3.
UNEHRLICHE KONKURRENTEN
In der Region Modena gibt es 570 Bauunternehmen, deren Eigentümer aus den süditalienischen Mafia-Hochburgen um Caserta stammen. Nicht alle stehen unter dem Einfluss der Mafia. Siebzig bis achtzig Prozent von ihnen haben eine reine Weste, aber die restlichen sind Mafia-Betriebe.
Mafiosi von heute verbinden Grausamkeit mit Gespür für profitable Geschäfte, Dreistigkeit mit Allmachtsgefühlen. Eine explosive Mischung, die sich von Zeit zu Zeit in einem Kugelhagel entlädt. Am 8. Mai 2007, einem Frühlingstag wie vielen anderen, an dem die Sonne über der Po-Ebene mühsam versuchte, die Vormittagsnebel zu durchdringen und die Gegend zu erwärmen und ein kühler Wind über die Gesichter der Menschen strich, passten in Riolo, einem Vorort von Castelfranco Emilia, zwei Killer den Bauunternehmer Giuseppe Pagano ab und schossen ihm in die Beine.
Pagano stammte aus der Camorra-Hochburg San Cipriano d’Aversa und war vor Jahren in die Region Modena gezogen, wo er zusammen mit einem Geschäftspartner eine kleine Baufirma und ein Immobilienbüro betrieb. Die aufsehenerregende Aktion wurde am helllichten Tag ausgeführt. Sie erfüllte zweifellos ihren Zweck: dem Opfer wie auch allen anderen Wankelmütigen Angst und Schrecken einzujagen.
Auftraggeber dieses Anschlags war Raffaele »Rafilotto« Diana, Clan-Chef aus Casal di Principe. Diana, der im bereits erwähnten »Spartacus«-Prozess zusammen mit anderen Casalesi-Bossen zu lebenslanger Gefängnisstrafe verurteilt worden war, befand sich zum Zeitpunkt des Attentats auf der Flucht. Er gehörte damals zu den dreißig meistgesuchten Straftätern Italiens. Drei Jahre zuvor war er während eines Freigangs aus dem Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Sant’Anna di Modena geflohen und war fortan unauffindbar geblieben. Erst am 4. Mai 2009, fast genau zwei Jahre nach dem Attentat auf Pagano, gelang es, ihn wieder zu verhaften.
Die Beamten der Squadra Mobile (dt.: Mobiles Einsatzkommando) spürten ihn in Casal di Principe auf, der Hochburg des Clans. Dort hatte Diana sich in einem kleinen Betonbunker im Keller eines Wohnhauses verborgen gehalten. Die einzigen dort im Bunker vorhandenen Unterhaltungsangebote waren ein Buch über den berühmten süditalienischen Geistlichen und Stigmata-Träger Pater Pio, der 2001 von der katholischen Kirche heiliggesprochen wurde, sowie eine Kopie der Nikolaus-Statue aus der Kirche San Nicola in Bari.
Das Geistliche und das Weltliche, unabdingbare Elemente im Leben eines echten Mafia-Bosses. Ein Leben, das zwischen Geld, Macht, Prunk und Flucht, Abtauchen, Angst verbracht wird. Ende der achtziger Jahre war Diana per Gerichtsbeschluss nach Bastiglia verbannt worden, wohin ihm seine gesamte Familie folgte. Zwei Monate nach der Verhaftung Dianas wurde auch seine Ehefrau festgenommen, die angeblich die Geschäfte des Clans weitergeführt hatte.
Als er in Norditalien angekommen war, hatte Diana den Ableger des Clans in Modena übernommen. Dessen Führung teilte er sich anfangs mit Giuseppe »Peppinotto« Caterino, der ebenfalls nach Modena verbannt worden war. 1991 verhaftet, tauchte Caterino nach seiner Entlassung ab. Erst 2005 ging er den Ermittlern an der Westküste Kalabriens ins Netz.
Die beiden Regionalbosse Diana und Caterino überließen die Schmutzarbeit Nicola Nappa, der mittlerweile ebenfalls im Norden ansässig war und dem die illegalen Spielcasinos unterstanden. Sie beschränkten sich darauf, die Fußtruppen zu überwachen, und hielten den Kontakt zum Mutterhaus unter dem Kommando von Francesco »Sandokan« Schiavone.
Schon nach der ersten Verhaftung von »Peppinotto« Caterino war in Modena ein Machtvakuum entstanden. Der Großrat des Clans beauftragte Raffaele Diana damit, die alleinige Aufsicht über die örtlichen Mafia-Aktivitäten zu übernehmen. Die Einnahmen der Mafia-Zelle in Modena stammten damals neben dem illegalen Glücksspiel hauptsächlich aus dem Bereich der Bauwirtschaft, in welchem der Clan mit Schutzgelderpressung, Materialbeschaffung und der Übernahme von Subaufträgen aktiv war. Zement, Schutzgeld und Auftragserschleichung brachten dem Clan damals die meisten Profite ein. Nachdem auch »Rafilotto« verhaftet worden war, übernahmen Alfonso »O Pazzo« (dt.: Der Verrückte) Perrone und Sigismondo di Puorto das Kommando, beides Gefolgsleute von Antonio »O Ninno« Iovine, der 2010 nach 15-jähriger Flucht als oberster Boss des Casalesi-Clans verhaftet wurde.
Francesco Vallefuoco wiederum ist das Haupt der gleichnamigen mafiösen Unternehmensgruppe, die sowohl in der Emilia-Romagna wie auch in San Marino aktiv ist. Aus abgehörten Gesprächen geht hervor, dass ein gewisser »Renato« danach die Macht übernahm, der zu Iovine gehörte. Nach dem ersten Zusammentreffen mit dem neuen Boss vertraute Vallefuoco freudestrahlend seiner Lebensgefährtin an: »Alle Probleme sind gelöst, ich hab die Nummer des neuen Clan-Chefs.« Der Name »Renato« reichte jedenfalls künftig aus, um bei Verhandlungen mit Mafia-Bossen, Unternehmern und Handwerkern den Ausschlag zu geben. Den Kontakt zwischen Vallefuoco und dem neuen Clan-Chef hatte Francesco di Tella hergestellt, ein Unternehmer, der sich regelmäßig mit Vallefuoco traf, wie ein Anti-Mafia-Verfahren in Neapel ergab.
Zu di Tella hieß es in den Akten des Verfahrens weiter: »Allzeit bereit zu allen möglichen Aktivitäten (Gewalttaten oder Geschäften)«, »der Verbindungsmann zum Casalesi-Clan« und »mit seinen Betrieben an der Geldwäsche beteiligt«. Di Tella wurde Anfang Oktober 2011 im Zuge der Operation »Staffa« festgenommen. Den Abhörmitschriften zufolge erwähnte Vallefuoco auch einen gewissen »Remigio«. Wie in anderen Fällen vermieden es die Beschuldigten sorgsam, die entsprechenden Familiennamen der erwähnten Personen zu nennen. Zu »Remigio« hieß es, dieser sei mit den Schutzgelderpressungen im Raum Modena beauftragt und arbeite für Nicola Esposito, den Bruder von Vallefuocos Geliebter, wie die Ermittler der Soko »Staffa« vermerkten.
»Remigio« sorgte zeitweise für heftigen Streit unter den Clans. Einer seiner Gefolgsleute hatte versucht, einen Unternehmer zu erpressen, der zu den »Freunden« des Clans gehörte und daher von solchen Belästigungen verschont werden sollte. Das brachte »Remigio« in ziemliche Schwierigkeiten. Vallefuoco setzte seine Fußtruppen in Marsch, »Remigio« kam heulend angelaufen und flehte Vallefuoco an, ihm zu glauben. Er habe überhaupt nichts von der Sache gewusst, es sei ihm völlig unbekannt gewesen, dass der Unternehmer sowohl zu »Rocco wie auch zu Nicola« gehöre. Mit dieser mafiatypischen Unterwerfungsgeste rettete »Remigio« sein Leben.
Francesco »Franco« Vallefuocos Name wurde erstmals im Februar 2011 während der Operation »Vulcano« der Anti-Mafia-Direktion Bologna aktenkundig. Damals gehörte er zu den Verhafteten. Insgesamt 29 Verdächtige wanderten hinter Schloss und Riegel. Darunter waren auch einige bis dato völlig unverdächtige Honoratioren der Republik San Marino, die für die Clans Finanzunternehmen führten, die alle im Zusammenhang mit Vallefuoco standen.
Vallefuoco war bis zu diesem Zeitpunkt sehr umtriebig, was seine geschäftlichen Aktivitäten anbelangt. Sie reichten vom Immobiliensektor über Handelsunternehmen bis hin zum Finanzsektor. Den Erkenntnissen der Ermittler in Bologna und Neapel zufolge dienten diese legalen Unternehmungen zur Verschleierung von Geldwäsche, Zinswucher und Erpressung. Nachdem schon 2009 und 2010 einige Beteiligte verhaftet worden waren, traf im April 2011 Egidio Coppola mit seiner gesamten Familie im Raum Modena ein. Er galt als Spitzenmann der Camorra-Clans und hatte schon in der Vergangenheit Haftstrafen wegen mafiöser Verstrickungen absitzen müssen. Gerade wieder auf freien Fuß gekommen, stand er damals unter spezieller Überwachung. Sein »neues« Leben wollte er in Bomporto beginnen, einer Kleinstadt nördlich von Modena. Auf die lautstarken Anti-Mafia-Proteste der Gebietsbürgermeister hin entgegnete Coppola, er habe seine Probleme mit der Justiz geregelt, er sei jetzt ein freier Mann, der sich entschlossen habe, sein Leben zu ändern, und schließlich und endlich lebe man ja in einem Rechtsstaat.
In der Emilia-Romagna boomt der Bausektor nach wie vor, trotz Wirtschaftskrise. Wohn- und Geschäftshäuser, Werkshallen, Einkaufszentren schießen ohne Unterlass wie Pilze aus dem Boden. Gerade die Bauwirtschaft hat in der Vergangenheit zahllosen ehrlichen Emigranten aus Süditalien Lohn und Brot verschafft. Zugleich ist sie jedoch seit langer Zeit das bevorzugte Ziel mafiöser Unterwanderung, und zwar innerhalb der gesamten Produktionskette: vom Grundstückserwerb über die Bauausführung bis hin zum Immobilienhandel.
Es ist kein Zufall, dass viele Baufirmen der Region eigene Immobilienabteilungen gründen, die ganz korrekt bei der Handelskammer angemeldet werden und umgehend mit dem Immobilienhandel beginnen. Doch zuletzt stockte der Boom. Es wurde nach wie vor viel gebaut, aber deutlich weniger verkauft. Und welche legale Baufirma kann sich den jeglicher wirtschaftlichen Logik widersprechenden Luxus leisten, ihr Produkt in großem Umfang und für längere Zeit auf Halde zu legen? Es ist daher ziemlich wahrscheinlich, dass das eigentliche Unternehmensziel dieser Firmen, die die Landschaft der Emilia-Romagna zubetonieren, nicht im Immobilienverkauf zur Deckung der Kosten und der Erwirtschaftung von Gewinn liegt, dem naturgegebenen Ziel jedes legalen Unternehmens, sondern vielmehr schmutziges Geld durch dessen Verwandlung in Häuser und Gewerbeimmobilien gewaschen werden soll.
Diese These vertritt jedenfalls Vito Zincani, der zuständige Bezirksstaatsanwalt von Modena. Der Bausektor ist seiner Auffassung zufolge von zentraler Bedeutung für die »Sublimierung« von Geld, das aus den übelsten Machenschaften der Mafia stammt und auf diese Weise spurlos verschwindet. Sich in Luft auflöst und in Form von Gebäuden wieder materialisiert. Deshalb ist die Bauwirtschaft auch von so großem Interesse für die Mafien. Vor allem der Casalesi-Clan kontrolliert mittels Korruption und Gewalt große Teile der mittelständischen Bauwirtschaft Italiens.
Die Knieschüsse, die 2007 Giuseppe Pagano, den Bauunternehmer aus San Cipriano d’Aversa, trafen, waren nicht der einzige Vorfall dieser Art. Wie im Folgenden ausgeführt werden soll, hatte bereits im Jahr 2000 hatte eine ähnliche Aktion die Einwohnerschaft von Castelfranco Emilia aufgeschreckt, einer ansonsten denkbar ruhigen Gemeinde. Allerdings wurden dort auch einige illegale Spielhöllen der Clans betrieben, sowie eine Inkasso-Firma, die sich regelmäßig zwecks »Amtshilfe« an den Clan wandte. Vor allem im Zusammenhang mit Bauwerken, die dem Clan zugeschrieben werden, spielte das Unternehmen eine Rolle.
Rein ökonomisch gesehen, stört der Auftritt der Clans die üblichen Funktionen der freien Marktwirtschaft. Wo diese ihren Fuß hinsetzen, wird der Wettbewerb zur Utopie, zu einem Hirngespinst. Er wird gemäß den Interessen der Clans zurechtgebogen. Konkurrenz, die normalerweise das Verhältnis zweier Firmen im selben Sektor kennzeichnen würde, wird somit unterbunden. Denn das Mafia-Unternehmen bedient sich vieler illegaler Wettbewerbsvorteile, die anderen Firmen, die sich weder der Unterstützung noch des Rückhalts bei Mafia-Bossen erfreuen können, die sich also an Recht und Gesetz halten, nicht zur Verfügung stehen.
Der Einsatz von Mafia-Methoden, um Konkurrenzfirmen aus dem Rennen zu werfen, und die bereitstehende, quasi unerschöpfliche Liquidität außerhalb jeglicher ordnungsgemäßer Buchführung stellen zwei dieser Vorteile dar. Für die Clans gelten auch die normalen Geschäftsfristen nicht. Bei ihnen muss man sofort und ohne Murren zahlen. In der Emilia-Romagna konkretisieren sich diese mafiösen Praktiken in Form von gewonnenen Ausschreibungen und der Ausführung von Bauaufträgen. Im Dschungel der Subunternehmerschaft profitieren die Clans, sprich die von ihnen dominierten Firmen von der mangelnden gesetzlichen Aufsicht. So können sie mühelos ihre Preise durchsetzen, die Materialzulieferung übernehmen und auch Arbeitskräfte stellen.
Die ersten Opfer der klassischen, parasitären Erpressung und des Schutzgeldsystems in Form aufgezwungener Subunternehmerfirmen waren Bauunternehmer aus dem Süden Italiens. Unabdingbare Voraussetzung, um die in der Emilia-Romagna tätigen Unternehmer unter Druck zu setzen, waren neben der physischen Einschüchterung vor Ort in Norditalien die Herkunft der Unternehmer aus einem Dorf in den Mafia-Regionen Süditaliens. Diese machte die Unternehmer zusätzlich erpressbar, da die Mafien in solchen Fällen auch die restlichen Familienmitglieder im Geburtsort bedrohen können.
Gerade die aus dem Süden emigrierten Unternehmer zu erpressen, folgt einer präzisen Logik: Die Herkunft der Firmeneigentümer aus Mafia-Regionen garantiert den Mafia-Bossen, dass die betroffenen Unternehmer mit dem gewohnten »Entgegenkommen« auf Angebote reagieren, »die man nicht ablehnen kann«. Für die Unternehmer ist das umso schlimmer, da sie sich eigentlich sicher wähnten, bestimmte mafiöse Geschäftspraktiken in der Heimat zurückgelassen zu haben, nur um nun erneut Opfer der Clans zu werden. In Modena und Umgebung brauchte der Casalesi-Clan, um seine Regeln durchsetzen, daher nur selten die üblichen Instrumente einzusetzen. Er konnte daraufbauen, dass die Konsequenzen unkooperativen Verhaltens den Betroffenen bekannt waren. Mittlerweile wird das Schutzgeld als »Serviceangebot« auch an Firmen herangetragen, die in der Emilia-Romagna heimisch sind, so dass immer häufiger auch solche Unternehmen den Clans in die Falle gehen.
Man hatte ihn, den erfolgreichen Unternehmer aus Kalabrien, gewarnt. Die gerade vergebenen, profitablen Renovierungsarbeiten hatte eigentlich die Firma von Vincenzo Esposito haben wollen, einem Unternehmer aus Afragola (bei Neapel), seit 1991 Besitzer der Baufirma Edil Prima 2 in Modena. Der Preis, den der siegreiche Konkurrent zu bezahlen hatte, weil er die Mafia-Fraktion ausgestochen hatte, war hoch. In der Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses mussten sein Schädeltrauma und die Gesichtsverletzungen behandelt werden. Die Täter des »erzieherischen« Überfalls waren den Ermittlungen der regionalen Anti-Mafia-Direktion zufolge Brüder des »Unternehmers« Esposito. »Weil jeder schauen muss, wo er bleibt«, hatte der Konkurrent einem der Brüder als Grund angegeben, weshalb er den Auftrag trotz Vorwarnung übernommen hatte. Daraufhin habe ihm der Schläger geantwortet: »Aber nicht zu viel schauen, davon kann man blind werden.« Die Verletzungen, die die Kriminellen ihrem Opfer zufügten, waren so schwer, dass dieser selbst nicht mehr in der Lage war, einen Krankenwagen zu rufen. Weil sie polizeiliche Ermittlungen verhindern wollten, brachten die Schläger den misshandelten Unternehmer zum Krankenhaus von Baggiovara, einem Vorort von Modena. Und sorgten dafür, dass ihr Opfer das »Richtige« sagte. Der Unternehmer gehorchte. Er erklärte den Ärzten, er sei durch einen unglücklichen Zufall aus dem Auto gefallen und habe sich dabei seine Verletzungen zugezogen.
Der Unternehmer erstattete auch danach keine Anzeige. Trotz der erlittenen Verletzungen hielt er sich an das Schweigegebot der Omertà. Als ich das Café seiner Frau aufsuchte, um sie für ein Interview zu gewinnen, lehnte sie rundheraus ab, obwohl ich ihr die Wahrung ihrer Anonymität zusicherte. Das einzige, was sie sagte, bevor sie mich aus dem Laden schob, brannte sich in mein Gedächtnis ein: »Sie sind Bestien, wir haben Angst.« Sätze wie diese gehören in Casal di Principe und Bovalino zum Alltag. In Modena waren sie die Vorzeichen dafür, dass sich die Situation aus Mafia-Sicht »normalisierte«.
Die Esposito-Brüder standen im Fokus der Operation »San Cipriano«, die von der regionalen Anti-Mafia-Direktion in Bologna koordiniert wurde. Dabei gelang es, den Umfang der Erpressungsaktivitäten und der sonstigen Geschäfte des Casalesi-Clans zwischen Modena und Mantua in großem Umfang aufzuklären. Allerdings mussten die Brüder aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Verurteilt wurden dagegen die lokalen Statthalter des Clans: Alfonso »O Pazzo« Perrone, und Sigismondo di Puorto. »Herr Präsident, Sie müssen mir helfen«, schrieb »O Pazzo« daraufhin an den italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napoletano, »denn ich kann durch Fakten belegen, dass ich ein echtes Justizopfer bin. Mehr habe ich nicht hinzuzufügen, außer der Bitte, dass Sie sich meines Falles annehmen und mir die Möglichkeit geben, mein gesetzestreues Leben in Ruhe und Frieden fortzusetzen, ohne künftig dem Terror der Polizei ausgesetzt zu sein, die mich permanent beleidigt und misshandelt und in meinem Fall seit Jahren echten, willkürlichen und ungerechten Amtsmissbrauch betreibt. Hochachtungsvoll, Perrone.«
Den Brief hatte Perrone im November 2008 verfasst, lange vor seiner Verhaftung, und einen weiteren an den Innenminister geschickt. Perrone klagte damals, er fühle sich verfolgt, protzte aber gleichzeitig mit seinem Reichtum und seiner Macht in dem kleinen, verschlafenen Ort Nonantola im Hinterland von Modena, verübte Gewalttaten gegen seine Landsleute und benutzte sogar ein Blaulicht der Polizei auf seinem Privatauto, um seine Opfer zu beeindrucken und ihnen zu suggerieren, dass er sogar die Polizei in seiner Hand habe. Hinter Gitter kam er am 18. März 2010. Vorgeworfen wurde ihm, der Pate des Casalesi-Clans in Modena zu sein. Die Untersuchungen, die zur Verhaftung von Perrone, Mario Temperato und Sigismondo di Puorto führten, brachten den Beweis, dass er in enger Verbindung mit der Führungsebene des Clans stand, mit Bossen wie Diana, Schiavone und Zagaria.
In der Autowerkstatt in der Via Nonantola 82 in Modena, die Perrone als Treffpunkt für seine Besprechungen diente, war beispielsweise der flüchtige Chef des Clans, Raffaele Diana, gesehen worden. Die Ermittler sind sich ziemlich sicher, dass er es war. Jedenfalls war 2008 auf den Bildern der Überwachungskameras eine Person zu sehen, deren körperliche Eigenheiten denen Dianas weitestgehend entsprachen. Auch die anschließende Videoanalyse belegte den Experten zufolge, dass es sich bei dem geheimnisvollen Mann um »Rafilotto« handeln müsse.
Perrone und seine Helfershelfer standen damals auch mit dem Chef des Clans, Michele Zagaria, in Kontakt. Während eines abgehörten Telefonats unterhielt sich Perrone mit Salvatore Buonincontri. An einem bestimmten Punkt reichte Perrone den Hörer an jemand anderen weiter, der sich nicht vorstellte und daher den Gesprächspartner verwirrte. Aber Perrone selbst gab seinem Gesprächspartner einen Hinweis: »Es ist ›O Cuoll’sstuorto‹ [Spitzname von Zagaria].« Und Buonincontri entgegnete: »Ach …« Noch bezeichnender ist, was Buonincontri nach dem Ende des Telefonats sagte: »Habt ihr nicht verstanden, das war Michele Zagaria.« Pasquale Maisto, der sich unter den Anwesenden befand, fragte daraufhin: »Und Perrone gehört zu dem?«
Dass Perrone in Verbindung mit dem flüchtigen Zagaria stand, ergab sich auch aus einem anderen Abhörprotokoll. Dieses Mal hatte es keinen Hinweis auf die Identität des Gesprächspartners von Perrone gegeben, aber die Stimme war den Ermittlern zufolge identisch mit der der bereits vorhandenen Aufnahme. Ein Audioexperte bestätigte das mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit.
Es gibt weitere Abhörprotokolle, in denen sich Perrone über den Paten Zagaria äußert. In einem davon behauptet er, mit dem Flüchtigen befreundet zu sein. Zagaria habe ihm sogar eine Villa in Baia Domizia (bei Neapel) schenken wollen. Perrone erläuterte: »Die erste Villa gehörte ihm [Michele Zagaria], die zweite Pasquale [dem Bruder von Zagaria und Ehemann der Tochter des Bauunternehmers aus Parma, der wegen mafiöser Verbindungen verurteilt wurde] und die dritte Antonio [Antonio Zagaria oder Antonio Iovine].« Perrone sollte die vierte Villa bekommen, erklärte aber den Anwesenden, dass er das Geschenk abgelehnt habe, aus Gründen, die mit seiner Vergangenheit zusammenhingen, als er zur Truppe des verstorbenen Paten Alberto Beneduce gehörte, der ein Freund des Flüchtigen Zagaria war.
Der Blick des Mädchens verrät, dass es ihr sehnlichster Wunsch ist, von jemandem hier weggebracht zu werden. Sie ist hübsch. Mit ihrem deutlichen osteuropäischen Akzent und ihrer lauten Stimme erzählt sie mir davon, dass sie seit ihrer Kindheit Italien als »gelobtes Land« gesehen habe. »Italien, Italien, dachte ich, schönes Land. Aber ich hab nur durchgeknallte, gewalttätige Leute getroffen.« Während sie das sagt, setzt sie sich neben mich. Ich warte auf meine Pizza. Sie nennt sich Sonja und »arbeitet« im Big Bijou, dem Nachtclub über der Pizzeria. Das als Nachtclub getarnte Bordell, in dem sie beschäftigt ist, ist ein Alptraum. Und trotzdem immer noch besser als der Straßenstrich.
»Aber ich hab keinen Bock mehr auf dieses Scheißleben« sagt sie. Sie hat einen Sohn, bald kommt der zweite zur Welt. Sein Vater ist irgendein Kerl, der gar nicht weiß, dass er Nachwuchs gezeugt hat. Die Zahl der Freier im Nachtclub ist hoch. Sie kommen aus allen Bevölkerungsschichten. Reiche, Selbständige, Mediziner, Jugendliche, Studenten, Arbeiter. Es ist eine abseitige Welt, in der es sich gut verdienen lässt. Und überall dort, wo sich gut Geld verdienen lässt, ist auch die Mafia nicht weit. In diesem Fall tritt sie in Person von Alfonso Perrone in Erscheinung. Seine Männer gehen im Big Bijou ein und aus, dem Nachtclub am Rande der Altstadt von Modena. Im Club führen sie sich wie wandelnde Mafioso-Klischees auf. Sie bekommen Champagner gratis, und »Unterhaltung« sowieso.
Als einmal einer der Kellner einen von ihnen irrtümlich zur Kasse bitten wollte, riefen sie Perrone an und reichten das Handy an den in der Zwischenzeit herbeigerufenen Nachtclubbesitzer weiter. Perrone, am anderen Ende der Leitung, legte sofort los: »Weißt du überhaupt mit wem du sprichst? Wegen so einer … kannst du dir in deinen Arsch stecken, du … lachst du mich gerade aus?« Der Nachtclubbesitzer, der mittlerweile verstanden hatte, wer da am anderen Ende der Leitung war, begann herumzustammeln und entschuldigte sich wortreich. Dank der Intervention von »O Pazzo« war die Sache geklärt und die Clan-Mitglieder konnten ihren Abend im Nachtclub ungestört und unbehelligt von weiteren finanziellen Belästigungen zusammen mit ihren beiden Begleiterinnen fortsetzen.
»Furchtbare Leute«, sagt Sonja, deren nächste Schicht gleich beginnt, »sie kommen rein, führen sich auf wie die Paschas und lassen die Puppen tanzen. Wir müssen sie oft exklusiv bedienen.« Ihre Mimik verrät, welche Demütigungen sie über sich ergehen lassen musste als Spielzeug für aufgegeilte, überhebliche Mafiosi, zerfressen von der Macht, die sie über die schwächsten Glieder der menschlichen Gesellschaft ausüben.
Binnen kurzer Zeit war Alfonso Perrone zum Schrecken der aus Süditalien stammenden Unternehmer im Raum Modena geworden. Seine Methoden beschränkten sich nicht auf Drohungen, die im Verborgenen ausgesprochen wurden. Baseballschläger und Totschläger kamen zum Einsatz. Sein Anwalt Paolo Molaro höchstselbst riet ihm, wie er mit einem Unternehmer umspringen sollte, der seinen Schulden nicht nachkam: »Man muss ihm klarmachen, dass das alles bislang noch harmlos war, dass er es auch gern anders haben kann (…). So ein Scheißkerl. Das können wir uns nicht bieten lassen, den sollte man am besten einfach abknallen.« So geben es zumindest die Protokolle der abgehörten Gespräche zwischen Perrone und seinem Rechtsvertreter wieder, Belege für die gefährliche Nähe zwischen manchen Juristen und ihren Mandanten aus den Reihen der Mafia-Paten.
Perrones Männer hielten wiederholt Rücksprache mit engen Verwandten von Francesco »Sandokan« Schiavone. So trafen sich Mario Temperato und Francesco »U Cicciarello« Schiavone, Cousin ersten Grades von Francesco »Sandokan« Schiavone. Bei diesen regelmäßigen Treffen im Raum Modena waren auch andere Größen des Clans wie Diana, Zagaria oder Schiavone zugegen. Perrone führte für einen bestimmten Zeitraum einen Teil der Geschäfte des Clans in Modena. Damit beauftragt worden war er von der Clan-Spitze. Die Verhaftungen im Zuge der Anti-Mafia-Operation mit dem Decknamen »Medusa«, die auch zwei Wärter des Gefängnisses von Modena betrafen, versetzten der alten Garde um Diana einen harten Schlag. Auf diese Weise kam Perrone ins Spiel, der sich schnell die entsprechende Mannschaft zusammenstellte und von der Clan-Führung schließlich den offiziellen Auftrag erhielt. Dabei wurde er einem anderen Mafia-Boss in der Region unterstellt, Sigismondo di Puorto, der, wie sich zeigte, auf doppelte Weise mit Antonio »O Ninno« Iovine verbandelt war.
Perrone umgab sich mit Männern, die zu allen Schandtaten bereit waren. Bauunternehmer, die sich der Mafia-Methoden bedienten, um Aufträge zu ergattern und Geld herauszupressen. Das belegen die Ermittlungen der Anti-Mafia-Direktion des Bezirks Bologna. Die Autowerkstatt in der Via Nonantola 82 war die Schaltzentrale, von der aus Perrone und seine Bandenmitglieder jahrelang Angst und Schrecken unter den Unternehmern im Raum Modena verbreiteten. Folterungen fanden dort ebenso statt wie die Planung von Strafexpeditionen. In einer Unterhaltung, die die Fahndertruppe aufzeichnen konnte, kommentiert Perrone eine Ausstrahlung der Sendung »Anno Zero«, zu deren Gästen Roberto Saviano zählte. Er war sich mit den übrigen Anwesenden einig, dass Saviano nur deshalb noch am Leben ist, weil der Clan gerade keinen Krieg mit der Polizei gebrauchen kann, wie er damals losging, nachdem der Pfarrer von Casal di Principe, Giuseppe Diana, erschossen worden war.
Gewalt und Herumgeprotze. Eine Lebensweise, die manche Mitglieder des Clans zur Schau stellen. Das Gebot der Unauffälligkeit, unter dem normalerweise die Mafia-Familien in Norditalien leben, ist ihnen egal. »Eines Morgens kam einer von ihnen in mein Büro«, vertraute mir ein Angestellter einer Versicherungsfirma an, der es vorzog, seine Aussage anonym zu machen. »Er fing mit absurden Forderungen an, außerhalb jeglicher rechtlicher Grundlagen, auf der Basis von Verträgen, die damit überhaupt nichts zu tun hatten.« Als der Inhaber der Versicherungsagentur sich weigerte, seinem Anliegen nachzukommen, sei der junge Mann gewalttätig geworden, habe ihn beim Kragen gepackt und gegen die Wand geschleudert. Als dem Inhaber seine Mitarbeiter zu Hilfe kamen, sei der Jugendliche hinausgestürmt. Er habe ihnen noch zugerufen, dass sie wohl nicht wüssten, mit wem sie es zu tun hätten. Einige Zeit später entdeckte der Angestellte den Betreffenden unter den Verhafteten, die im Zuge der Operation »San Cipriano« vor Gericht gebracht wurden.
»Ich komme zu dir nach Hause und zieh dir die Haut ab (…), du hast einen Scheiß kapiert (…), weißt du eigentlich, dass du es mit den Männern aus Afragola zu tun hast? Du gehörst zu denen, die ich in den Arsch ficken werde! (…) Ich werde Dir richtig Feuer unterm Hintern machen, du Stück Scheiße! Wenn ich nach Rovigo komme, dann nicht allein! Ganz ehrlich, Alfonso, der hat mich richtig wütend gemacht, ich war drauf und dran, ihn zu totzuschlagen.« Es ist nicht das erste Mal, dass Tonino, ein Bauunternehmer, der lange Zeit in Rovigo gearbeitet hat, auf diese Weise von Alfonso und Giovanni Perrone bedroht wird. Drohungen dieser Art gehören zu seinem Alltag. Er ist eines der Opfer des Perrone-Clans. Tonino versuchte mit allen Mitteln, den Fängen des Clans zu entkommen und Zahlungen an die Verbrecher zu vermeiden.
»Ey Tonino, du hast von ein, zwei Tagen gesprochen, aber das Geld ist immer noch nicht da. Was ist los mit dir?«, herrscht ihn Perrone an. Der Tag des Jüngsten Gerichts, das der Clan Tonino zugedacht hatte, kündigte sich an. Eine Lektion in Sachen Gewalt, um ihm Respekt vor den Honoratioren des Clans beizubringen. Einen bestrafen, um hundert Respekt beizubringen, scheint das Motto des Clans zu sein, wie es Augusto Balloni definiert, Professor für Kriminologie in Bologna. Ehre, Respekt, Macht, Geld sind wie Drogen, von denen die Männer der Clans abhängig sind. Am Ende bezahlte der nach Rumänien ausgewanderte Unternehmer das vom Clan geforderte Schutzgeld. Er zahlte, um den Drohungen gegen seine Kinder und seine Ehefrau ein Ende zu machen, und er zeigte diese Verbrecher nicht an, aus Furcht davor, ganz allein dazustehen.
Das, was Tonino widerfahren ist, ist kein Einzelfall. Der leitende Staatsanwalt von Bologna hatte die betroffenen Unternehmer bereits mehrmals nachdrücklich dazu aufgefordert, Anzeige zu erstatten, bevor sie Opfer von Prügelattacken oder Schlimmerem werden. Sein Appell verhallte ungehört. Bis heute gibt es nur wenige Unternehmer in der Emilia-Romagna, die es wagten, sich auf diese Weise zu wehren. Die Übrigen ziehen es vor zu zahlen und zu schweigen.
Die Aussagen von zwei Bauunternehmern, die sich trauten, gegen die Mafia juristisch vorzugehen, finden sich in den Akten der Operation »San Cipriano«. Bereits nach den ersten Drohungen hatten sie sich an die Carabinieri gewandt und von ihren Erlebnissen mit dem Clan erzählt. Ihre Berichte enthüllen eine heimtückische, weniger offensichtliche Erpressungsvariante. Einer dieser Unternehmer war von Alfonso Perrone aufgefordert worden, seine Schulden in Höhe von 6.000 Euro bei Massimo Gugliuzza und dessen Teilhaber aus Foggia (Apulien), Giuseppe »Gamberone« Ferraro, zu begleichen. Aber der Betroffene war damit nicht einverstanden. Gugliuzza und Ferraro hatten auf einer Baustelle des Unternehmers Fliesen verlegt. Ein Auftrag im Wert von 2.000 Euro, der aber äußerst schlampig ausgeführt worden sei, wie der Unternehmer bei seiner Aussage gegenüber den Carabinieri betonte. Die ursprüngliche Forderung der beiden hatte sich zwischenzeitlich um den Anteil des Clans an dieser Summe erhöht. 4.000 Euro für den Service des Clans, »Außenstände« einzutreiben. Ein umfassender Service, der befreundeten Handwerkern vonseiten des Clans angeboten wird.
Als »Außenstände« für Mario Maggio eingetrieben werden sollten, einem weiteren Unternehmer, der im Gebiet zwischen Mantua und Modena aktiv war und der sich an Perrone gewandt hatte, sicherte dieser dem erpressten Opfer zu, dass der Mahnbescheid, den Maggio beim Amtsgericht in Modena gegen das Opfer erwirkt hatte, zurückgezogen werde. »Mach dir keine Sorgen um das Geld, ich regle das«, hatte Perrone dem Unternehmer versprochen.
Die Wirtschaftskrise und alltägliche Schwierigkeiten, mit denen eine Baufirma konfrontiert ist, lassen einen Mann wie Perrone kalt. Auf Einwände solcher Art reagiert »O Pazzo« nicht. »Nimm das, was passiert ist, ernst. Sowas zieht sonst schwere Prügel nach sich«, rief er. Die Inkassoagentur von Perrone und seinen Bandenmitgliedern verfügt für solche Zwecke über verschiedene Drohungsszenarien. Eines dieser Szenarien, wie es in einer Aussage gegen Perrone beschrieben wurde, ist bezeichnend für die Vorgehensweise.
Nachdem die Clan-Mitglieder den betroffenen Unternehmer in eine der Clan-Unterkünfte verschleppt haben, setzen sie ihn auf einen Stuhl. »Wie vor einem Tribunal«, beschreibt das Opfer die Szene. Er muss seine Autoschlüssel abgeben und wird immer wieder geohrfeigt. Eine demütigende Aktion. An diesem Punkt ergreift der Pate das Wort und erinnert das Opfer daran, dass er damit beauftragt worden sei, Außenstände für die Firma AGR einzutreiben, ein Bauunternehmen der Region, deren Eigentümer sich bester Beziehungen zu Alfonso Perrone erfreut. Um die 13.500 Euro einzutreiben, die der in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene Unternehmer der AGR schuldet, wandte die sich an Perrone. Das Opfer weiß nicht, wie er das Geld zur Begleichung der Schulden auftreiben soll, durch Zinseszins wachsen die Schulden rasch auf 60.000 bis 70.000 Euro an. Der Erpresste bittet um Zeit, um das Geld aufzutreiben, ein normaler Vorgang in der normalen Wirtschaft. Aber wenn der Clan über Zeitpunkt und Modalitäten der Zahlungen entscheidet, gibt es keine normalen wirtschaftlichen Abläufe mehr, keinen freien Entscheidungsspielraum, aus normalen Mitbewerbern werden unfaire Konkurrenten.
Schläge, Feuer, Drohungen, Schüsse, Diebstähle. Beunruhigende Indizien, die in der Provinz Modena immer öfter zu verzeichnen sind. Von 2007 bis 2010 wurden den Daten der örtlichen Verwaltung zufolge über 350 vorsätzlich gelegte Brände registriert. Die Ziele dieser Anschläge: Pizzerien, Restaurants, Cafés, Tiefbaufirmen, Baggerverleihfirmen, Baustellen, Baumaschinen, Firmenfahrzeuge, Lastwagen. »Alarmierende Vorgänge«, wie sie die Staatsanwälte der Region bezeichnen. Die Staatsanwälte können die bittere Wahrheit umfassend belegen: Die Macht der Mafia und ihre Einschüchterungsmethoden sind definitiv im Herzen des Wohlstandsmotors Italiens angekommen. So zu tun, als ob es sich dabei um unwichtige, vorübergehende und letztlich nicht typische Erscheinungen handle, erleichtert dem unwillkommenen, gewalttätigen Gast nur den weiteren Zutritt zu den zentralen Ebenen der örtlichen Gesellschaft. Und schwächt deren Abwehrkräfte gegenüber dem Verbrechen.
Das, was sich gerade in der Lombardei, in Ligurien, Piemont und Latium abspielt, wo Politik und Mafia immer engere Verbindungen eingehen, versinnbildlicht die generelle Degeneration der Führungsschicht Italiens. Die Politik zeigt sich unfähig, langfristige Gegenbewegungen zu initiieren. Sie verlässt sich auf die Stimmenbeschaffung durch die Mafia, um ihre lukrativen Erbhöfe nicht zu verlieren. Nominierungen, Macht, Austausch von Gefälligkeiten haben Ideologie und Programmatik ersetzt. Die Auflösung des bisherigen Politikverständnisses kommt dem Vormarsch der Mafia zugute. Die Mafia findet hier ein fruchtbares Terrain vor, um ihre korrumpierenden Praktiken vertiefend anzusetzen.
Korruption und Mafia sind zwei Seiten derselben Medaille. Der Mafioso bedarf der politischen Unterstützung der legalen Macht, um zu »regieren«, um die öffentlichen Ausschreibungen zu manipulieren und seine legalen Unternehmungen zu pflegen. Umgekehrt brauchen Teile der Politik auch die Mafia. In der Konsequenz führte das zur Entstehung jener Grauzone, in der sich servile Politiker, aus dem Ruder laufende Geheimdienste, Staatsanwälte und »Freunde« aus den Reihen der Strafverfolgungsbehörden herumtreiben. Um die Macht über eine bestimmte Region zu erringen, setzt die Mafia ihre bekannten Mittel ein: schießen, bestechen und erpressen. Das traditionelle Italien mit seinen Wertvorstellungen wird dabei von den verschiedenen Mafia-Organisationen ausgekontert, die auf diese Weise ihren Vormarsch Richtung Norden vollenden.
Modena und die gesamte Emilia-Romagna sind Präzedenzfälle unter den verschiedenen Kriegsschauplätzen der Mafia. Einzelhändler und Landvermesser, politisch agierende Rechtsanwälte, Bankdirektoren und Geschäftsführer, Notare, Unternehmer und wie diese Strippenzieher alle heißen – Hunderte solcher »Leistungsträger« stehen auf der Gehaltsliste der Mafiosi, die ein ahnungsloser italienischer Staat eigenhändig nach Norden, nach Modena und in die Emilia-Romagna verpflanzte. Sie nehmen dort führende Rollen ein, auch in der Stadt Modena, die sich öffentlich gern ethisch einwandfrei gibt und in der angeblich alle eine weiße Weste haben.
Doch hinter der ehrbaren Fassade betreiben die Strippenzieher das Geschäft der Mafia, den versierten Slalom zwischen legaler und illegaler Ökonomie. Und das mit dem Grad an Professionalität, den die Mafia-Banden von ihren Strohmännern in der legalen Wirtschaft verlangen. Paolo Raviola, der zu den Verhafteten im Rahmen der Operation »San Cipriano« zählte, ist ein gutes Beispiel hierfür. Er hat sich den Spitznamen »Steuerberater« redlich verdient. Er kann auf eine Verbrecherkarriere zurückblicken, die sich ausschließlich im Bereich der Wirtschaftskriminalität abspielte. Neben seinen Fähigkeiten, die Spur von gewaschenen Erpressungsprofiten zu verwischen, gelang es ihm auch, verschiedene Konten zu eröffnen, die auf die Namen von Bauunternehmern liefen, die ebenfalls in die untersuchten Machenschaften verwickelt waren. Er war trotz allem das »legale Gesicht« der Bande mit Kontakten und Erfahrungen, die er sich im Lauf der Zeit angeeignet hatte, sowie Verbindungen zu den Direktoren verschiedener Bankfilialen in der Region. Aber er verfügt nicht nur über Geschick und hohe kriminelle Energie. Gemeinsam mit Alfonso Perrone soll er auch an einigen »Stoßtruppunternehmen« teilgenommen haben, die dazu dienten, »Rechnungen zu begleichen«.
Das ist Modena heute. Eine Stadt mit zwei Gesichtern. Die Stadt mit den geschmeidigen Strukturen, innerhalb derer sich die legalen und illegalen Aktivitäten oft überkreuzen. Nach außen sichtbar ist die immer weiter fortgeschriebene Erfolgsgeschichte der glänzend funktionierenden, boomenden legalen Wirtschaft. Häufig in neue Bahnen und Richtungen gelenkt wird diese allerdings von der dahinterstehenden illegalen. Die idyllische, traditionsreiche, vielfach gesegnete Stadt am Fluss Panaro tanzt auf dem Vulkan, angefeuert von der Mafia, die daran prächtig verdient.