19.

PATEN, BÜRGERMEISTER
UND RATGEBER

Die Clans strecken ihre Tentakel nach Norden aus. Und die ’Ndrangheta ist die Organisation, der es am besten gelingt, die verbreitete Korruption in der Po-Ebene für sich zu nutzen. Um dagegen vorzugehen, wären vorbereitende Kommissionen und Auflösungsdekrete für Gemeinde- oder Stadtparlamente probate Mittel. In der Realität Norditaliens werden diese aber nur sehr zögerlich zum Einsatz gebracht. Trotz der Verhaftungen, der Ermittlungen und der Nähe zum Milieu, die in Städten Süditaliens zum Skandal und zur Einsetzung einer vorbereitenden Kommission zur Auflösung des Stadtrats gereicht hätten, kam es in der Lombardei bislang nicht dazu. In keiner der Städte und Gemeinden, in denen Stadträte, Bürgermeister und Beigeordnete gewählt wurden, reichten die per Foto und per Abhörmaßnahmen dokumentierten Kontakte mit Bossen aus der ersten Reihe der ’Ndrangheta in der Po-Ebene aus, um ein solches Verfahren einzuleiten.

Stattdessen wurde beispielsweise der Untersuchungsbericht über die Gesundheitsbehörde von Pavia zur Verschlusssache erklärt. Es scheint, als ob sich ein Teil der lombardischen Politik bereits entschieden hätte, auf welcher Seite sie stehen will. Das beweisen die Wahlkampfdinners, bei denen Mitglieder der ’Ndrangheta aus Reggio Emilia Präsenz zeigen. Die Kommission wurde nicht einmal nach der Verhaftung von Giovanni Valdes einberufen. Der Bürgermeister, der in der Gemeinde Borgarello (Provinz Parma) amtierte und Mitglied der kirchlichen Laienbewegung Comunione e Liberazione ist, wurde zwar anschließend wieder aus der Haft entlassen, steht inzwischen aber wegen illegaler Absprachen vor Gericht. Diese Geschichte betraf auch den bereits erwähnten Carlo Chiriaco. Nicht einmal die Emilia-Romagna scheint von den Verstrickungen zwischen Politik und ’Ndrangheta verschont geblieben zu sein.

Im Mai 2011 sorgt der Fall Serramazzoni für Schlagzeilen. Im Mittelpunkt stand das gleichnamige kleine Dorf auf dem Mittelgebirgszug des Appennino bei Modena. Der Bürgermeister Luigi Ralenti von der PD, die Technische Direktorin Maria Rosaria Mocella und der Präsident des örtlichen Fußballverbandes Serramazzoni Calcio, Marco Cornia, erhielten den offiziellen Bescheid, dass gegen sie polizeilich ermittelt werde. Als Grund wurde »Störung der freien Wahl der Vertragspartei« angegeben. Sie werden verdächtigt, Firmen durch Drohungen dazu gebracht zu haben, nicht an bestimmten Ausschreibungen teilzunehmen.

Teile der Arbeiten (der Gesamtwert der Projektausschreibung lag bei 1,5 Millionen Euro) wurden der Firma Restauro e Costruzioni von Giacomo Scattareggia zugeschanzt. Diese hatte schon in der Vergangenheit für die Gemeinde Arbeiten ausgeführt. In Reggio di Calabria wurde bereits gegen sie wegen illegaler Absprachen ermittelt. Es handelt sich hierbei um ein Ermittlungsverfahren der Anti-Mafia-Behörde von Kalabrien, die im vergangenen Jahr zur Festnahme von 26 mutmaßlichen Mitgliedern des Rodà-Basile-Clans aus Condofuri (bei Reggio di Calabria) führte. Eine Gemeinde, deren Ratsversammlung bereits wegen mafiöser Unterwanderung aufgelöst wurde. Der Unternehmer, der jedoch nicht wegen verbotener Zusammenarbeit mit der Mafia angeklagt wurde, wählte ein abgekürztes Gerichtsverfahren, das mit einem Deal endete. »Es gibt im Übrigen keine Verbotsmaßnahmen gegen die Firma selbst«, stellten die Ermittler klar.

Das Verfahren in Modena wurde angestoßen durch die Anzeige eines Unternehmers. Er hatte angegeben, dass er gezwungen worden sei, seine Beteiligung an dieser Ausschreibung zurückzuziehen. Aber es gab noch eine weitere Firma, die 2008 als Subauftragnehmer Aufträge erhielt. Die Unione Group. Beide Unternehmen sollen den Ermittlern zufolge Rocco Antonio Baglio und seinem Sohn Michele gehören. In der Liste der Teilhaber der Unione Group tauchen Ehefrau und Tochter von Rocco Baglio auf. Die Geschäftsbeziehungen von Baglios Frau, die offenbar dem Clan aus Gioia Tauro angehört, der die Macht im neuen großen Güterhafen der Stadt ausübt, führen zu einem weiteren Unternehmen mit Sitz in Modena.

In der Untersuchung warf man Rocco Baglio vor, einen Brandanschlag auf die Villa eines konkurrierenden Bauunternehmers verübt zu haben. Außerdem soll er in den örtlichen Fußballverband, Serramazzone Calcio, eingebrochen sein. Er wurde beschuldigt, die Trikots entwendet, auf einen Haufen geschichtet, mit Dieselöl überschüttet und dann angezündet zu haben. Bürgermeister Ralenti streitet ab, Baglio irgendwelche Vergünstigungen verschafft zu haben. Stattdessen betont er, mit Baglio nur offizielle Kontakte unterhalten zu haben. In einem Interview widerspricht der Boss dieser Darstellung: »Wir sind eng befreundet.«

Ich habe mich mit dem Sohn von Rocco Baglio, Michele, verabredet. Ich wollte ihn persönlich kennenlernen und herausfinden, seit wann sein Vater und er Ralenti kennen. Michele bleibt dabei, dass es mit dem Bürgermeister keine freundschaftlichen Beziehungen gibt. »Wir haben ihn 2008 kennengelernt, als wir an der Ausschreibung teilgenommen haben.« Nichts weiter. Die angebliche Freundschaft mit dem Bürgermeister sei eine Erfindung der Journalistin, die den betreffenden Artikel verfasst habe, betont er. »Man hat meinem Vater die Worte im Munde herumgedreht«, erklärt er. Dann erzählt auch er von den Brandanschlägen. »Die Ausschreibung haben wir 2007 gewonnen, unsere Firma begann 2008 mit den Arbeiten, die Brandanschläge fanden 2009 statt. Welchen Grund hätten wir haben sollen, Brandanschläge gegen einen Wettbewerber zu verüben, der gar nicht an der betreffenden Ausschreibung teilgenommen hatte, und für die wir den Auftrag schon längst in der Tasche hatten?«

Nachdem Michele Baglio einige Jahre als Angestellter einer Firma aus Modena gearbeitet hatte, beschloss er sich selbständig zu machen. »Wir sind für die Legalität. Wenn es diese kriminelle Verwicklungen wirklich gäbe, die uns die Ermittler unterstellen, wie erklären sich dann die geringen Gewinnmargen unserer Firma? Darüber hinaus verrate ich Ihnen gern, dass wir gar nicht an Ausschreibungen teilnehmen, bei denen Konkurrenten maximale Preisnachlässe anbieten. Das würde unsere Gewinnmarge völlig auffressen. Wenn man die Regeln respektiert, ist es unmöglich, ein bestimmtes Preisniveau zu unterschreiten.«

Wir sprechen auch über vorgetäuschte Konkurrenz. »Das ist der Punkt«, sagt er, »wir machen alles genau nach den Buchstaben des Gesetzes. Man sollte gegen die Firmen ermitteln, die das nicht machen. Ich finde es unfair, wegen dieser alten Geschichten immer noch den Namen meines Vaters ins Spiel zu bringen. Das ist Effekthascherei, weil es bequem ist, weil es Schlagzeilen und Auflage garantiert.« Aber die Vergangenheit seines Vaters, frage ich ihn, ist doch die, die in den Gerichtsakten festgehalten wurde. »Sicher, ich will da gar nicht drumherum reden. Aber jeder macht mal Fehler. Mein Vater hat für seine Schuld gebüßt. Ihn aufgrund dieser Fehler auf ewig zu brandmarken, obwohl er sich inzwischen völlig von seiner Vergangenheit losgesagt hat, halte ich für ungerecht. Es stimmt auch nicht, dass er hinter meinen Firmen steckt.« Über die sich im finalen Stadium befindenden Ermittlungen verliert er kein Wort. »In den Akten gibt es ein Foto, das mich auf der Baustelle zeigt. Aber das ist doch selbstverständlich, ich bin doch der Geschäftsführer, regulär eingetragen, wie es beim Finanzamt hinterlegt ist. Da ist alles regelkonform abgelaufen.«

Rocco Antonio Baglio, das geht aus den Schlagzeilen und den Gerichtsakten hervor, hat die Geschichte der mafiösen Unterwanderung Modenas bis in die neunziger Jahre geprägt. Geboren in Polistena, einem Ort auf der Ebene von Gioia Tauro (Kalabrien), wurde er 1979 vom Gerichtshof in Reggio di Calabria nach Fiorano Modenese (bei Modena) verbannt. Hier hat er sein Netzwerk aufgebaut. Dazu gehören auch namhafte Selbständige der Region. Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte mit Renato Cavazzuti, der 1994 Kronzeuge der Justizbehörden wurde. Seine Erlebnisse hat Enzo Ciconte in dem Buch Mafia, camorra e ’ndrangheta in Emilia Romagna aufgezeichnet. Das war die erste gründliche Publikation über die Mafien und ihre Umtriebe in der Po-Ebene.

Anfang der achtziger Jahre leitete Cavazzuti die örtliche Filiale der Cassa di Risparmio (dt.: Kreissparkasse) in Modena. 1986 hörte er dort auf, um eine neue Arbeit bei der Berlusconi-Firma Fininvest Programma Italia aufzunehmen. Drei Jahre später verließ er die Fininvest wieder und machte sich als Finanzberater selbständig. Den Staatsanwälten hat Cavazzuti zahlreiche Begebenheiten erzählt, die im Zusammenhang mit den dunklen Machenschaften der Mafia stehen. Seine Aussagen stellten sich als besonders wertvoll heraus, weil sie Licht ins Dunkel um die Interessen der Mafiosi in der Welt der legalen Wirtschaft und des Bankwesens brachten.

Die Affäre Cavazzuti hängt mit Baglio und der ’Ndrangheta zusammen. Zu Beginn der neunziger Jahre stellte Fausto Bencivegna, ein Rechtsanwalt aus Modena, Cavazzuti zwei Männer vor, zwei Führungsfiguren der örtlichen ’Ndrangheta-Ableger, Rocco Baglio und Domenico Falleti, beide aus Polistena. Der Rechtsanwalt fragte den Finanzberater, ob er zwei Konten für die Herren eröffnen könne. Cavazzuti stimmte zu, trotz der kriminellen Vorgeschichte der beiden Kalabresen. In der Folge begannen der Rechtsanwalt und der Bankier ein gewagtes Spiel mit einem anderen Mann aus der Welt der »weißen Westen«, dem Direktor der Kreissparkassen-Filiale von Soliera (bei Modena).

1991 ordnete der Ermittlungsrichter von Modena die Festnahme von Baglio an, »wegen Anstiftung zum Betrug« und weil er »zusammen mit anderen den Konkurs kleiner Unternehmen oder Einzelhandelsgeschäfte provoziert habe, um sich in deren Besitz zu bringen und in diese Kapital illegaler Herkunft einzubringen.« Nachdem zwischen Maranello und Fiorano ein ganzes Waffenarsenal gefunden worden war, musste der Wahl-Modeneser Baglio 1993 für einen weiteren Aufenthalt ins Gefängnis. Das Sondereinsatzkommando der Carabinieri fand damals zwei Panzerfäuste mit 18 Raketen, 41 Handgranaten, 14 Dynamitstangen, eine Kalaschnikow AK 47, zwei Maschinenpistolen Marke Skorpion, eine Uzi-Maschinenpistole sowie 2 600 Schuss Munition verschiedener Kaliber.

Seit seiner Ankunft in der Emilia-Romagna, so erzählt Renato Cavazzuti, hat es Baglio vermocht, ein dichtes Netzwerk unverdächtiger Unterstützer zu knüpfen. Ein Netzwerk, das den Ermittlern zufolge, die im Fall Serramazzoni die Untersuchungen führen, bis heute aktiv ist. Auch die Lokalpolitik soll in dieses eingebunden sein. Da erstaunt es nur wenig, dass der Sohn von Baglio in dieser Sache anderer Meinung ist. Er beharrt darauf, dass sie von niemandem Gefälligkeiten entgegengenommen hätten. Als der entsprechende Untersuchungsbericht, der auch Bürgermeister Ralenti betrifft, veröffentlicht wurde, schlug der regionale Kultur-Beigeordnete Massimo Mezzetti von der Partei Sinistra e Libera, der vor einigen Jahren von der Mafia bedroht worden war, vor, eine vorbereitende Kommission zur Auflösung des Gemeinderats von Serramazzoni einzusetzen, um auf diesem Wege die Tatbestände innerhalb der Stadtverwaltung der Gemeinde endlich aufzuklären. Die PD dagegen vertrat den Standpunkt, dass man abwarten müsse. Und der Bürgermeister, den ich wenige Monate vor Abschluss des Manuskripts traf, wies meine Frage, ob es mafiöse Unterwanderung in dieser Gegend gebe, zurück und erklärte, dass hier eine solche Beeinflussung nicht existiere. Ob das in anderen Regionen der Fall sei, wisse er nicht.

Das Jahr 2011 war in der Emilia-Romagna geprägt von den Enthüllungen zu einem weiteren Fall bedenklicher Nähe zwischen Politik und ’Ndrangheta. Zu den bisher völlig Unbescholtenen, die von der Anti-Mafia-Behörde Bologna zur Vernehmung vorgeladen wurden, zählte der Steuerberater Nerio Marchesini. Er gehört dem Bezirksverband der PD in San Matteo, einem Ortsteil von San Giovanni an. Sein Vater ist einer der führenden Exponenten der Kommunistischen Partei Italiens (PCI). Den Staatsanwälten zufolge soll Marchesini dem Drogenhändler Barbieri dabei geholfen haben, Strohmänner für verschiedene Firmen und Immobilien einzusetzen. Konkret wurde Marchesini vorgeworfen, sich beim Ankauf des Café Montecarlo im Zentrum von Bologna engagiert zu haben. »Durch einen zielgerichteten und bewussten Beitrag von Marchesini« sei es Vincenzo Barbieri und seiner Lebensgefährtin Marika Aiello gelungen, heißt es im Haftbefehl, die Eigentümerschaft des Cafés auf Francesco Ventrici zu übertragen, der zufälligerweise genauso hieß wie der Gehilfe von Barbieri.

Marika Aiello ist die Tochter von Carmelo Aiello, dem ehemaligen Beigeordneten für Städtebau von Vibo Valentia (Kalabrien). Nerio Marchesini hatte anonymen Berichten zufolge die Rolle des Schatzmeisters der Partei PD übernommen. In der Zwischenzeit ist er freiwillig zurückgetreten. Der Staatsanwalt betont jedoch: Wäre Boss Barbieri nicht gekommen, hätte es keine Gefahr eines Rückfalls gegeben. Das ist sehr unbefriedigend für diejenigen, die seit langem gegen Korruption kämpfen. Schließlich schritt Generalsekretär Bersani ein und unterstützte den Vorschlag des Bürgermeisters von Bologna, Luigi Merola, von der Partei PD, der die Einberufung einer parlamentarischen Untersuchungskommission zu den Mafia-Umtrieben in der Emilia-Romagna forderte. Es wäre das erste Mal, dass in dieser in Watte gepackten und gemäß den Konventionen in Schweigen gehüllten Region unangreifbare Anti-Mafia-Organe zum Einsatz kämen.

Aber die Verhaftung prominenter Mitglieder der Gesellschaft zeigt, dass auch diese nicht mehr sakrosankt sind. So geriet bereits im Juli 2010 der Ex-Generaldirektor der Bank Credito Sammarinese aus San Marino, Valter Vendemini, in die Fänge der Justiz. Auch in diese Affäre war der Drogenhändler Barbieri verstrickt. Vendemini hatte es ihm ermöglicht, auf den Konten des Kreditinstituts im Schatten des Monte Titano riesige Gewinne aus dem Drogenhandel und anderen illegalen Aktivitäten zu deponieren. Vincenzo Barbieri ist eine jener Personen, die bei jeder Bank, die er betritt, automatisch die Alarmglocken schrillen lassen müssten. Jede seiner Kontenbewegungen müsste automatisch auf Geldwäsche hin untersucht werden. Schon die einfache Eröffnung eines Kontos müsste konsequent abgelehnt werden. Doch das war nicht der Fall bei der Bank aus San Marino, die ihre Geschäftsbeziehung zu Barbieri den italienischen Behörden erst nach dessen Verhaftung anzeigte.

Vendemini war schon 2007, noch als Bankdirektor, von der italienischen Bankenaufsicht wegen einiger Unregelmäßigkeiten gerügt worden. Er wurde zwischenzeitlich seines Amtes enthoben, doch das konnte nicht verhindern, dass die Zentralbank von San Marino das Kreditinstitut mittlerweile unter ihre Aufsicht gestellt hat. Als geschäftsführender Direktor wurde kein Finanzexperte, sondern der Interpol-Direktor von San Marino, Maurizio Faraone, eingesetzt. Als erste Maßnahme verfügte er die zeitweise Schließung der Filiale und der zugehörigen Finanzgesellschaft namens Polis. Der Verhaftung von Vendemini folgten weitere aufsehenerregende Ereignisse. Zu den Beschuldigten zählte auch der Präsident und Gründer des Instituts, Lucio Amati, sowie andere Funktionäre. Die Untersuchungen der Anti-Mafia-Behörde von Catanzaro im Rahmen der Operation »Decollo Money« wurden im Februar 2012 abgeschlossen. Insgesamt wurden 42 Verdächtige verhaftet, die Hälfte von ihnen stammte aus San Marino.

Aus den abgehörten Gesprächen ging hervor, dass es einige begründete Verdachtsmomente gegen die Geschäftsführung des Instituts gibt. Lucio Amati wurde zu Hausarrest in seiner Villa in Riccione (Adria) verurteilt. Die von Barbieri und seinen Bandenmitgliedern in Gang gesetzte Operation hatte 15 Millionen Euro in die Kassen des klammen Kreditinstituts gespült. Diese sollten auf mehrere neueröffnete Geschäftskonten bei der Bank verteilt werden. Ein großer Teil des Geldes traf auch ein, doch dann hat die Ermordung Barbieris, der am 12. März 2011 mit zwanzig Pistolenschüssen in San Calogero (bei Vibo Valentia in Kalabrien) hingerichtet wurde, den weiteren Ablauf der Geldwäscheoperation verhindert.

Die Staatsanwälte von Catanzaro hielten als Ergebnis den skandalösen Kern der Vorgänge fest: »Es handelte sich um eine Bank in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die hoffte, sich mit Mafia-Geld sanieren zu können.« Barbieri, der den Ermittlern zufolge zum Mancuso-Clan gehörte, hatte es immerhin geschafft, mit Spitzenmanagern des Geldinstituts in persönlichen Kontakt zu treten. Dies hatten ihm Selbständige des Ortes ermöglicht, »die in der Lage waren, die unabdingbaren Kontakte mit den richtigen Leuten zu vermitteln«. Das alles liegt noch nicht lange zurück. Wenn man diese Dinge zur Geschichte des Vallefuoco-Clans hinzuzählt, der als Dienstleister für andere ’Ndrangheta-Clans und einige Führungsfiguren der sizilianischen Mafia Geldwäsche in großem Stil organisierte, dann bestätigt sich das Bild der Clans aller drei Mafien, die ständig auf der Suche nach Lücken im legalen Finanzsystem sind, nach Grauzonen, innerhalb derer ihre Art der kreativen Buchführung toleriert oder gar gefördert wird.

Von Bologna und Rimini aus sind die Wege nach San Marino kurz. Die sicheren Bankschließfächer des Kleinstaates ziehen ’Ndrangheta, Mafia und Camorra magisch an. Die Camorra-Clans der Vallefuocos und der Casalesis konnten in San Marino unter Beihilfe eines Rechtsanwaltes, der sie beriet, sogar eine eigene Finanzgesellschaft gründen. Zugunsten dieser Gesellschaft holten sie – unter anderem mit Hilfe von Bedrohungen und Erpressungen – Kredite ein. Den Vallefuocos gehörte auch eine Bäckerei in San Marino. Die Produkte dieses Betriebs wurden gemäß einem Beschluss der Staatsregierung von San Marino auch an Schulen und Hotels geliefert. Das sorgte für Aufsehen: »Camorra-Brot für unsere Kinder«, wie Lokalzeitungen titelten. Doch der Bruder und die Schwester von Vallefuoco, die die Besitzer dieser Bäckerei sind, streiten entrüstet jeden Zusammenhang mit der Camorra rundheraus ab. Vier Monate nach dieser Befragung wurde eben dieser Bruder, Giovanni Vallefuoco, im Rahmen der Operation »Vulcano« festgenommen.

Die Brotlieferungen der Camorra-Bäckerei erreichten auch zwei der größten Kooperativen der Region: die im Gastronomiebereich in ganz Italien aktive gemeinnützige Service-Ko-operative CAMST sowie die soziale Kooperative der vereinigten Krankenpfleger CIR. »Es handelte sich nur um gelegentliche Lieferungen im Jahr 2009«, erklärte die CAMST einige Tage, nachdem der Sachverhalt öffentlich geworden war. Ähnlich reagierte die in Reggio Emilia und Modena aktive CIR Food. Sie fügte hinzu, dass Brot ein Produkt sei, das einen örtlichen Lieferanten verlange. 2010 seien insgesamt 307 Firmen mit der Lieferung von 1200 Produkten für den Sektor Frischbrot beauftragt worden. Es sei für eine Gesellschaft dieser Größe nicht möglich, die Herkunft der Mitglieder im Gesellschafterkreis aller beauftragten Lieferanten zu überprüfen, ergänzte die CAMST. Das sei Aufgabe der hierfür zuständigen staatlichen Stellen, auch zum Schutz der Auftragsgeber, ihrer Angestellten und der Verbraucher.

»Während des Zeitraums, in dem die Firma Vallefuoco Brot lieferte, gab es zahlreiche Beschwerden vonseiten der Kinder, denen das angelieferte Brot nicht schmeckte«, beklagte damals die Partei Sinistra Unita von San Marino und zwang damit die Schulbehörde, eine öffentliche Versammlung in der Gemeinde Fiorentino (San Marino) einzuberufen. In dieser sollten die Eltern die Möglichkeit haben, ihre Meinung kundzutun. Zu ihrer Rechtfertigung gab die Behörde an, dass der Vertrag über die Brotlieferung nicht aus Gründen des Geschmacks, sondern nur eventuell aus Qualitätsgründen gekündigt werden könne. Es gab zahlreiche Zeugenaussagen, denen zufolge der Inhalt der Brotlieferungen von geringer hygienischer Qualität gewesen sei. Es gab auch informelle Anfragen, und hinter vorgehaltener Hand wurde die Bitte geäußert, mehr über die Aktivitäten der Bäckerei Vallefuoco herauszufinden. Aber die Nachforschungen blieben ohne Ergebnis. »Es hat nicht funktioniert, das müssen wir zugeben. Es liegt nicht in unserer Kompetenz, und es ist leider heute nicht mehr möglich, die Qualität des Brots zu untersuchen«, resümierte die Sinistra Unita.

Auch der Gemeinderat von Desio (bei Mailand) lief zeitweise Gefahr, wegen mafiöser Unterwanderung aufgelöst zu werden. Als die meisten der gewählten Volksvertreter Wind von der drohenden Gefahr bekamen, traten sie zurück. Damit erinnert die Sache in etwa an den Fall der Gemeinde Fondi, als Minister Maroni eine Auflösung des dortigen Gemeinderats wegen mafiöser Unterwanderung plante, die Gewählten jedoch die Demission vorzogen. Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied. Über den Fall Fondi gibt es eine fünfhundert Seiten starke Dokumentation, in der bis ins kleinste Detail die Gefälligkeiten gegenüber der ’Ndrangheta und dem Casalesi-Clan festgehalten wurden. Im Fall Desio gibt es überhaupt keine Dokumentation, weil die vorbereitende Kommission erst gar nicht einberufen wurde und in den Tagen, als über die mögliche Einsetzung einer solchen Kommission Gerüchte laut wurden, die Abgeordneten ihren Massenrücktritt erklärten. Zurück blieb allein der Assessor Natale Marrone, Cousin eines mutmaßlichen Mafioso, gegen den in der Operation »Crimine« im Juli 2010 ermittelt wurde.

Marrone wurde mit einem Vorsprung von vierhundert Stimmen gewählt und war gleichzeitig der Präsident des Kreisverbandes der rechtsgerichteten Partei Alleanza Nazionale in Desio. 2009 – ein Jahr, bevor er gewählt wurde – bat Marrone den örtlichen Pate Pio Candeloro darum, den Chef der Technikabteilung im Bauamt der Gemeinde Desio, zu bestrafen. Aber Pio lehnte ab. Nicht aus Menschlichkeit, sondern weil Rosario Perri einem Clan »angeschlossen« sei.

In Pavia waren der Rechtsanwalt Pino Neri und der bereits erwähnte Carlo Chiriaco die Strohmänner der ’Ndrangheta. Beides völlig unverdächtige Fachleute, die für die ’Ndrangheta ein Netzwerk politischer Beziehungen knüpften. Und das sowohl in regionaler wie in lokaler Hinsicht. Carlo Chiriaco und Pietro Trivi, der Assessor für Wirtschaftsfragen der Stadt Pavia, wurden vom Vorwurf der Wahlfälschung freigesprochen. Die Untersuchung war in Gang gekommen, weil Chiriaco im Rahmen der Operation »Infinito« der Anti-Mafia-Behörde Mailand plötzlich zu den Verdächtigen zählte. Der im Prozess nicht bestätigten Anklage zufolge soll er Wählerstimmen gekauft haben mit dem Ziel, die Wahl Trivis in den Stadtrat von Pavia zu unterstützen. Trivi wurde in der Folge Assessor für Wirtschaftspolitik, Handwerk und Produktion. Kaum war dieser im Amt, arbeitete Chiriaco, der sich als reguläres Mitglied der ’Ndrangheta versteht, mit ihm ein millionenschweres Investitionsprojekt aus. Dieses sollte, wie die Mailänder Staatsanwälte herausfanden, mit Unterstützung des dank Mafia-Hilfe gewählten Assessors realisiert werden. Es handelte sich um die Reaktivierung des alten Wasserflughafens und des Gasometers, auf deren Fläche sie eine neue Zitadelle namens Europa kreieren wollten, um ein Gelände für Sportveranstaltungen und Shows zu schaffen sowie einen großen Parkplatz, einen Radweg und andere Einrichtungen. Ein Teil der Investitionssumme hätte von der Europäischen Union kommen sollen.

Auf lokaler Ebene bewegten sich Neri und Chiriaco mit vollendeter Geschmeidigkeit. So erfreuten sie sich mit Mitgliedern des Stadtrats von Pavia langjähriger Freundschaften. Etwa mit dem Stadtrat Dante Labate, dem Bruder von Massimo Labate, einem Politiker aus Reggio di Calabria, der dort wegen illegaler Absprachen und mafiöser Umtriebe vor Gericht stand. In erster Instanz wurde er freigesprochen. In der Berufungsverhandlung beantragte die Staatsanwaltschaft zehn Jahre Haft.

Chiriaco wollte, dass Dante Labate eine Kandidatin bei den Regionalwahlen unterstützte. Labate hätte das sicher gemacht. Er und sein Pool von rund 6 000 Wählerstimmen waren für die zur Wahl Stehenden bei jeder Abstimmung wie eine Bank. Chiriaco und Gariboldi sprachen darüber in einer abgehörten Unterhaltung, und überlegten, ob sie Labate im Tausch eine Stelle in der Gesundheitsbehörde von Pavia anbieten sollten. »Ich hab deinem Mann schon gesagt, dass ich ihm Bescheid sage, wenn es einen freien Posten bei uns in der Gesundheitsbehörde gibt. Schlag ihm das doch einfach mal vor, und wenn er darauf eingeht, sehen wir weiter.«

In ihren Augen hatte Labate nur einen einzigen Fehler. Was seine Forderungen anging, war er zu gierig. »Labate ist ein strebsamer junger Mann, aber völlig irre«, sagte Chiriaco zu Pino Neri. Er verstehe einfach nicht, dass gewisse Regeln in der Politik beachtet werden müssten. Die bequemen Posten werden nach bestimmtem Proporz untereinander aufgeteilt. Außerdem gebe es politische Absprachen, die einzuhalten sind. Darüber sprachen auch Chiriaco und Luca Filippi, Sohn von Ettore Filippi, dem ehemaligen stellvertretenden Bürgermeister von Pavia. Luca Filippi ist ein Ex-Polizist, der damals dabei war, als der Chef der geheimnisumwitterten Terrororganisation Brigate Rosse, Mario Moretti, verhaftet wurde. Mittlerweile hat er eine eigene Wählervereinigung namens Rinnovare Pavia (dt.: Pavia erneuern) gegründet, die Alessandro Cattaneo, den Kandidaten der rechtsgerichteten PdL bei den Bürgermeisterwahlen, unterstützte. Ettore Filippi selbst tauchte nicht unter den Kandidaten auf.

Filippi kennt Chiriaco, das belegen zahllose abgehörte Unterhaltungen. Schon bevor Filippi stellvertretender Bürgermeister wurde, trafen sie sich regelmäßig. Zusammen bestritten sie Kommunalwahlkämpfe. Filippi bat bei einer solchen Gelegenheit Chiriaco und Neri, einen seiner Vertrauten auf ihrer Liste aufzunehmen. Diesem Wunsch kamen die beiden Selbständigen von der ’Ndrangheta nur zu gern nach. Gegenwärtig ist Filippi Aufsichtsratsmitglied der Poliklinik San Matteo in Mailand.

In Bollate im Mailänder Hinterland gründete Mafia-Boss Vincenzo Mandalari kurzerhand eine eigene Wählervereinigung. Zu den Protagonisten des ambitionierten Projektes, das die Staatsanwälte »alarmierend« finden, gehört auch Francesco Simeti, Gemeinderat von Bollate. Die von Mandalari und Simeti entwickelte Strategie sah vor, die Gemeindeverwaltung durch die Ablehnung des Haushaltsentwurfs zu stürzen, einen eigenen Kandidaten für den Bürgermeisterposten aufzustellen und sich dann zur Durchsetzung ihrer Ziele mit einer der übrigen politischen Kräfte zu verbünden. Wie aus den abgehörten Unterhaltungen hervorging, war das Hauptinteresse von Mandalari naheliegenderweise nicht politischer, sondern ein ökonomischer Natur. Er wollte, dass sich die neue Gemeindeverwaltung seine Unternehmerinteressen zu eigen macht und ihm alle relevanten Aufträge zuspielt. »Wir schmeißen den Bürgermeister raus, und zwar hochkant, das ist unsere Absicht, meine Freunde«, verkündet Mandalari vor Simeti und anderen Gleichgesinnten.

Auch der stellvertretende Bürgermeister von Bollate erfährt von der Politintrige Mandalaris. Und zwar direkt von Simeti, wie der Abhörtrupp der Polizei aufzeichnen konnte. Mandalari und Simeti benötigten demzufolge achthundert Stimmen, um einen Kandidaten ihrer Wahl in den Gemeinderat entsenden zu können. Aus den Worten Mandalaris ging die Bedeutung der Lokalpolitik für die ’Ndrangheta unmissverständlich hervor. Der während der Operation »Crimine« verhaftete Boss gab zu, dass er sich für Politik nur aus dem Grund interessiert habe, weil in Bollate so wenig gebaut worden sei und deshalb die Gemeinde als Auftraggeber herhalten müsse. Er erzählte dem mit ihm befreundeten Anwalt auch von weiteren illegalen Bauten, beispielsweise von illegal hochgezogenen Häusern in Cascino del Sole, einem Ortsteil von Bollate.

Die ’Ndrangheta will sich die Politik gefügig machen, und zwar ausschließlich aus Gründen der Profitmaximierung. Macht man Mandalari darauf aufmerksam, dass der Bürgermeister, den er zu Fall bringen will, von der Linken ist, antwortet er: »Rechts oder Links, das ist innerhalb der Lokalpolitik völlig egal.« Die ’Ndrangheta ist daher politisch zunächst einmal »neutral«, weder rechts noch links noch in der Mitte. Sie giert nach Geld und Macht, von denen sie ihr Ansehen bezieht und das sie dann am Verhandlungstisch mit dem politischen System und Unternehmern benutzen kann.

Bei den Versuchen von Teilen der ’Ndrangheta, ins politische System Norditaliens einzudringen, handelt es sich nicht um Einzelfälle. Auch Leonardo Valle, ein in Mailand wohnender Mafioso mit Verbindung zum Condello-Clan aus Reggio di Calabria, kandidierte bei den Gemeindewahlen 2009 mit dem Ziel, Stadtrat in Cologno Monzese zu werden. Der Versuch scheiterte. Er wurde nicht gewählt, ebenso wenig Riccardo Cusenza, Kandidat in der Gemeinde Cormano auf der Liste der PdL, der von sich sagte, er sei eng befreundet mit Guido Podestà, dem Präsident der PdL in der Provinz Mailand. Auch zwei weitere Kandidaten der Cosa Nostra aus Gela (Sizilien) fielen bei diesen Wahlen durch. Sie versuchten 2007 in den Stadtrat von Parma einzuziehen, bei den Abtrünnigen der UDEUR (Unione Democratici per l’Europa, dt.: Union der Demokraten für Europa).

Alles Belege dafür, dass die Mafien nach wie vor versuchen, eigenes Personal in die Politik einzuschleusen. So wie zu Zeiten der Landung der Amerikaner auf Sizilien 1943, als diese zum Dank für Kundschafterdienste und sonstige Hilfestellungen aller Art vor Ort berüchtigte Mafiosi zu Bürgermeistern der eroberten Gemeinden machten. Für den überwiegenden Teil der Mafien gilt aber, dass diese das Rampenlicht der Öffentlichkeit so sehr scheuen, dass sie vor solchen Abenteuern regelmäßig zurückschrecken. Sie ziehen es vor, wie bisher im Schatten zu agieren, still und heimlich. Um von dort das süße Gift der Korruption unter die Leute zu bringen, abseits der Scheinwerfer. So wie in Trezzano sul Naviglio. Die dortigen Ereignisse bewiesen einmal mehr die Fähigkeit der ’Ndrangheta, verdeckte Operationen durchzuführen. Sie benutzte dafür eine Gruppe von Unternehmern, die gesprächsbereit waren und ihre Kooperation freiwillig anboten.

Den Clans Gefälligkeiten anzubieten, um die eigenen Geschäfte abzusichern, ist leider eine verbreitete Unart geworden in Unternehmerkreisen Norditaliens. Im November 2009 begann die Operation »Parco Sud«. Die Anti-Mafia-Direktion des italienischen Innenministeriums deckte dabei ein System auf, das auf der Zusammenarbeit von ’Ndrangheta und Immobilienspekulanten beruhte. Daran wirkte an erster Stelle der Barbaro-Papalia-Clan aus Platì (Kalabrien) mit, der, wie erwähnt, im norditalienischen Buccinasco eine Außenstelle betreibt. Von Unternehmerseite waren Alfredo Iorio und Andrea Modafferi beteiligt, die über ihre Kreiamo-Immobiliengesellschaft mit Sitz in der vornehmen Via Montenapoleone in Mailand die Firma Immobiliare Buccinasco kontrollierten. Diese understand dem Barbaro-Clan. Der Anklage zufolge soll Madafferi Schutzgeld an Clan-Boss Salvatore Barbaro bezahlt haben. Im Tausch hielt ihm der Clan Forderungen anderer Mafia-Zellen vom Leib. Zusätzlich beauftragte Madafferi die Firmen des Barbaro-Clans mit auszuführenden Arbeiten. Die Vorwürfe der Anklage wurden vom Gericht geteilt und Madafferi wegen Zusammenarbeit mit mafiösen Organisationen zu sechs Jahren Haft verurteilt.

Doch die Operation »Parco Sud« war mit den Verhaftungen im November 2009 noch nicht abgeschlossen. Aus ihr ergab sich eine weitere Untersuchung, »Parco Sud II«. Die Ermittlungen gingen von einigen Hinweisen aus, die man während der Durchsuchung der Büros der Kreiamo gefunden hatte und die weitere Politiker von den Parteien PD und PdL betrafen. Tiziano Butturini, Ex-Bürgermeister (PD) von Trezzano sul Naviglio, Präsident des Aufsichtsrats der Firma Amiacque und Ehemann der gegenwärtigen Bürgermeisterin von Trezzano, sowie Michele Iannuzzi, ehemaliger Stadtrat (PdL) derselben Stadt, sollen von Madafferi und Iorio bestochen worden sein. Sie erhielten das Geld für angebliche Beratungsleistungen für die beiden Gesellschaften. Im Gegenzug sollten sie einen abgesprochenen Parzellierungsplan für bestimmte Grundstücke absegnen. Während der Gerichtsverhandlung zu diesen Vorgängen stimmten beide außergerichtlich einem Deal zu, der ihnen bei Aussage eine Strafreduzierung in Aussicht stellte.

Es ist ein Bild in düsteren Farben, das sich aus den Akten der Untersuchung »Parco Sud« ergibt. Immobilienunternehmer, Politiker und Leiter öffentlicher Einrichtungen, die den Schmiergeldangeboten der ’Ndrangheta erliegen. Sie interessiert die Herkunft dieser Gelder nicht, die dafür eingesetzt werden, politische Zustimmung zu erkaufen. Es ist ein schmutziger Handel, der hier mit öffentlichen Gütern betrieben wird. Und während die Moral derer sinkt, denen der Schutz dieser Güter obliegt, arbeiten die Mafien weiter daran, ihre Macht zu vergrößern. Durch Protektionswirtschaft, Ämterpatronage und Korruption gelingt es den Mafien, ihre Interessen im wirtschaftlichen Zentrum des Landes durchzusetzen. Erprobte Mechanismen, die an der südlichen Peripherie des Landes entwickelt wurden und die die ’Ndrangheta-Clans mittlerweile systematisch im Norden Italiens zur Anwendung bringen.

Dort treffen sie auf skrupellose Vertreter des Unternehmertums, der Verwaltung, der Politik. Kulturell und politisch nähern sich die Mafia-Organisationen einerseits und das Wirtschafts- und Finanzsystem andererseits immer weiter an. Die Clans gleichen mittlerweile Finanzholdings und versuchen unablässig, sich immer weitere Bereiche der legalen Wirtschaft einzuverleiben, um die nahezu unbegrenzte Liquidität aus dem Drogenhandel zu investieren und Profite zu maximieren. Eine Charakteristik der modernen Mafien, die sie ihren Gegenspieler in der Wirtschaft, den Industrie- und Finanzgesellschaften, immer ähnlicher macht. Auch deren Ziele sind die Vervielfachung der Profite, die Verwaltung von Eigentum sowie die feindliche Übernahme anderer Firmen.

Im gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzsystem liegt möglicherweise auch die Antwort auf die Frage, warum ’Ndrangheta, Camorra und Cosa Nostra derart märchenhafte Gewinne machen, die den Neid von Finanzministern auf der ganzen Welt erwecken. Zugespitzt lässt sich die Frage dahingehend formulieren, warum die Politik in den Industriestaaten es seit Jahrzehnten zulässt, dass durch das staatliche Verbot, Drogen zu konsumieren und mit diesen zu handeln, diese märchenhaften Gewinne überhaupt erst möglich werden. Und im Weiteren, ob und wenn ja, wie sehr die legale Wirtschaft bereits von dem konstanten Zustrom der Drogenmilliarden abhängig ist.

Die Währung, mit der die Mafien in Politik und Wirtschaft ihre Rechnungen begleichen, ist die Korruption. Mit ihrer Hilfe schleicht sich die ’Ndrangheta in die Machtzentren ein. Die Mafiosi bestechen, um wirtschaftliche Ziele zu erreichen, die einer mafiösen Organisation eigen sind. Dies geschieht zu Lasten der Gemeinschaft der restlichen Bürger des Landes. In Italien ist die Korruption seit Jahrzehnten ein verheerendes Übel, eine Geißel, mit der ein ganzes Land geschlagen ist. Der italienische Rechnungshof hat eine Schätzung veröffentlicht, derzufolge der Volkswirtschaft ein jährlicher Schaden in der Größenordnung von 60 Milliarden Euro entsteht. Wie viele Arbeitsplätze könnten für perspektivlose Jugendliche mit diesem Geld geschaffen werden, das den Bürgern dieses Landes gestohlen wurde?

Die ’Ndrangheta-Clans in der Lombardei suhlen sich im Schlamm der Korruption und vervielfachen dabei ihre Gewinne. Die Mafiosi haben erkannt, dass man mit so manchem aus den Reihen der wirtschaftlichen und politischen Führungskader Norditaliens »verhandeln« kann. Stimmenkauf, Gefälligkeiten, Dienstleistungen zu minimalen Kosten, die im Gegenzug für gewonnene Ausschreibungen, Baugenehmigungen und Unternehmenszulassungen angeboten werden. Darüber hinaus sichert die ’Ndrangheta »befreundeten« Unternehmern und Politikern Ruhe, Karriere und höhere Profite zu. In Buccinasco, das aufgrund seiner mafiösen Verstrickungen als das Äquivalent der kalabrischen Mafia-Hochburg Platì im Norden angesehen wird, gibt es durch die jahrzehntelange Zuwanderung mittlerweile eine signifikante kalabrische Gemeinde, die zu großen Teilen eben aus Platì, der nur 4 000 Einwohner zählenden kalabrischen Ortschaft im hintersten Bergland des Aspromonte, stammt. In eben jenem Buccinasco wurden im März 2011 der Bürgermeister, Loris Cereda, der Gemeinderat Antonio Trimboli, der ehemalige stellvertretende Bürgermeister Luciani und der Beigeordnete für öffentliche Arbeiten, Cattaneo, verhaftet.

Die hinter den Verhaftungen sichtbar werdende Misswirtschaft ist bezeichnend dafür, was es bedeutet, eine Patronagewirtschaft in einer demographisch heiklen Region wie Buccinasco zu schaffen. Die Ermittlungen begannen nach Hinweisen, die von einigen Gemeindeangestellten kamen. Sie gaben an, dass sie gezwungen worden seien, Beschlüsse und Berichte zu unterschreiben, die sie nicht vertreten konnten. Im Oktober 2011 wurde das Hauptverfahren gegen Bürgermeister Cereda eröffnet. Der Anklage zufolge gab es vor Ort eine Patronagewirtschaft, die rings um die reaktionäre Katholikenbewegung Comunione e Liberazione (CL) entstanden war. Trimboli, Cereda, Luciani und Cattaneo waren dort Mitglieder. Und nicht nur sie. Unter den Mitgliedern des Gemeindrats von Buccinasco lassen sich noch andere CL-Anhänger ausmachen.

Gemeinderat Antonio Trimboli ist gebürtig aus Platì und wurde in den Stadtrat dank der Stimmen seiner Landsleute gewählt. Diese sind teilweise seit Jahrzehnten in Buccinasco ansässig. Aber er ist auch mit den Brüdern Papalia von der Spitze des gleichnamigen Clans verwandt, als Cousin von Rosa Sergi, der Frau des inhaftierten Clan-Chefs Domenico Papalia. Der Emigrant aus dem Süden, der den Aufstieg zum Stadtrat im Norden schafft und dabei den Ruf einer ganzen Gemeinde aufs Spiel setzt, könnte als folkloristische Geschichte durchgehen. Wäre da nicht die andere Seite von Trimboli, der als Komplize der Misswirtschaft unter Führung von Cereda für seine Dienste bei der Vergabe bestimmter Bauaufträge Luxuslimousinen verlangte, unter anderem Bentleys und Ferraris.

Trimboli selbst ist Teilhaber zahlreicher Gesellschaften und Unternehmen. Gegen ihn wird ermittelt, weil er ein wichtiges Dokument unterschlagen haben soll. Mit dessen Hilfe könnte angeblich belegt werden, dass ein bestimmter Architekt, der zuvor schon von der CL beschäftigt worden war, bevorzugt von der Gemeinde beschäftigt wurde, solange Trimboli etwas zu sagen hatte. Unter den Rechnungsstellern mit auffälligem Hintergrund, die in den Untersuchungsakten genannt werden, taucht auch die Firma Edil Company auf. Diese gehört dem Barbaro-Clan. Daran ist nichts Illegales. Trotzdem hat es einen Hautgout, wenn von Firmen des verbrecherischen Barbaro-Clans Arbeiten für die Gemeinde ausgeführt werden.

Im Haftbefehl gegen Cereda, Trimboli, Luciani und Cattaneo betonten die Ermittler, dass ein System vorliege, das in vieler Hinsicht jenen ähnlich war, die in den Akten der vorbereitenden Kommissionen zur Auflösung von Gemeinderäten in Nord- und Süditalien vielfach beschrieben wurden. »Die aus den Ermittlungen hervorgegangenen Erkenntnisse zeichnen erneut ein klares Bild, wie den Nominierungen von Wahlkandidaten, der Vergabe von Aufträgen und Arbeiten vonseiten der Gemeindeverwaltung von Buccinasco hauptsächlich und exklusiv freundschaftliche Beziehungen zugrunde lagen und ein gegenseitiger Austausch von Gefälligkeiten zwischen den Gemeindebeamten und den von Privatinteressen geprägten anderen Partei gepflegt wurde, die zu Lasten der schützenswerten öffentlichen Besitztümer gingen.«

So wurden zum Beispiel Grundstücke keineswegs an den Meistbietenden verkauft, sondern an »Freunde«. So verschleuderte Bürgermeister Cereda, der mehrfach öffentlich die Existenz der ’Ndrangheta in seiner Gemeinde abstritt, ein wertvolles öffentliches Grundstück für 10.000 Euro. Ein naturbelassenes Terrain, das die Gemeinde den Betonfritzen in den Rachen warf. Auf diesem Biotop soll jetzt ein Parkhaus für die Kunden des künftigen Auchan-Supermarktes von Buccinasco errichtet werden. All das wird derzeit vor Gericht verhandelt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nur sicher, dass es ein Berufungsverfahren des Bürgermeisters geben wird. Cereda ist es auch, der die notwendige Entscheidung über die Eröffnung einer gemeinnützigen Pizzeria in einem der Gebäude des Barbaro-Papalia-Clans, das in Buccinasco beschlagnahmt worden war, verhinderte. Doch dann ruderte er zurück und überließ das Haus dem Sozialprojekt »Legalitäts-Werkstatt« der Vereinigung Libera. Die Idee stammte von seinem Amtsvorgänger Carbonera (Mitte-Links), der während seiner Amtszeit zahlreiche Drohungen der Mafia erhalten hatte. Er wurde nicht wieder gewählt. Buccinasco entschied sich für die Mitte-Rechts-Liste von Cereda, die von der CL empfohlen worden war.

Wählerstimmen und Geld stinken nicht. Während des Wahlkampfs setzte ein erbittertes Ringen um die noch unentschiedenen Wählerinnen und Wähler ein. Auch in diesem Fall entstanden Fotos, die Kandidaten und Mafiosi Seite an Seite in Mailänder Luxusrestaurants zeigen. Während der 2007 durchgeführten Ermittlungen gegen den Morabito-Clan und dessen Unterwanderung des Mailänder Gemüsegroßmarkts ergaben sich Hinweise auf einige denkwürdige Verabredungen des Regionalrats Alessandro Colucci (PdL). Zwei Jahre zuvor war der Politiker bei einem gemeinsamen Abendessen mit dem Clan-Chef von Africo, Salvatore Morabito, gefilmt worden. Ein Wahlkampfdinner im Vorfeld der Regionalwahlen. Nach Auszählung der Stimmen stellte sich heraus, dass Colucci das zweitbeste Ergebnis erzielt hatte. Die Clan-Chefs waren zufrieden. »Colucci hat das Rennen gemacht«, freut sich Drogenhändler Francesco Zappalà, »jetzt haben wir ’nen Freund in der Regionalversammlung.«

Doch Colucci ist nicht der einzige Politiker, der seine Karriere der Mafia zu verdanken hat. Auch andere trafen sich häufig mit den Mafiosi. Der Regionalrat von der Freiheitspartei behielt trotz der Ermittlungen sein Mandat. 2010 tauchte sein Name im Rahmen der Operation »Parco Sud« wieder unter den Verdächtigen auf. Und mit ihm weitere PdL-Politiker, denen vorgeworfen wird, Beziehungen zu Selbständigen unterhalten zu haben, die zum »diplomatischen Dienst« des Barbaro-Papalia-Clans gezählt werden. Darunter auch Stefano Maullu, Ex-Regionalrat für Zivilschutz, der im Mai 2010 wiedergewählt wurde, um dann in die Wirtschaft zu wechseln. Für ihn hatte Alfredo Iorio, mutmaßlicher Finanzberater der Clans, Wahlkampfdinner organisiert, »um ihn den Leuten aus meiner Heimat« vorzustellen. Dabei handelte es sich um das gesamte Führungspersonal des Madaffari-Clans, das Maullu und der Provinzialassessor Fabio Altitonante in einem Restaurant in Rozzano (Lombardei) trafen. Stimmen sind Stimmen, oder wie betroffene Politiker gern formulieren: »Ich frage die Leute, die mit mir sprechen wollen, nicht nach ihrem Vorstrafenregister.«

Davide Milosa beschrieb diese Haltung in Il Fatto Quotidiano folgendermaßen: »Gegen Maullu wird nicht ermittelt. Auch nicht gegen Giulio Gallera, den Fraktionsvorsitzenden der PdL im Gemeinderat, Marco Osnato, Schwager von Romano La Russa und Geschäftsführer der Aler [öffentliche Wohnungsbaugesellschaft], oder Angelo Giammario, Staatssekretär der Regionalregierung und Berater des Regionalrats der Lombardei. Dann gibt es noch Armando Vagliati, der als einer der Mitbegründer der Berlusconi-Partei Forza Italia gilt und seit 1997 als deren Abgeordneter im Stadtrat sitzt. Er zählt zu den engsten Vertrauten von Bürgermeisterin Letizia Moratti, gegen die ebenfalls nicht ermittelt wurde, der aber eine gefährliche Nähe zu Giulio Giuseppe Lampada vorgeworfen wurde. Lampada ist ein kalabrischer Unternehmer, der als Gefolgsmann des Condello- und des Valle-Clans gilt. Familie Valle trieb ihre Interessen im Hinblick auf die Expo 2015 mit Hilfe von Gefälligkeiten von Davide Valia voran, gegen den ebenfalls keine Ermittlungen eingeleitet wurden. Valia ist Assessor der Gemeinde Pero. ›Scheiße, zum Glück haben wir Valia in Pero, wegen der Expo und der Messe.‹ So lautete der aufgezeichnete Stoßseufzer der Mafiosi.«

Die Wählerstimmen, die die ’Ndrangheta in der Lombardei mobilisieren kann, wirken anziehend auf die Politik. Kontrollieren die Clans doch Tausende von Stimmen. Ein Stimmpaket, welches die Machtverhältnisse in den Parlamenten der Lombardei beeinflusst. Im Zentrum vor kurzem abgeschlossener Ermittlungen stand Antonella Maiolo, die ehemalige Staatssekretärin des lombardischen Regionalpräsidenten. »Ihr Erfolg geht auf den Einsatz von ’Ndrangheta-Stimmen zurück«, befand der ermittelnde Untersuchungsrichter in Mailand in seinem Urteil, das Haftstrafen für 35 Personen vorsah, so für den Paten Paolo Martino, den »Freund« von Lele Mora (der Berlusconi die minderjährigen Geliebten zuführte), und für Davide Flachi, Sprößling alten ’Ndrangheta-Adels.

Maiolo selbst wurde nicht vor Gericht gestellt, obwohl sie sich laut den Ermittlungsakten zweimal mit Davide Flachi traf, unter Vermittlung von Max Bonocore, der, wie die Ermittler erklärten, »bewusst« als Vermittler zwischen der Mafia und der Polit-Szene der Lombardei agierte. Trotz allem erhielt Maiolo am Ende nicht genügend Stimmen. Auch Marco Clemente verlor. Clemente ist Unternehmer und Mehrheitseigentümer des Lokals Limelight sowie 2010 Kandidat bei den Stadtratswahlen in Mailand. »Ich hoffe, er stirbt wie ein winselnder Köter«, fluchte Marco Clemente in einem abgehörten Gespräch, das in der Discothek Babylon stattfand, als er mit Giuseppe Amato sprach, der sich als Geldeintreiber für den Flachi-Clan einen Namen gemacht hat. Der Hass des Unternehmers galt dem Besitzer eines anderen Lokals, der sich mit den Schutzgeldzahlungen Zeit gelassen hatte. Clemente, heißt es auf seiner Homepage, war 2001 Parlamentsassistent, 2006 Berater von Alemanno im Landwirtschaftsministerium und ist seit 2009 Mitarbeiter von Regionalrat Giammario.

Clemente rühmt sich auch seines Einsatzes für die Messe Mailand. Außerdem behauptet er, mit Minister La Russa befreundet zu sein. Aber sein »Freundeskreis« ist noch bedeutend größer. In den Ermittlungsakten sind zwei Treffen mit Unterweltgrößen vom Kaliber eines Salvatore Barbaro vermerkt. Einmal vor und einmal nach der Wahl 2008. »Der Abgeordnete Ignazio La Russa«, so steht es in einem dieser Berichte, »hat über einen nahen Verwandten [Osnato] und Clemente, Teilhaber einer bekannten Discothek, Salvatore Barbaro kontaktiert. Beide baten den Clan um Hilfe. Die gesamte kalabrische Community der Region Mailand sollte mobilisiert werden, bei der anstehenden Wahlen für die Liste der PdL zu stimmen. Salvatore Barbaro habe sich hierfür besonders stark gemacht und persönlich garantiert, dass die Stimmen seiner Landsleute der Liste zugute kommen.« Beim zweiten Treffen, das in einem Mailänder Restaurant stattfand, nahmen Clemente sowie Barbaro und Domenico Papalia teil, der Sohn des verhafteten Paten Antonio. Die Sprösslinge der Clans, so die Ermittler, holten diesmal Auskünfte bezüglich verschiedener Ausschreibungen ein, die ihnen vor der Wahl im Tausch gegen Wahlhilfe versprochen worden waren.

Marco Clemente wurde bisher nicht angeklagt. Sein Name taucht jedoch regelmäßig in Untersuchungsakten und Haftbefehlen auf, in denen es um prominente Mafiosi geht. Es ist eine Frage der Opportunität, sagt jemand. Aber nicht für Letizia Moratti. Sie verteidigt Clemente, indem sie darauf hinweist, dass die Anti-Mafia-Behörde nicht gegen ihn ermittle und sein Verhalten von der Staatsanwaltschaft als unverdächtig eingestuft werde. Alles eine Frage des Standpunkts. Und der Gelegenheiten, genauer gesagt. Zumal die ’Ndrangheta niemals nur ein Pferd ins Rennen schickt. Das belegen einige Untersuchungen aus der jüngeren Vergangenheit. Darin werden die Politstrategien der ’Ndrangheta ausführlich beschrieben. Die Bosse wählen die passenden »Pferde« aus, halten Rücksprache mit den Oberbossen oder den regionalen Koordinatoren, treffen ihre endgültige Wahl. Dabei kann es auch zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Organisation kommen. Wenden sich zu viele Kandidaten zwecks Unterstützung an die Bosse, kann es auch einer so geschlossenen Organisation wie der ’Ndrangheta passieren, dass der vorgeschriebene Konsens aus dem Blick gerät.

Ein prototypischer Fall hierfür ereignete sich 2009. Nach dem Abschluss der Kandidatenvorsprache in seiner Villa empfiehlt Clan-Chef Pelle aus San Luca seinem engsten Mitarbeiter, sofort die politische Überprüfung der verschiedenen Kandidaten einzuleiten, die von ihm Wahlkampfunterstützung erbeten und Gefälligkeiten im Tausch versprochen hatten. Ähnlich hält es der Oberboss von Siderno, Francesco Comisso, der sich davon überzeugt zeigt, dass man die verschiedenen angebotenen Gefälligkeiten genau abwägen müsse. Daher werden die entsprechenden Kandidaten auch hier einer Überprüfung unterzogen. An Kandidaten, die der Mafia ihre eigene Zukunft im Tausch gegen Wählerstimmen anbieten, herrscht kein Mangel. Daher ist es für die lokalen Zellenchefs von entscheidender Bedeutung, wer von den Kandidaten wirklich vertrauenswürdig ist, von wem am wenigsten Schwierigkeiten und am meisten Vorteile zu erwarten sind. Mit zunehmender Zahl an kooperationswilligen Kandidaten wird es jedoch immer schwieriger, die Stimmen der einzelnen Clans auf einen einzigen Kandidaten zu vereinen. Aber nur das garantiert, den Wahlausgang signifikant zu beeinflussen. Es kann also trotz allem passieren, dass bei den Wahlen das von einer Clan-Führung ausgewählte »Pferd« verliert. Es siegt immer nur der, der die Stimmen einer Vielzahl von Clans auf sich vereinen kann. Patronagewirtschaft, Korruption und Mafia-Macht gehen Hand in Hand. Die Mafiaisierung Italiens befindet sich bereits in einem fortgeschrittenen Zustand. Ihre Stärke bezieht sie aus der Allianz, aus der vereinigten Potenz von Unterwelt und Misswirtschaft.