9.

DER LOMBARDISCHE UNABHÄNGIGKEITSKÄMPFER

Der Traum von der Unabhängigkeit endet für Carmelo »Nunzio« Novella am 14. Juli 2008 in San Vittore Olona, im tiefsten Hinterland der Lombardei. Umgestürzte Tische, Munitionshülsen und überall Blut. Der Schauplatz einer Hinrichtung. In dem Café-Club Ex-Combattenti e Reduci (dt.: Club der Veteranen und Versehrten) sieht es aus wie am Schauplatz eines Gangsterfilms. Die Exekution des Abtrünnigen ist ein Beispiel wie aus dem Bilderbuch für die pädagogischen Fähigkeiten der modernen ’Ndrangheta, die diese gern gegenüber desertierenden Statthaltern oder Kronzeugen anwendet. »Nunzio« gehörte unbestreitbar zu der ersten Kategorie. Machthungrig war er in dem Maße, wie sich die ehrlichen Kalabresen nach Gerechtigkeit sehnen.

Zur Gruppe der Killer, die Novella ermordeten, zählte auch Antonio Belnome, der seit Oktober 2010 mit der Justiz zusammenarbeitet. »In der ’Ndrangheta hatte ich keine Zukunft«, erklärte er zu seinen Motiven, als Kronzeuge auszusagen. Die Staatsanwälte ergänzten, dass das interne Geschehen innerhalb der Organisation von Neid und Eifersucht bestimmt wird. Diese seien oft Vorboten für tödliche Auseinandersetzungen. Der Kronzeuge unterstrich, dass eine tendenziell unumkehrbare Entscheidung wie die, sich einer kriminellen Organisation mafiöser Art anzuschließen, weitreichende Auswirkungen auf das Privatleben habe. Außerdem fügte er hinzu, dass das »Lebensmodell«, das viele junge Handlanger der Mafia so stark anzieht, ein normales Familienleben kaum noch zulässt, da ständig die Verhaftung oder gar die Ermordung der betroffenen Mafiosi droht. »Man wird zum Opfer von Rachefeldzügen, an deren Entstehung man völlig unbeteiligt war. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Entscheidung, sich der ’Ndrangheta anzuschließen, in der Regel vom Vater auf den Sohn übergeht, wollte Belnome in diesem Fall auch seine eigenen Söhne vor diesem traurigen Schicksal bewahren.«

Der Kronzeuge berichtet den Ermittlungsbeamten von vier Mordanschlägen zwischen 2008 und 2010 in der Lombardei, an denen er beteiligt war. Belnome erzählt von Verbrechensabläufen und Rache nach Art der Mafia. Seinen Berichten zufolge gleicht die Lombardei mittlerweile Mafia-Hochburgen wie San Luca, Africo, Platì. Er sagte aus, dass »Nunzio« aus persönlichen Gründen erschossen wurde, wegen einer Beleidigung, einer »Nachlässigkeit« im Jargon der ’Ndrangheta, die die Mutter eines Clan-Angehörigen der Familie Gallace aus Guardavalle betraf. Die Bosse dieses Clans hätten abgewartet, bis »Nunzio« seine letzte Haftstrafe abgesessen hatte und wieder in seine Hochburg San Vittore Olona zurückkehrt war. Dann exekutierten sie das Todesurteil. Niemand hatte zuvor Verdacht geschöpft, dachten sie. Aber hinter dem Mord an »Nunzio« tat sich noch eine weitere Dimension auf, so die Meinung der Staatsanwälte. Denn natürlich konnte die Hinrichtung eines ’Ndrangheta-Statthalters nicht ohne das »Plazet« der Provincia, der obersten Koordinierungsbehörde in Reggio di Calabria stattfinden.

Wie die Gallaces, so hatten auch einige aus der Provincia in letzter Zeit mit Sorge an das Verhalten ihres lombardischen Statthalters gedacht. Denn »Nunzio« hegte einen revolutionären Traum. Für seine Verhältnisse. Er wollte die ’Ndrangheta in der Lombardei vom »Mutterhaus« in Kalabrien lösen und zu einer eigenen, unabhängigen Organisation weiterentwickeln. Losgelöst von den Maßgaben und Direktiven der Zentrale, die als Herz und Hirn der ’Ndrangheta in Kalabrien gilt.

»Ich bin der Boss der Bosse«, berauschte sich der Mafioso aus Guardavalle bei Catanzaro (Kalabrien). In der Lombardei fühlte er sich wie ein König. Er wurde als Regionalboss und zentrale Institution des organisierten Verbrechens in der Lombardei anerkannt. Seine Macht wuchs unaufhörlich. Bis zu seiner Verhaftung 2005. Er war während der Operation »Mythos« in den Fokus der Ermittler geraten, die von der Anti-Mafia-Behörde von Catanzaro koordiniert wurde. »Nunzio« sah das zunächst als Bagatelle an, Berufsrisiko für einen Boss wie ihn. 2007 kam er wieder frei, da die Staatsanwaltschaft die vorgeschriebenen Fristen zur Anklageerhebung nicht einhielt. Kalabrien läßt ihn nicht los. Er kehrt aber zunächst nach San Vittore Olona zurück, ins Mailänder Hinterland.

Novella ist zu diesem Zeitpunkt noch immer ein anerkannter Regionalboss. Aber tief in seinem Innersten ahnt er, dass sein Vorhaben, größere oder totale Unabhängigkeit zu erreichen, den in der Provincia versammelten Clan-Chefs wie auch den anderen Regionalbossen der Lombardei missfällt. Die Bestätigung für diese Annahme erhält »Nunzio« kurze Zeit später. Zur Hochzeit der Tochter des Oberbosses Rocco Aquino wird er nicht eingeladen. Zur prachtvollen Hochzeitsfeier am 14. Juni 2008 reisen zahlreiche verdeckte Ermittler an, aber trotz intensiver Beobachtungen können sie unter den zahlreichen aus ganz Italien angereisten Clan-Chefs nicht den Kumpel »Nunzio« Novella ausmachen.

Nach den ungeschriebenen Regeln der ’Ndrangheta gehört es zur Tradition, dass die beiden Familien, die die Feier ausrichten, alle befreundeten Clans und Regionalableger zu den Feierlichkeiten einladen. Bleibt eine Einladung aus, kann man auf einen Bruch der Freundschaft schließen. Eine für Insider kaum chiffrierte Botschaft, die die ’Ndrangheta »Nunzio« damit zukommen lässt. Genau einen Monat nach der prachtvollen Hochzeit erledigen die losgeschickten Todesengel das »Problem« Novella. Der Status quo ist damit gesichert, ebenso die Glaubwürdigkeit und die »Ehre« der kalabrischen Clan-Chefs. Und die Geschäfte können ungestört weiterlaufen.

Als zusätzliches Motiv kamen noch die Schwierigkeiten zwischen Novella und dem Clan-Chef Vincenzo Gallace aus Guardavalle hinzu, wie der Kronzeuge Belnome berichtet. Diesem gefiel die Idee der Loslösung einer kompletten Mafia-Provinz vom Regiment der Koordinierungsinstanz in Kalabrien ebenfalls nicht. »Nunzios« Projekt war – so der Kronzeuge weiter – von vornherein zum Scheitern verurteilt. »Denn in der Lombardei geht nichts ohne die Zustimmung aus Kalabrien.«

Für Abweichler wie »Nunzio« ist in der »geeinten« ’Ndrangheta kein Platz. Seine aufrührerischen Absichten drohten, die Herrschaftsstrukturen der Mafia zu untergraben. Eine ansonsten perfekt funktionierende Maschine, die sich von Zinsen und Profiten nährt. Warum sollte auch nur die kleinste Kleinigkeit daran verändert werden? So denken jedenfalls die Bosse. Und diejenigen, die sich anfangs von »Nunzios« abweichlerischen Ideen anstecken ließen, kehren angesichts seines von Kugel durchsiebten Kadavers reumütig und unterwürfig in die alten Reihen zurück und passen ihre Überzeugungen wieder an die Parameter an, wie sie im Schoße der Familie gelten.

»Nunzios« Schicksal könnte eine Metapher sein für jene unveränderbare und unbeständige, eherne und fließende Organisation. Fähig, jahrhundertealte Riten und Strukturen zu bewahren, und sich gleichzeitig an den Turbokapitalismus der Gegenwart anzupassen. Das Schicksal von Kumpel »Nunzio« eröffnet aber noch eine andere Perspektive: Die höheren ’Ndrangheta-Chargen haben offenbar mittlerweile erkannt, dass sich die Ableger in der Lombardei in einem Umfeld bewegen, das dem Gedanken einer Loslösung von der Provincia förderlich gewesen sein könnte. Hier – fern der Heimat – erhielt der Irrglaube, dass eine solche Rebellion ohne gravierende Folgen für Leib und Leben vor sich gehen könnte, auf vielfältige Weise Nahrung. Das ist eine der Lehren aus der Parabel vom Spießgesellen »Nunzio«. Die ’Ndrangheta ist und bleibt ein Monolith. Undurchdringlich von außen. Unveränderbar im Innern, und das seit Jahrhunderten, außer, um sich veränderten Gegebenheiten zugunsten weiter steigender Profite anzupassen.

In der Lombardei sind zahllose Regionalgruppen der ’Ndrangheta aktiv, die sogenannten Locali. Die Untersuchungen, die im Juli 2010 zur Verhaftung von über dreihundert Verdächtigen zwischen Kalabrien und der Lombardei führten, belegten ein weiteres Mal, dass in Mailand, Cormano, Bollate, Bresso, Corsico, Legnano, Limbiate, Solaro, Piotello, Rho, Pavia, Canzo, Mariano Comense, Erba, Desio und Seregno mindestens zwanzig dieser Mafia-Zellen aktiv sind. Diese Zellen teilen das Territorium untereinander auf. Sie können von einem oder mehreren Clans gebildet werden, den Familien, der Basisstruktur der ’Ndrangheta. Die örtlichen Mafia-Zellen werden von der Regional-Kommandobehörde, genannt La Lombardia, organisiert. Die Lombardia wird wiederum vom obersten Koordinationsrat der ’Ndrangheta gesteuert, der Provincia mit Sitz in Reggio di Calabria.

»Die Existenz einer Koordinierungsstruktur der örtlichen Mafia-Zellen in der Lombardei, genannt La Lombardia, geht aus den Nord-Süd-Untersuchungen hervor. Saverio Morabito beschrieb sie im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in seiner eigenen Zelle, jener in Buccinasco, und im Zusammenhang mit den von ihm geschilderten Spitzenleuten wie Antonio Papalia. Über diesen sagte er aus, dass er von Domenico Papalia gehört habe, dass sein Bruder Antonio der Verantwortliche für die gesamte Lombardei sei und damit auch der örtlichen Mafia-Zellen. Seine Aufgabe habe darin bestanden, für diejenigen, die Führungsaufgaben innehätten, auftretende Probleme zwischen den einzelnen Mafia-Zellen zu regeln, kraft der Autorität und dem Charisma der obersten Mafia-Führung«, so die Ausführungen im Gerichtsurteil zum »Infinito«-Prozess des Gerichtshofs in Mailand aus dem Jahre 2010.

Die Beziehungen zwischen der Lombardia und der Provincia waren nicht immer einfach. Extreme Mittel, wie sie im Fall Novello angewendet wurden, belegen dies. Um Konfusion und gefährliche Missverständnisse zu vermeiden, ist die ’Ndrangheta darauf angewiesen, dass die einheitliche Steuerung der Lombardei uneingeschränkt aufrechterhalten wird. Andernfalls könnten persönliche Zwiste und Störungen zwischen den Zellen entstehen. Die Aufteilung der Subaufträge zwischen den verschiedenen Zellen-Bossen im Aushubgewerbe ist ein Geschäft, das Kaltblütigkeit und uneingeschränkten Respekt gegenüber den vorgegebenen Regeln im Innern der Organisation verlangt. Aus Kalabrien treffen dabei regelmäßig Vorschläge und Hinweise, Befehle und präzise Anordnungen ein. Die Befehlskette sorgt dafür, dass bestimmte Verhaltenskodizes der südlichen Peripherie des Landes auch im Norden gelten.

Für eine bestimmte Zeit lag die Aufgabe der Verteilung der Subaufträge und die Sicherstellung des Informationsflusses von Süd nach Nord in den Händen von Pasquale Barbaro aus Platì, der seit vielen Jahren in Buccinasco wohnt. Er stand im Fokus von zwei wichtigen Ermittlungsaktionen namens »Isola« und »Cerberus«. Dabei konnte seine zentrale Rolle als Garant der einheitlichen Steuerung und der Auftragsverteilung in der Lombardei belegt werden. Dazu gehörten auch die Arbeiten am Schienennetz für die neuen Hochgeschwindigkeits-Zugverbindungen in Italien.

Carmelo Novella war bis zu seinem Tod der oberste Boss in der Lombardei. Ihm unterstand eine größere Mannschaft von treuen Fußsoldaten. Sein Vorgänger war Cosimo Barranca von der Mafia-Zelle in Mailand, nach Novellas Tod folgte ihm Pasquale Zappia als Regionalboss im Amt. Die Zelle von Legnano unterstand Novello direkt, dort waren alle von seinen Ideen eines eigenen Mafia-Imperiums begeistert. Die Familie Novella ist seit 1967 in der Lombardei ansässig und hat seit Jahrzehnten ihren Stammsitz in Legnano. Von dort führte ihn sein steiler Aufstieg in der ehrenwerten Gesellschaft direkt an die Spitze des Regionalkommandos, der Lombardia. Während seines Aufstiegs reifte in ihm der Plan, sich ein eigenes Reich zu schaffen. Von eigenen Gnaden. Eine Art lombardische ’Ndrangheta, deren Farbe Ochsenblutrot sein sollte, was das Gelb der Polenta aus dem Süden hätte ersetzen sollen. In Bollate kommt sein Sohn Vincenzo zur Welt, der gemeinhin unter dem Namen »Alessio« bekannt ist. Er ist der einzige Sohn der Familie, die bis 2008 die Spitze der lombardischen ’Ndrangheta stellte. Er konnte gar nicht anders als sich auf die Seite seines Vaters zu stellen. Autonomie oder Tod!

»Alessio« ist der Sprecher seines Vaters und vertritt dessen Ansinnen nach außen. Unter dem Zeichen der Madonna macht er Geschäfte mit Cosimo Barranca, dem Leiter der ’Ndrangheta-Zelle in Mailand, und führt bis zu seiner Verhaftung eine der Familienfirmen, die Trans-Ven mit Sitz in Legnano. Ihr Geschäftszweck ist die Durchführung von Erdaushubarbeiten, die im Laufe der Jahre zum Monopol der ’Ndrangheta-Clans in der Lombardei wurde. Neben solchen »legalen« Geschäften ist die Familie, den Untersuchungsakten zufolge, sehr aktiv auf dem Gebiet des Zinswuchers. Sie vergaben Darlehen an Unternehmer, die sich in finanziellen Schwierigkeiten befanden. Obwohl sie um die mafiöse Herkunft ihrer Henkersknechte wussten, hatten sie keine andere Möglichkeit, als das Geld anzunehmen, wie sie den ermittelnden Staatsanwälten gestanden. Die ökonomische Krise, vor allem in den reichen Regionen des Nordens, hat viele Unternehmer dazu gezwungen, die einzigen Akteure um Kredite zu bitten, die solche überhaupt noch in nennenswertem Umfang zur Verfügung stellten. Kredite, die viele Banken seit Beginn der Wirtschaftskrise nicht mehr gewährten. Es war ein Teufelskreis, der die in Schwierigkeiten geratenen wirtschaftlichen Unternehmer direkt in die Fänge der Mafiosi führte.

Fabio Lonati ist einer dieser Unternehmer. Aber der einzige, der gegen seine Erpresser Anzeige erstattete. Andere geben die Annahme solcher Kredite zu, erstatten aber keine Anzeige. Wiederum andere schweigen gänzlich dazu. Eine Art Omertà (Schweigegebot der Mafia) des Nordens, gegen die Ilda Boccassini, die Leiterin der Anti-Mafia-Behörde von Mailand, einige Male anzugehen versuchte. Lonati erhielt von »Alessio« Novella einen Kredit zu wucherischen Konditionen. Es ging um rund 500.000 Euro. Der Zinssatz lag bei zehn Prozent – pro Monat. Insgesamt kostete Lonati der Kredit auf diese Weise zwei Millionen Euro. Bis er in weitere Schwierigkeiten geriet und nicht mehr zahlen konnte. Dafür bezog er von der Mafia Prügel und erhielt weitere Drohungen. Typisch für die Lombardei unter der Knute der Mafia, die ihre Ziele mit Zuckerbrot und Peitsche, im Maßanzug und mit der Panzerfaust verfolgt. Von ihr erzählt der mutige Unternehmer: »Alessio [Novella] wollte einen Termin mit mir ausmachen, in einem Café in Legnano. (…) Dort traf ich Novella und einen weiteren Mann, wir haben etwas getrunken, und dann haben sie mich gebeten, ihnen ins Café von Alessios Bruder zu folgen. Als wir zum Parkplatz gegangen sind, um ins Auto einzusteigen, sagte mir Alessio, dass der Schwager von Scarfò mit mir fahren würde. Wir sind am Café von Alessios Bruder vorbeigefahren und dann in eine Garage eingebogen. Novella ging mit mir in eine andere Garage und setzte mich dort auf einen Stuhl und blieb dabei ganz ruhig. Dann hat er mit jemandem über die Gegensprechanlage gesprochen. Vermutlich hat er in der Bar Bescheid gesagt, dass wir da sind. Dann nahm er eine Pistole, Kaliber vielleicht neun oder 7,65 Millimeter, und hat mich damit geschlagen. Dann hat er zwei Wechsel hervorgeholt, die ich nicht bezahlt hatte und befahl mir, sie aufzuessen. Der Schwager von Scarfò war die ganze Zeit dabei. Bevor er wegging, kam ein Junge in die Garage, den ich noch nie vorher gesehen hatte. Er verpasste mir einen Fußtritt und meinte, ich solle die Leute gefälligst anschauen, wenn sie mit mir sprechen. Es war ein junger Mann von ungefähr dreißig Jahren mit dunkler Hautfarbe. Er trat mich auch gegen den Hals. Ich erinnere mich, dass sie mich dreimal mit dem Pistolengriff schlugen. Ich bin nicht ins Krankenhaus gegangen, um mich behandeln zu lassen. Alessio Novella befahl mir, bis Ende des Monats zu zahlen. Andernfalls könne ich ihn ruhig anzeigen.« So beschreibt Fabio die erlittenen Demütigungen. Seine Beschreibungen unterscheiden sich kaum von jenen von Mafia-Opfern aus dem Süden. Der Süden gleicht dem Norden, beide befinden sich in der Hand der ’Ndrangheta.

»Alessio« Novella ist damit beauftragt, die Botschaften seines Vaters an die jeweiligen Adressaten zu übermitteln. Einige Mafia-Angehörige wie Vincenzo Mandalari schätzen »Alessio« sehr. Mandalari hält ihn für den idealen Kandidaten, um im Falle eines »Arbeitsunfalls« seines Vaters in dessen Fußstapfen zu treten und die Spitze der ’Ndrangheta in der Lombardei zu übernehmen. »Hoffentlich gibt ihm Gott der Herr ein langes Leben, aber wenn unser Kumpel Nunzio eines Tages nicht mehr da sein sollte, dann könnt ihr jetzt schon davon ausgehen, dass ich Alessio den nötigen Respekt entgegenbringen werde. Das werde ich ihm auch selbst sagen, bevor es zum Erbfall kommt.« So die von der Carabinieri-Spezialeinheit ROS aufgezeichnete Einlassung von Mandalari.

Vater und Sohn haben die Zukunft der Lombardia in der Hand. Sie sind nur noch einen Schritt vom Olymp der ’Ndrangheta entfernt. Aber die Eigenmächtigkeiten des Vaters, der in Eigenregie neue Mafia-Zellen genehmigt und ohne die Zustimmung der Zentrale ’Ndrangheta-Ränge vergibt, werden »Alessio« zum Halbwaisen machen. Er wird keine Chance bekommen, seine Ehre vor den obersten Rängen der ’Ndrangheta wiederherzustellen. »Nunzio« und »Alessio« verband ein normales Vater-Sohn-Verhältnis, auf der Basis der perversen und im Zweifelsfall tödlichen Verhaltenskodizes der Mafia, welche die Zahl von Waisen und Witwen ansteigen lassen. Zunächst hofft Alessio noch darauf, in die Fußstapfen des Vaters treten zu können. Wie sein Vater, möchte er eine andere ’Ndrangheta ins Leben rufen. Eine ’Ndrangheta, die unabhängig ist von der Zentrale in Kalabrien. Doch in dieser Welt müssen die Söhne die Strafen der Väter begleichen. Das ist das Gesetz in der ’Ndrangheta. Alles andere wäre eine Verletzung ihrer ehernen Regeln.

»Alessio« wird nicht umgebracht wie sein Vater. Die ’Ndrangheta bestraft ihn auf eine andere Weise, aber doppelt so hart: Sie sorgt dafür, dass er einerseits seinen Vater verliert und andererseits für seine abartigen Hobbys ins Gefängnis wandert. Das alles vermag die ’Ndrangheta. Die in vielen Legenden verbreiteten Accessoires der Macht wie Reichtum und Ansehen stehen lediglich den oberen Bossen zur Verfügung. Diese sind jedoch gezwungen, den Ball flach zu halten und ihren Reichtum sorgfältig zu verbergen. Denn sonst laufen sie Gefahr, dass er im Zweifelsfall beschlagnahmt wird. Angehäufte Reichtümer, Tod, Gefängnis, Beschlagnahmung. Diese Begriffe kennzeichnen die unsichere Zukunft, die das Schicksal der Mafia-Bosse überschattet, sei es in der Cosa Nostra, in der ’Ndrangheta oder in der Camorra.

Nach der Ermordung seines Vaters legen »Alessio« einige Untergebene nahe, ins Ausland zu gehen. Denn sie gehen davon aus, dass auch er auf der Todesliste steht. Aber das Vorgehen der Provincia ist generell rational, auch wenn es mitunter zu emotionalen Ausbrüchen kommen kann. Öffentliche Aufmerksamkeit erregende Massaker wie in Duisburg wollen die obersten Bosse so lange es nur geht vermeiden. »Alessio« Novella wird zunächst einfach von künftigen Entscheidungen ausgeschlossen. Er ist in den oberen Rängen der ’Ndrangheta nicht mehr willkommen. So ist er auch bei dem berühmten Gipfeltreffen im Veranstaltungszentrum von Paderno, das nach den beiden berühmten ermordeten Staatsanwälten Falcone und Borsellino benannt ist, abwesend, auf dem der interimistische Führer der Lombardia bis zur endgültigen Entscheidung der Provincia bestimmt wird.

Und der dreißigjährige »Alessio«, der von nun an mit dem Makel seines abtrünnigen Vaters leben muss, verfügt nicht einmal mehr über die nötigen Unterstützer, um dem Affront mit Waffengewalt zu antworten. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten und seine Verhaftung abzuwarten. Im Juli 2010 ist es dann so weit: Die Ermittlungsbeamten nehmen ihn im Zusammenhang mit jener Mega-Operation fest, die insgesamt dreihundert Verdächtige entlang der Achse Kalabrien-Lombardei in Haft bringt.