie sich losreißen möchte.
Immer wieder hatte sie versucht, mit Carlo darüber zu reden. Als er wieder einmal im Gefängnis saß, sagte sie ihm, dass sie ihn verlassen und Denise mitnehmen werde, wenn er nicht aussteigen würde. Worte, die Carlo in rasende Wut versetzten und dazu führten, dass er ausrastete und sie zu Boden schlug. Das, was Lea ihm mitgeteilt hatte, stellte eine ungeheure Beleidigung für einen »Ehrenmann« wie ihn dar. Er fürchtete, dass die Neuigkeit im Knast die Runde machen und er zum Gespött seiner Mithäftlinge werden würde. Die Schande war so groß, dass Carlo sogar darum bat, in eine andere Anstalt verlegt zu werden. Er wollte nicht länger dem Spott seiner bisherigen Kameraden ausgesetzt sein.
Lea bleibt keine andere Wahl. Sie muss weggehen, ohne vorher ein Wort zu sagen. So wie sie lange Jahre die Regel des Schweigegebots akzeptiert hatte, so entscheidet sie sich jetzt in aller Heimlichkeit dafür, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Sie sagt aus, und berichtet den Staatsanwaltschaften von Catanzaro und Mailand von Verbrechen, Morden, Drogenhandel. Lea und Denise werden 2002 in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Sie erhalten eine neue Identität. Sie beginnen ein neues Leben, ständig an neuen Orten, die von Fall zu Fall für sie ausgesucht werden. Eine bittere Situation für Lea, die ein normales Leben für Denise wollte.
Einsamkeit und Angst bestimmen von nun an ihr Leben. Schnell wird sie des Lebens als Kollaborateurin überdrüssig. Sie war davon ausgegangen, dass der Staat ihr ein besseres Leben ermöglichen könne. Sie hatte gehofft, als Kronzeuge eingestuft zu werden. Weil sie über den inneren Zirkel aussagte und selbst keine Verbrechen begangen hatte. Stattdessen erhält sie nur den niedrigeren Status als normale Zeugin im Schutzprogramm, das mit deutlich weniger Privilegien und Schutzmaßnahmen verbunden ist. Der ständige Stress deprimiert Lea. Sie denkt darüber nach, was für einen Sinn ihr Schritt letztlich gemacht hat. Es quält sie. Sie fühlt sich schuldig, hat Angst, leidet unter dem Verlust der alten Heimat. Sie kann nicht mehr schlafen. Das alles nimmt ihr die Freude an dem neu gewonnenen Leben.
Denise wächst heran. Schule, Freunde, Jugend, erste Liebe. Wie soll sie ihr auch nur ein Mindestmaß an Normalität garantieren, in diesem Leben als Gefangene, Isolierte, »Reuige«. Sie denkt an ihre Ehe zurück, an Carlo, der ihr so viel Leid zugefügt hat, der aber trotz allem der Vater ihrer Tochter ist. Es ist nun mal nicht einfach, komplett mit der Vergangenheit zu brechen. Die Tage vergehen. Lea schwankt zwischen Mutlosigkeit, Furcht, Angstattacken und bleierner Unbeweglichkeit. Sie muss einen Weg finden, um der Existenz von ihr und ihrer Tochter wieder einen Sinn zu verleihen. Davon ist Lea überzeugt.
Sie entscheidet sich, das Zeugenschutzprogramm zu verlassen. Sie will es noch einmal mit Carlo versuchen, mit ihm wieder als Familie zusammenleben. Als letzte Chance. Wenn das nicht klappt, sagt sie sich, werde ich Carlo nie mehr erlauben, seine Tochter zu sehen. Aus Leas Sicht ist das die einzige Chance, um Denise wieder ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen. Ein Leben wie das ihrer Altersgenossen in der Schule. Sie flüchtet sich in die Sehnsucht nach Normalität. Sie will die Versöhnung. Für Denise. Das Leben von Lea und Denise gleicht zu diesem Zeitpunkt einem toten Rennen. Jenseits aller Logik, aller Befehle, aller Verhaltensmaßregeln der ’Ndrangheta. Wir werden alle zusammen im mittelitalienischen Campobasso leben, das ist ihr Plan. Weit weg von den Hochburgen der Mafia.
Lea klammert sich an den Gedanken, dass das die Lösung für alle ihre Probleme ist. Zu ihrer Überraschung akzeptiert Carlo ihren Vorschlag ohne größere Diskussionen. Er erklärt sich auch bereit, wie von ihr vorgeschlagen ein gemeinsames Familienheim in der Region Molise anzumieten. Carlo Cosco ist ein harter Kerl. Dank des Nachnamens seiner Frau hat er das erreicht, was er immer wollte. Ich bin doch kein Vollpfosten, denkt er sich. Gerade hab ich mir meinen Marktanteil gesichert. Es läuft alles bestens. Warum sollte ich das alles aufgeben? Mir gefällt dieses Leben. Mittlerweile hat er angefangen, Drogen zu konsumieren, damit zu handeln und den Transport zu organisieren. Er arbeitet auf den Baustellen für die M 5, die neue Linie der Mailänder Untergrundbahn. Die Lastwagen seiner Firma besorgen den Transport des Aushubs, so wie die unzähligen anderen Firmen seiner kalabrischen Landsleute. Er lebt als etablierter Mafioso in der Lombardei und hilft mit, die Fundamente der Moralität in der Lombardei zu untergraben.
Lea hat er gesagt, dass er sein Leben künftig der Familie widmen möchte. Dass er mit den Drogen aufhört. Lea, die weiß, dass er ihr falsche Versprechungen macht, glaubt ihm trotzdem. Sie will einfach an ein anderes Morgen glauben, das Stabilität und Sicherheit verspricht. In Campobasso gehen die Uhren langsamer. Fast schon langweilig ist das Leben dort. Im Vergleich zu Mailand ist es eine andere Welt. Aber die Menschen sind herzlich, sie sehen dich nicht schief an, wenn du aus Kalabrien kommst. Sie sind nicht scheinheilig, sie stellen Kalabresen nicht gleich unter Generalverdacht. In der Lombardei, so erinnert sich Lea, gab es so viele Politiker und Unternehmer, die tagsüber die Süditaliener nach Kräften schikanierten und wie Mafiosi behandelten, und nachts – vor den Augen der Ermittlungsbeamten – machten sie mit den von ihnen eben noch geschmähten Kalabresen Geschäfte, tauschten Gefälligkeiten aus und vergaben Aufträge gegen Wählerstimmen.
Die ersten Tage in Campobasso verbringen sie damit, die Ruhe zu genießen. Carlo ist selten zu Hause, was Lea als störend empfindet. Dennoch kehren Lea und Denise zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zu so etwas wie einem normalen Leben zurück. Als Mutter und Tochter. Lea spürt zwar, dass ihr Mann sich entgegen seinen Beteuerungen nicht gewandelt hat, dass er sein altes Leben keineswegs zu beenden gewillt ist. Trotzdem will sie bei ihm bleiben. Lea kennt ein Geheimnis von Carlo. Sie weiß, dass er sehr viel Geld investiert hat, um sie und ihre Tochter, die er als sein Eigentum ansieht, während der Zeit im Zeugenschutzprogramm zu finden. Lea spricht mit Carlo darüber. Sie sagt ihm, dass es gar nicht notwendig gewesen sei, all das Geld auszugeben. »Ihr kamt immer erst an, als sie uns schon in einen anderen Ort gebracht hatten.«
Ihr entgeht nichts. Bis auf eine Sache. Diese krampfhafte Suche, die ihr Ehemann in Gang gesetzt hatte, sein plötzliches Einverständnis, wieder zusammenzuleben, verdecken etwas Schreckliches, das Lea im Augenblick noch nicht zu erkennen vermag. Die Wochen vergehen. Lea erträgt Carlos übliche Wut, die übliche Gewalt. Mafiöse Arroganz, die ihn schnell wieder hinter Gitter bringen kann. Sie und ihre Tochter müssten ihr Leben dann ein weiteres Mal ohne ihn zubringen. Was für ein Vater soll das sein, der so etwas macht?, fragt sich Lea. Die innere Zerrissenheit quält sie erneut. Nach einem Monat kommt es zu einem neuen Streit. Lea setzt Carlo und seine Verwandten vor die Tür. Die beiden rebellischen Frauen beschließen, allein zu leben. Mutter und Tochter beginnen noch einmal bei Null. Wieder auf der Suche nach Normalität. Doch für Carlo ist das Maß jetzt endgültig voll. Diese zweite Auflehnung ist für einen Mann von Ehre unverzeihbar. Er denkt über Rache nach und beginnt mit seinen Planungen.
Mai 2009. Die Frühjahrssonne im Molise wärmt Lea und Denise. Lea kennt die Gesetze und Reaktionsweisen der Mafiosi und rechnet fest mit irgendeiner Retourkutsche. Carlo wird ihr den Rauschmiss nie verzeihen. Jedes Mal, wenn es an der Wohnungstür klingelt, schreckt sie auf. Leise fächelt der Wind die Vorhänge an den Fenstern. Türen schlagen. Die Bodenbretter knarren. All das macht Lea nervös. »Mama, es klingelt an der Tür!«, ruft Denise. Lea fragt durch die Tür, wer da ist. Der Mann, der die Waschmaschine reparieren soll. Seltsam, denkt Lea, sie hat gar keinen Monteur bestellt. Aber die Waschmaschine ist tatsächlich kaputt, und Carlo hatte ihr kurz vor dem Rausschmiss noch gesagt, dass er einen Handwerker bestellt habe.
Lea lässt den Techniker herein. Als sie ihm einige Minuten bei der Arbeit zusieht, merkt sie, dass er ihr etwas vorspielt. Er kennt sich mit Waschmaschinen überhaupt nicht aus. Der »Handwerker« bemerkt ihr Misstrauen und läuft in die Küche. Er schnappt sich ein Messer und greift Lea an, versucht, sie zu würgen. Aber Lea tritt ihn in den Unterleib, wehrt sich mit aller Kraft. Sie setzt ein, was sie an Kampfsportgriffen kennt. Sie kämpft verzweifelt für ihre Freiheit und für ihre Tochter. »Komische Geräusche haben mich aufgeweckt«, erzählt mir Denise. »Als ich aus meinem Zimmer kam, habe ich gesehen, wie meine Mutter mit einem Mann kämpfte. Ich hab meiner Mutter geholfen, so gut ich konnte, und hab mit voller Kraft auf den Mann eingeschlagen, bis dieser von meiner Mutter abgelassen hat und floh. Er ließ jedoch seinen Werkzeugkasten zurück, in dem die Carabinieri einen Gummiball fanden, ein Seil, Klebeband, eine Schere, einen Elektroschocker und einen Schraubenzieher.«
Das Material im Werkzeugkasten des angeblichen Monteurs hätte dazu dienen sollen, Lea zu foltern und aus ihr herauszupressen, was sie vor Gericht ausgesagt hatte. Geständnisse, die ihren Mann beunruhigen. Aussagen, die den Ermittlern dabei helfen könnten, eine neue Ermittlung zu einem ganzen Bündel von Verbrechen zu beginnen. Lea umzubringen, ist nur das sekundäre Motiv für Carlo Cosco und seine Brüder. Vor ihrer Ermordung wollen sie noch wissen, was sie den Ermittlern verraten hat.
Seit jenem Mai 2009 wird auf Lea Jagd gemacht. Denise ist der Ehrenpokal, den es zu erringen gilt. Der Männlichkeitswahn von Carlo Cosco zeigt sich in seiner ganzen mafiösen Abartigkeit. Es kommt der 25. November 2009. Lea ist verschwunden. Keine Spur von ihr in Mailand. Die letzten, die sie gesehen haben, sind Denise und Carlo Cosco. »Verdammtes Mailand«, denkt Denise. Sie hätten nicht hierher zurückkommen dürfen. Ihre Mutter und sie waren für ein paar Tage in Florenz. Dann hatte Denise einen Anruf von ihrem Vater erhalten, der sie nach Mailand einlud. Da Lea sie nicht allein fahren lassen wollte, entschloss sie sich, ihre Tochter zu begleiten. Zu einem festlichen Abendessen mit Carlos Familie wollte sie aber nicht mitkommen. Deshalb ließ sich Lea am Arco della Pace absetzen. Sie wollte nicht, dass die Brüder ihres Mannes von ihrer Anwesenheit in Mailand erfuhren, weil sie erneute Attacken fürchtete. Sie entschloss sich, in einem Hotel zu übernachten. Zwei Tage vergehen schnell, dachte sie. Sie wollten sich am Abend des 24. Novembers wiedertreffen, um gemeinsam mit dem Zug zurück nach Kalabrien zu fahren. »Tschüss Mama, bis übermorgen«, das sind die letzten Worte, die Lea von ihrer Tochter Denise hört. Sie wird sie nie wiedersehen. Sie verschwindet spurlos. Sie verschwindet in den nebelverhangenen Landschaften der Brianza. Ein Sprung ins Leere. Ein Leben, ausgelöscht von der Rache der ’Ndrangheta.
»Das, was sich in Mailand abspielte, in einem zentralen und belebten Stadtbezirk, ist ein Fall der Lupara bianca. Ein unblutiger Mafia-Mord, der deutlich weniger öffentliche Aufmerksamkeit nach sich zieht als die üblichen blutigen Anschläge. Oft und fälschlich wird angenommen, dass derlei nur weit weg, in abgelegenen Provinzregionen stattfindet. Aber dieser Mord geschieht mitten in einer italienischen Großstadt. Unter den Augen ahnungsloser Passanten taucht eine zierliche Frau auf, deren letzte Minuten von einer Überwachungskamera in der Straße aufgezeichnet werden. Vertrauensvoll steigt sie ins Auto ihres Exmannes. Der Vater ihrer Tochter, der vorbestrafte Carlo Cosco. Das ist der letzte Moment, in dem Lea Garofalo lebend gesehen wird.« So steht es im Haftbefehl für die Brüder Cosco aus dem Jahr 2010.
Seit jenem 24. November 2009 fehlt jede Spur von Lea. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Denise bleibt allein zurück. Sie kehrt nach Petilia Policastro zurück. Nach Kalabrien, zu ihrer Verwandtschaft. Ihre Mutter fehlt ihr unendlich. Denise quälen die Bilder. In ihrem Kopf mischen sich schreckliche Szenen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehen ineinander über, fließen zusammen zu einem einzigen und entsetzlichen Alptraum. Sie studiert die atavistischen Verhaltensnormen der Mafia-Kultur, und ihr wird klar, warum ihre Mutter verschwunden ist. Verletzte Ehre. Durch Kollaboration befleckte Ehre. Ehre, die nur mit Blut wieder reingewaschen werden kann. In ihrer zerrissenen Seele fühlt Denise das Gewicht der Wahrheit. Die Wahrheit, weiß sie, kann viel Schaden anrichten. Aber Denise folgt ihr ungeachtet der Konsequenzen. Sie folgt ihr und flieht aus Petilia.
Im April 2010 verlässt sie Kalabrien. Die Brüder Cosco fürchten, dass Denise in die Fußstapfen ihrer Mutter treten könnte, fürchten, dass sie anfängt, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Sie beginnen mit Drohungen, um sie zur Rückkehr nach Petilia zu bewegen. Die verängstigte Denise gehorcht. Währenddessen kommen die Ermittler bei ihren Untersuchungen einen Schritt weiter. Mit Hilfe von Kronzeugen, allen voran Angelo Cortese, der ehemaligen rechten Hand von Nicolino »Manuzza« Grande Aracri. Den Staatsanwälten erzählt er, dass er 2003 im Gefängnis von Catanzaro zusammen mit der Haute Volée der ’Ndrangheta einsaß und während seines Aufenthalts dort auf Carlo Cosco traf. Dieser bat die übrigen Bosse um Rat und Hilfe. Darunter auch Cortese, der sich an verschiedene Planungen zur Ermordung Lea Garofalos erinnert.
»Ehrenmotive«, erklärt der Kronzeuge den Staatsanwälten. Und fügt noch ein wichtiges Detail hinzu. Er berichtet, dass Cosco die Absicht gehabt habe, den Körper der Toten in Säure aufzulösen, um ihr Verschwinden wie eine Flucht aussehen zu lassen. Säure, um jegliche Spur von Lea zu vernichten. Säure, damit nichts, aber auch gar nichts von Lea übrig bleibt. Säure, um ihren Körper und die Keime der Veränderung aus der rebellischen Aktion Leas zu vernichten. Die Säure als Metapher der zerstörerischen Kraft der ’Ndrangheta.
Denise erzählt den Staatsanwälten erschreckende Dinge. Über ihre Rückreise nach Petilia, bei der sie von ihrem Vater und Mörder ihrer Mutter, Carlo Cosco, sowie seinem Bruder und einer dritte Person namens Diego begleitet wurde, sagte sie: »Ich saß hinten und weinte in einem fort, während sie aus vollem Hals lachten.« Denise kann ihre Tränen während der ganzen Zeit dort nicht mehr stoppen. Es sind schreckliche Tage. Aber nur für sie. Bosse, Paten, Blutsbrüder setzen ihr normales Leben zwischen Spielautomaten, Partys, Gelächter, Beleidigungen der menschlichen Würde fort. Sie leben weiter für die ’Ndrangheta, als wäre nichts geschehen. Denise ist schockiert und angewidert. Sie ist völlig fertig und sucht nach Trost in den Erinnerungen. Sie träumt noch immer von einem normalen Leben.
Im Oktober 2010 werden die Brüder Cosco festgenommen. Sie werden angeklagt wegen des Mordes an Lea Garofalo. Außerdem werden sie beschuldigt, den Mord durch die Vernichtung des Leichnams – mittels Säure – vertuscht zu haben. Die Ermittler finden einen 50-Liter-Eimer. Aber die Säure hinterlässt keine Spuren.
Die Staatsanwaltschaft rekonstruiert das Verbrechen. Lea wird im Zentrum Mailands am Corso Sempione entführt und in einem Lieferwagen an die Peripherie von Mailand gebracht. In eine Lagerhalle, unweit der Autobahn Mailand-Meda. Dort warten schon Sergio und Giuseppe »Smith« auf sie, beides Brüder von Carlo Cosco. Sie haben den Lieferwagen angemietet, in dem Lea gefesselt und geknebelt liegt. »Von Cosco habe ich erfahren, dass Lea vergewaltigt und gefoltert wurde, weil sie von ihr wissen wollten, was sie der Staatsanwaltschaft über den Mord an ihrem Bruder verraten hatte. Dieser war ebenfalls in Säure aufgelöst worden. Und dasselbe Schicksal war auch für Lea vorgesehen«, erklärte Salvatore Sorrentino, ein Häftling, der mit dem mutmaßlichen Anführer der Entführung, Massimo Sabatino, einsaß. Sabatino soll im Übrigen auch derjenige gewesen sein, der den falschen Waschmaschinenmonteur mimte.
Salvatore Sorrentino ist der Hauptzeuge im Rahmen der Ermittlungen, die zur Verhaftung der Gebrüder Cosco führte. Die Coscos gelten als die Könige des Kokainhandels im Mailänder Ortsteil Quarto Oggiaro. Sie sind die Herren des Schutzgeldes und der Sozialwohnungen, die sie illegal vermieten, so auch an chinesische Händler aus der Via Sarpi in Mailand. Nicht zuletzt handelt es sich bei ihnen um die »Herren der Erdarbeiten«.
Denise wurde nach der Verhaftung ihres Vaters wieder ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Sie arbeitet jetzt als Zeugin mit der Justiz zusammen. Sie ist in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten und lebt jetzt an einem geheimen Ort, wird beschützt. Sie hat am Prozess teilgenommen, der in Mailand verhandelt wurde, als Opfer der ’Ndrangheta. Sie beschuldigte ihren Vater, den Mord an ihrer Mutter begangen zu haben, und riskierte damit ihr Leben. Eigentlich müsste sie ein Vorbild für alle sein, aber Minister Maroni und die Siegelbewahrer haben nicht allzu viele Worte darüber verloren. Es ist eine Region mit schlechtem Kurzzeitgedächtnis. Nur die Vereinigung Libera kommt ihr zu Hilfe. Sie unterstützt sie während des im September 2011 begonnenen Prozesses.
Denise sagt: »Ich habe meinen Vater immer gefürchtet.« Dennoch weicht sie nicht zurück. Sie antwortet auf die Fragen des Anwalts des Vaters und akzeptiert nicht, was ihr diese suggerieren wollen. Ihre Mutter sei ins Ausland geflohen. »Und wie kommt es dann, dass ich meine Mutter zwei Jahre nicht gesehen habe, wenn sie angeblich immer noch lebt? Wie wahrscheinlich ist ein solches Szenario?«, entgegnet die Zwanzigjährige kühl. Von den Gegenpositionen der Anwälte ihres Vaters lässt sie sich nicht einschüchtern. Sie leistet Widerstand, weil sie Gerechtigkeit möchte. Denise ist allein, hat aber ihr ganzes Leben noch vor sich. Ein freies Leben ohne Kompromisse, dafür hat sie einen schrecklich hohen Preis bezahlt. Ihr Kampf wird belohnt. Im März 2012 wird ihr Vater zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und zwei Jahren verschärfter Einzelhaft verurteilt.
Aber die banalste Grundsätze der Menschlichkeit zersetzende Mafia-Mentalität, in der Denise groß geworden ist und von der sie fast besiegt worden wäre, wird sie nicht mehr los. Sie verfolgt sie. Ihr ganzes weiteres Leben werden der Name ’Ndrangheta und die zugehörigen Schreckensbilder ihre Träume bestimmen. Man kann weglaufen, abhauen, sich verstecken, das System und die Gesellschaft revolutionieren, aber wer die ’Ndrangheta aus der Nähe kennengelernt hat, wer von der ’Ndrangheta durch die Mangel gedreht wurde, trägt für sein restliches Leben ein Brandmal.
Man kann neu anfangen. Sicher. Auch ich habe das in Modena probiert. Ich müsste aber lügen, wenn man von mir zu sagen verlangte, dass alles wieder gut ist, dass die Trauer um die zerstörte Jugend, die gewaltsam auseinandergerissene Familie, den Verlust meines Vaters und Großvaters, der Zorn über die gestohlenen Tage von meinem seitherigen Leben, meinen Erfolgserlebnissen und den Momenten der Freude ausgeglichen würden. Es bleibt ein beschädigtes Leben, in welcher Form auch immer.
Der ’Ndrangheta geht es besser als je zuvor. Von ihr, von den Mafien lebt Italien. Es ist ein schönes Land, gegründet auf krimineller und mafiöser Ökonomie. »Die Mafien einen uns«, lautet nicht umsonst der Schlachtruf der Anti-Mafia-Demonstranten, gleichzeitig auch der Titel der im März 2011 gestarteten Kampagne der Vereinigung daSud.
Mit dieser Kampagne wollen wir an die letzten 150 Jahre der Geschichte Italiens in kritischer Weise erinnern und darüber nachdenken, warum sich die Macht der Mafia in all den Jahren seit der Einheit 1870 im Süden nicht verringert, sondern konsolidiert hat, und wie sie sich zusätzlich im Norden und in der Welt festsetzen und vervielfältigen konnte. Ist ein Land zivilisiert, in dem Mütter von ihren Ehemännern »aus verletzter Ehre« in Säure aufgelöst werden? Ist der Norden zivilisiert, der diesem Verbrechen gegenüber gleichgültig schweigt? Ist es zivilisiert, wenn ein Mädchen wie Denise dazu gezwungen ist, wegen des Mutes ihrer Mutter staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen? Man kann sich leicht vorstellen, was Denise den vielen antworten würde, die immer noch daran festhalten, dass die ’Ndrangheta in Mailand kein zentrales Problem ist, sondern nur eine Randerscheinung.