4.

DIE SPIELHÖLLEN DER CLANS

Eine farbig bedruckte Walze, der man die eigene Zukunft anvertraut. Ein Stoppknopf, der über Sieg oder Niederlage entscheidet. Eine einprogrammierte Gewinnmarge, die die Kassen der Mafien klingeln lässt. Spielautomaten sind ein echter Goldesel für die organisierte Kriminalität. Denn im Zeitalter des globalen Prekariats verschwenden immer mehr Frauen und Männer einen Großteil ihrer Tage in den überall aus dem Boden schießenden Spielhöllen. Das Glücksspiel ist legalisiert und egalisiert worden. Arbeitslose, Angestellte, Rentner, Studenten – Slot Machines weisen keinen ab. Es sind perfide Geräte, die mit einer Konzession der staatlichen Glücksspielaufsicht überall und jederzeit legal betrieben werden können. Auf den Automaten ruhen die Hoffnungen von denjenigen, die sonst keine Hoffnung mehr haben. Schwache, vom Leben enttäuschte Persönlichkeiten, die nach jeder Runde noch gieriger und verzweifelter werden, süchtig nach dem, was ihnen allein eine bessere Zukunft zu garantieren scheint.

Sie zocken ohne Pause. Zeitweise scheinen sie von einem Glücksspielrausch umnachtet zu sein. Verlieren schon mal tausend Euro am Tag. Und kehren in einem schlechteren Zustand in ihre Behausungen zurück, als sie diese morgens verlassen haben. Nach zehn Stunden Arbeit sitzen andere weitere fünf Stunden vor dem Spielautomaten, womöglich um den Lohn aufzubessern und sich ein »Päckchen«, eine abgepackte Portion Kokain, zu kaufen.

Ich betrachte die Meute der Verlorenen, die ihre Seelen an die Maschinen verkauft haben, während ich ein Bier trinke, das mir der befreundete Barmann an den Tisch gebracht hat. »Aber wie viele Stunden verbringen sie so vor diesen Automaten?«, frage ich ihn unvermittelt. Er lacht. Er weiß, wie viele sich in den unsichtbaren Fallstricken verheddern, die aus einem Spielanfänger binnen kurzer Zeit einen rettungslos Süchtigen machen.

»Es gibt welche, die hier den ganzen Tag bleiben. Auch Frauen. Die setzen sich morgens hin und gehen erst abends wieder. Die Arbeiter kommen nach Schichtende, hocken sich vor die Maschinen und bleiben viele Stunden. Und dann gibt es noch die Schlaumeier, die die Automaten mit allerlei Tricks dazu bringen wollen, all das verlorene Geld wieder auszuspucken«, antwortet er ohne Anzeichen von Mitgefühl.

Ich frage mich, warum er diese bescheuerten Geräte überhaupt aufgestellt hat, die noch dazu überhaupt nicht zur Einrichtung des Lokals passen. Als er plötzlich ernst wird, bemerke ich, dass ich wohl laut gedacht haben muss. Er fürchtet, dass mich jemand gehört haben könnte, und zischt mir ins Ohr: »Wenn’s nach mir ginge, wären diese Scheißdinger hier nie aufgestellt worden.« Seine Stimme zittert dabei ein bisschen. Ich verstehe. Verstehe dieses »Wenn’s nach mir ginge«, diese Passivität, mit denen er den Befehlen anderer folgt. Aus der Sichtweise derjenigen, die die Macht und Skrupellosigkeit verkörpern, nennt sich das »erlernte Angst«. Oder schlicht und einfach Mafia.

Der Glückspielmarkt gehört zu den expansiven Wirtschaftszweigen. 2009 wurden auf diesem Gebiet 55 Milliarden Euro umgesetzt, 2010 war ein Wachstum von 28 Prozent zu verzeichnen. Das Glücksspiel kennt keine Wirtschaftskrise, keinen Abschwung. Es kennt nur eine Richtung: das Mehr. Genau wie die Mafia-Organisationen. Sie sind es, die von diesem Business, das mit so viel Hoffnung handelt, den Löwenanteil übernommen haben. Seit dem 1. Mai 2004 sind die traditionellen Video-Poker-Maschinen in Italien verboten. Dafür haben die Slot Machines ihren Platz eingenommen. Die Zahl der Spielsüchtigen steigt. Dabei halten sich viele Betroffene gar nicht für süchtig. Spielsucht als Krankheitsbild wird auch von ärztlicher Seite nur selten wahrgenommen.

Die Auswirkungen der Sucht sind verheerend. Sie führt zur Verelendung vieler Menschen, zu Beschaffungskriminalität, zur absoluten Isolation der Süchtigen. Auf der anderen Seite wächst die Industrie, die die Spielsucht aktiv fördert, ohne Unterlass. Und die Mafia generiert mit den Süchtigen und ihrer verzweifelten Suche nach Glück zusätzliche Gewinne.

Angeliefert werden die Glücksspielautomaten auf Lastwagen der Clans. Die Gaststätten sind vorher sorgfältig ausgewählt worden, ihre Betreiber sind entweder Freunde oder Erpressungsopfer. Die Vertriebswege sind vielfältig. Sie kreuzen sich in Sizilien, Kalabrien, Kampanien. Firmen aus dem Bereich arbeiten vorübergehend mit Mafia-Organisationen zusammen. Es geht darum, die Spielsüchtigen so lange auszunehmen, bis sie keinen Cent mehr in der Tasche haben.

Domenico Bidognetti, Kronzeuge der Anklagebehörden, war der erste, der darüber sprach, wie schon die früheren Video-Poker-Maschinen den Kneipeninhabern aufgezwungen worden waren. Und wie das Geschäft schon vor 15 Jahren formell ganz legal von Casal di Principe bis nach Modena ausgeweitet werden konnte. Es war die erste Boomphase des legalen Glücksspiels. Aus dem Raum Caserta gingen die Video-Poker-Maschinen direkt in die Region Modena, unter der Kontrolle bekannter Mafia-Familien. Bidognetti hatte Mario Iovine und Alfonso Schiavone als die führenden Köpfe hinter der äußerst lukrativen Video-Poker-Aktion denunziert. Iovine ist der Cousin des legendären, 2010 nach langer Flucht endlich verhafteten Antonio »O Ninno« Iovine, Schiavone arbeitete lange Zeit als Gymnasiallehrer und stellvertretender Direktor einer Schule an der Küste von Baia Domizia bei Neapel.

Die Idee, in das Geschäft mit Video-Poker-Maschinen einzusteigen, stammt laut Bidognetti von Renato Grasso, einem Unternehmer aus Neapel, dem über Strohmänner unzählige Glücksspiel-Betriebe gehören sollen, dazu Wettannahmestellen und Bingohallen. »Seit 2005 hat Grasso, unterstützt von Angestellten und Familienangehörigen, systematisch Bingohallen vor allem in Norditalien aufgekauft, mit dem Ziel, dort die Glücksspielautomaten aufzustellen, die seinen Firmen gehören«, schrieb der Untersuchungsrichter des Gerichtshofs von Neapel in einer Urteilsbegründung aus dem Jahr 2009. Renato Grasso habe es mit seinem Bruder Francesco verstanden, strategische Bündnisse mit den vorherrschenden Clans in den Vierteln Neapels zu schließen und seine Arbeitsbeziehungen bis zum Gebiet von Aversa auszubauen. Dabei knüpfte er auch Verbindungen zum Casalesi-Clan. Zusammen mit Mario »Rififi« Iovine, der für die Casalesis das Glückspielgeschäft betreibt, gründete Grasso eine Firma unter dem Deckmantel der Giemme Giochi von Gianfranco Maddalena, der als Verbindungsmann zwischen den Casalesis und Grasso angesehen wird.

Sowohl Grasso als auch Iovine gibt sich nach außen hin als biederer Geschäftsmann. »Zwischen beiden entstand eine außergewöhnliche Synergie«, so heißt es weiter in der Urteilsbegründung, »die auf einer gemeinsamen Basis an ökonomischer Professionalität, mafiösem Einschüchterungsvermögen, einem sich überschneidenden Bekanntenkreis und einer beunruhigenden Willfährigkeit ihrer Gesprächspartner beruhte. Dadurch war die Gruppe in der Lage, in das Gebiet der Online-Wetten vorzustoßen und über die Grenzen der eigenen Region hinaus zu expandieren.« Und zwar bis in die Emilia-Romagna.

Schon 1995 wurden in den Bars im Raum Modena die ersten Video-Poker-Maschinen der neapolitanischen Mafiosi aufgestellt. Iovine und Schiavone brachten mit Hilfe der örtlichen Clan-Vertreter wie Nappa, Compagnone und Caterino die Maschinen in den Gaststätten von Modena und Umgebung unter. Die Geschäftsfreunde Iovine und Grasso hatten von den Camorra-Clans aus Neapel freie Hand bekommen, die allerdings ihren jeweiligen Prozentsatz verlangten. Die beiden enttäuschten ihre Geschäftspartner nicht und errichteten im nördlichen Vorposten unter der Kontrolle von Iovine, der im Zweifelsfall von dem unverdächtigen Gymnasialprofessor Schiavone vertreten wurde, eine Art Mafia-Kolonie.

»Dieser herausragende ›Erfolg‹ der Mafia in der Emilia-Romagna genau wie in den Mafia-Hochburgen hing mit den Versprechungen zusammen, durch die neue Aufstellungsorte gewonnen wurden«, schreibt der Untersuchungsrichter weiter. Grasso und Iovine sicherten den Gaststätteninhabern, die ihre Video-Poker-Maschinen aufstellten, zu, sowohl mögliche Unkosten bei polizeilichen Beschlagnahmungen als auch mögliche Strafzahlungen zu übernehmen. Das beflügelte den Vormarsch der Mafia-Spielautomaten. Nach Aussagen Bidognettis erhielt der Clan allein von Renato Grasso in den Jahren 2001 und 2002 rund 100.000 Euro im Monat. Ob mittlerweile andere Leute für das Geschäft in Modena zuständig sind, ist nicht bekannt, klar ist jedoch, dass der Casalesi-Clan nach wie vor auf diesem überaus lukrativen Sektor aktiv ist.

Das Vorgehen war dabei immer gleich. Teils wurden die Automaten im Namen von Grasso per Lkw nach Modena gebracht, teils wurden bereits vorhandene Automaten aufgekauft. Sowohl im Raum Caserta (bei Neapel) als auch in der Provinz Modena bediente sich der Clan dabei lokaler »Buchhalter«, die junge »Mafia-Soldaten« in die Kneipen schickten, um Einnahmen abzurechnen, Geld einzutreiben oder mit noch unentschlossenen Besitzern Klartext zu reden: »Deine Bar hat noch keine Video-Poker-Maschine, besorg dir doch welche von Tizio und Sempronio. Du hast schon deine eigenen Video-Automaten? Es wäre besser, wenn du welche von uns nimmst, dann kriegst du vierzig Prozent der Einnahmen, und wir sechzig. Wenn sie kaputtgehen, übernehmen wir die Reparatur.« So erklärte der Kronzeuge den Staatsanwälten die Geschäftspraktiken der Mafia.

Mario »Rififi« Iovine kennt Modena. Es ist erwiesen, dass er selbst schon vor Ort war, zusammen mit Sigismondo di Puorto, der rechten Hand von Alfonso »O Pazzo« Perrone. Di Puorto gilt als das Bindeglied zwischen der Mannschaft in Modena und dem »Mutterhaus« des Clans. Der dokumentierte Besuch Mario Iovines in Modena ist ein zusätzlicher Beleg für die Aussagen des Kronzeugen Bidognetti, der Iovine als »Clan-Manager für Video-Poker« in Modena bezeichnet hatte. Es spricht einiges dafür, dass Iovine bis heute der Statthalter vor Ort ist.

Eine Abfolge von Lagerhallen, weitläufig und zugig. Das Industriegebiet Torrazzi bei Modena ist ein Gebiet hoher Produktivität, aber auch heimlicher Aktivitäten. Äußerlich weisen die hiesigen Firmen alle Anzeichen ordnungsgemäßer Tätigkeit auf. Unternehmen, die auf einem angeblich freien Markt ihre Produkte und ihre Dienstleistungen anbieten. Die Leitlinie ihrer Geschäfte, geben sie vor, folge dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Dahinter verbirgt sich eine Ökonomie der erpresserischen Beziehungen, ohne Substanz, ohne reguläre Buchhaltung. Diese Ökonomie scheint fließend und durchdringend zu sein. Kommunizierenden Röhren gleich sind hier legale und illegale Ökonomie miteinander verbunden.

Nach zahllosen Anläufen finde ich die Straße, nach der ich die ganze Zeit gesucht habe: die Via Grecia. Es sind viele, die hierherkommen und alle dieselbe Frage stellen: »Ich bin daran interessiert, Spielautomaten aufzustellen. Was kostet mich das?« Die Antwort gibt gewöhnlich Luigi, der Sohn von Antonio Padovani. Zusammen mit Renato Grasso bildet er das mythische Königsgespann auf dem Gebiet der Spielautomaten, Bingohallen und Online-Wetten. Die Anteile von Padovani wurden auf Befehl des Gerichtshofs von Neapel beschlagnahmt und nur wenige Monate später durch denselben wieder freigegeben. Sein Imperium besteht aus Firmen, die Spielautomaten vermieten, denen Wettannahmestellen gehören, die Bingohallen betreiben.

Eine dieser Firmen sitzt in Modena. Und eben diese Firma, die sich auf Verleih und Verkauf von Spielautomaten spezialisiert hat, ist den Staatsanwälten zufolge von Grasso und Padovani dazu benutzt worden, eine Bingohalle in der Nähe von Mailand zu kaufen. Nach dem Ankauf habe Padovani dann das Eigentum an Grasso übertragen. Nicht direkt an Grasso, sondern an eine der zahllosen, von Strohmännern geleiteten Firmen aus dessen Imperium. In den so erworbenen Bingohallen hätte Grasso dann seine Spielautomaten aufgestellt. In einem Absatz des Untersuchungsberichts wird eine Episode wiedergegeben, in der Padovani vorschlägt, sich der Gesellschaft mit Sitz in Modena zu bedienen. Er plädierte dafür, Bingohallen in Imola und Mailand zu erwerben, um diese anschließend Grasso zu überlassen. Beide zusammen drehen das große Rad. Sie betreiben ambitionierte, millionenschwere Projekte, von denen einige bis heute laufen. So zum Beispiel ein Spielcasino in Bukarest.

Antonio Padovani wurde 2011 vom Gerichtshof in Caltanissetta wegen Fälschung von Gebrauchsgütern, nicht aber wegen organisiertem Verbrechen verurteilt. Bevor sie die Firmenanteile beschlagnahmten, die in seinem direkten Besitz gewesen waren, herrschte er mittels Strohmänner über ein Firmenimperium, welches unter anderem, so die Urteilsbegründung, der Steuerhinterziehung diente. Einer seiner Angestellten war der Ehemann der Tochter von Mafia-Boss »Piddu« Madonia. Der Verwandte des Paten, das ergaben abgehörte Gespräche, besuchte einmal im Monat die Mafia-Firma, in der »Padovani seine Sachen herstellen ließ«.

Darüber hinaus wird in den Akten des Gerichtshofs in Neapel erläutert, welcher Art die Kontakte zwischen Grasso, der Anklage zufolge ein Freund der Camorra im Allgemeinen und des Casalesi-Clans im Besonderen, und Antonio Padovani als Gefolgsmann der Mafia-Clans von Catania (Sizilien) und Caltanissetta (Sizilien) waren. Diesen Untersuchungen zufolge ist Padovani das sizilianische Pendant zu Grasso. Zwischen beiden bestehe eine reguläre Geschäftsbeziehung, wie die beträchtlichen Investitionen des sizilianischen Unternehmers in Firmen belegten, die zu Grassos Imperium gehören. Padovani, so steht dort zu lesen, sei »Mafia-Mitglied und für seinen Clan seit einiger Zeit im Bereich der Spielautomaten tätig, wo er auch durch die Komplizenschaft korrupter Beamter die notwendigen Konzessionen erhält und für die Eröffnung neuer Spielhallen sorgt, die nominell Dritten gehören, aber nachgewiesenermaßen im Besitz der Mafia sind.«

Aus den Plädoyers der Staatsanwälte in Neapel und Caltanissetta geht hervor, dass es zwischen den Vertretern verschiedener Mafia-Zweige ein hohes Maß an Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen gab. Besonders aufschlussreich im Hinblick auf die Verschleierungstaktik der Mafien sind diejenigen davon, die sich den Anschein der Legalität geben, aber hinter denen sich den Anklägern zufolge das mafiöse Systems des dritten Jahrtausends verbirgt, das Pistolenschüsse nur noch als Ultima Ratio nutzt. Sie sollen uns später noch beschäftigen.

Digitalkameras überwachen den Eingang des Lokals. Drinnen ist es ziemlich verraucht, Hoffnungen werden im Minutentakt geschöpft und endgültig begraben. Mit starren Gesichtern sitzen die Spieler vor den Automaten, setzen, gewinnen und verlieren. In diesem heruntergekommenen Souterrain-Raum wird der Wert des Lebens jeden Tag aufs Neue missachtet. Das einzige Gesetz, das hier Gültigkeit besitzt, ist das des Clans. In meinen Augen ist dieser Ort eine Melkmaschine für Verzweifelte. Angesichts der Überwachungskameras, die mich beobachten, unterdrücke ich meine Empörung, die dieser Anblick von versammelter Verzweiflung in mir auslöst. Die diese Industrie, die die Verzweifelten ausbeutet, in mir auslöst. Mir wird speiübel, und ich bin drauf und dran, wieder umzukehren. Aber ich kann nicht. Denn hier spielen sich die Geschichten ab, von denen ich berichten will.

Finstere Gesichter, stumpf von Alkohol und Zigaretten. Jemand scheint gerade Kokain genommen zu haben. Ich tausche Scheine gegen Münzen. Eine lächerliche Geste, typisch für Anfänger oder für Spione. Hier spielt man mit schwermütigem Ernst. Ich bin in einem der ehemaligen staatlichen »Erholungsheime«, die zu Etablissements des Casalesi-Clans geworden sind. In Carpi, einer Kleinstadt, zwanzig Kilometer von Modena entfernt. Der Name des Clubs ist bezeichnend. Matrix 2. Auch die Camorra-Bosse wissen, dass das, was sie aufgezogen haben, eine Art Parallelwelt darstellt, die die Verdammten dieser Erde verschlingt. Es ist ein verzerrtes Spiegelbild der Wirklichkeit, jenen Spielernaturen zur Qual, die vor meinen Augen die unbarmherzigen Automaten beschimpfen.

Zwischen Spieler, Automat und Clan besteht eine perverse Beziehung. Ich meine das Stockholm-Syndrom. Genau dieselbe Abfolge ambivalenter Verhaltensweisen. Im ersten Moment hasst und fürchtet das Opfer denjenigen, der ihm wie ein Blutsauger die Lebensenergie entzieht. In der nächsten Phase unterwirft man sich und überhöht den eigenen Folterknecht, der über die Macht verfügt, über Leben oder Tod zu entscheiden. Der Täter wiederum gibt sich scheinbar milde gegenüber seinem Opfer, dem bereits der letzte Rest Würde genommen wurde.

Neben mir sitzt eine Frau um die fünfzig, die plötzlich jubelnd 10.000 Euro gewinnt. Ein ausländischer junger Mann flucht angesichts seiner Pechsträhne. Jemand, den hier alle Michele nennen, verliert 5.000. Die Frau gewinnt wieder, aber sie lässt den Hebel nicht los, der so viele Träume verspricht und der sie mal zu Jubelschreien, mal zu tiefen, kummervollen Seufzern verleitet. Die Automaten schaffen eine Art Gleichheit unter den Spielern. Sie alle sind durch den verzweifelten Kampf miteinander verbunden, den sie – jeder für sich – mit den elektronischen Manipulatoren ausfechten. Systematische Vereinzelung der Opfer, die klassische Raubtierstrategie. Wenn man erst mal die Hände auf den Knöpfen und Hebeln hat, verschwinden Familie, Kinder, Arbeit. Zweifel und Reue werden über Bord geworfen. Neues Spiel, neues Unglück. Immer wieder von vorn, um das eigene Schuldbewusstsein zu betäuben. Ersatzbefriedigung, die den eigenen Niedergang nur noch beschleunigt, wenn man einmal in ihre Fänge geraten ist.

Es sind kaum zehn Minuten vergangen, seit ich diesen Höllenschlund betreten habe. Eine junge Blondine, mittelgroß, schlank, betritt den Raum. Ich beobachte, wie sie – mit dem Gestus einer Geschäftsführerin – erklärt, anordnet, Aufgaben verteilt. Sie scheint Ordnung in ihren Laden zu bringen. Meinen Augen, tränend von der sündengeschwängerten Luft in diesem Schuppen, erscheint sie zu jung, um einen solchen illegalen Laden leiten zu können. Ihr Handy klingelt. »Ja?« Ich versuche mitzuhören, irgendeinen Wortfetzen zu erhaschen, um zu verstehen, wer sie ist, was für eine Rolle sie spielt, so jung, so verloren. »Umso besser … aber … na gut … wusste ich nicht … nein, das ist mein privates Handy.« Sie legt auf, nachdem sie noch ein »okay, dann bis später« hinterher geschickt hatte. Nach einer knappen Viertelstunde verlässt die Frau die Spielhölle wieder.

Wie ich später herausfinde, heißt die junge Frau Ioana Ancuta Gurlui und stammt aus Rumänien. Sie wohnt zusammen mit einem gewissen Antonio Noviello. Er wird zum Clan der Casalesis gerechnet und sitzt mittlerweile im Gefängnis von Castelfranco. Ioana hielt auch den Kontakt zu Nicola Mennillo, einem Gefängniswärter der Justizvollzugsanstalt Sant’Anna in Modena, dessen Spitzname ebenfalls Antonio lautet. In Sant’ Anna waren zeitweise Noviello, Nicola Nappa und andere Clan-Angehörige der Clans Schiavone, Zagaria, Iovine und Diana inhaftiert.

Es ist ein klassischer Korruptionsfall, der von den Staatsanwälten der Anti-Mafia-Direktion Bologna aufgedeckt wurde. Ihre Anti-Mafia-Operation »Medusa« betraf zahlreiche Mitglieder des Casalesi-Clans. Die auch noch aus ihren kargen Gefängniszellen heraus Anweisungen gaben und Botschaften verschickten. Unter anderem auch mit den ihnen zur Verfügung stehenden Handys. Sant’Anna ist kein spezialisiertes Riesen-Mafia-Gefängnis wie etwa die Anlage von Ucciardone in Palermo. Aber genau deswegen hatte die Taktik von Mafia-Bossen aus der Gegend von Aversa hier größere Aussicht auf Erfolg.

Sie schafften es, zwei Wärter zu bestechen: Die beiden korrupten Justizvollzugsangestellten Nicola Mennillo und Roberto Micillo waren den Bologneser Staatsanwälten zufolge »komplett in der Hand des Clans und erleichterten unerlaubterweise nicht nur die Haftbedingungen von Nicola Nappa, Antonio Pagano, Pasquale Ciocia und Antonio Noviello – etwa mit dem heimlichen Einschmuggeln von zahlreichen Waren aller Art –, sondern sorgten auch dafür, dass Besuche von Angehörigen stattfinden konnten, die offiziell nie erlaubt worden wären. Dies war nur mit gefälschten Dokumenten möglich. Aber damit nicht genug, wirkten die beiden auch noch bei verbrecherischen Umtrieben der Clan-Vertreter in Castelfranco und Carpi mit, die für die Clans enorme Profite abwarfen, so etwa im Wettgeschäft.«

So weit die Ausführungen der Staatsanwälte, die durch ein abgehörtes Telefonat belegt werden. Zwei Clan-Mitglieder hatten sich darüber unterhalten, dass der Clan dazu verpflichtet sei, Roberto Micillo die Spielhalle in Carpi als Zeichen der Anerkennung für geleistete Dienste innerhalb und außerhalb des Knastes von Sant’Anna zu überlassen. Das, was die Ermittler da mithörten, war eine Lektion in Sachen Knastgebräuche: »Er sorgt dafür, dass sie sich im Freien treffen können, um zu quatschen … im Hof … ach Scheiße … er schmuggelt ihnen die Sachen rein … Mozzarella und so … er nimmt die Sachen einfach mit rein … versteh doch, es ist riskant … er bringt ihn dazu, seinen Posten zu riskieren … er sagt, entweder ihr gebt mir den Laden oder ich stoppe alles … er sagt, ich hab was riskiert, riskiere immer noch was … du hast es mir angeboten, ich hatte nicht drum gebeten … er hat genau aufgeschrieben, was sie tun müssen … wenn du dich gegen die Wärter stellst, hast du ausgespielt.«

Die zwei Gefängniswärter sorgten dafür, dass die Clan-Gefangenen MP3-Player, Rasierwasser und kleine Botschaften erhielten, sowohl schriftliche wie mündliche, und dazu noch Besuche außerhalb der regulären Zeiten empfangen konnten. Den Anklägern zufolge wurde Micillo zusammen mit seinem Schwager Carlo di Bona die Leitung der Spielhölle Matrix 2 in Carpi übertragen. Die Profite aus dem Wettgeschäft teilten sie mit dem Clan.

Zwei Männer aus Bologna, Gianluca und Maurizio Maselli, Vater und Sohn, wurden von den Ermittlern als Lieferanten von Spielautomaten für die Clan-Spielhalle in Carpi ausgemacht. Sie sollen die Automaten auch manipuliert haben, indem sie mittels Fernbedienungen die Software änderten. Damit, so schreiben die Ermittler weiter, konnten sie illegale Profite generieren. Zum Nachteil der Spieler, denen natürlich nicht bewusst war, dass die Manipulation die Rate an verlorenen Spielen drastisch erhöhte. Damit betrogen die Mafiosi auch den Staat und die staatliche Monopolverwaltung, da die Software-Änderung dazu führte, dass die Verbindung zu den staatlichen Servern unterbrochen wurde und somit deren Prozente nicht abgerechnet werden konnten. Letzter Anklagepunkt war schließlich die Förderung der mafiösen Verbrechen des Casalesi-Clans im Raum Modena.

Illegale Profite nannten es die Ermittler. Wobei alles minutiös auf Papier festgehalten wurde. Ein Betrug, der dem Clan alle zwei Wochen 100.000 Euro einbrachte. Die Steuerung dieser Geldmaschine hatte der Clan einer Frau, eben jener Ioana, anvertraut. Diese war angeblich auch Nicola Schiavone sehr zugetan, dem Unternehmerfilius von »Sandokan«, der 2005 für kurze Zeit am Rand der Innenstadt von Modena wohnte. Mittlerweile sitzt er hinter Gittern, aber bis letztes Jahr war er noch völlig frei von Vorstrafen, und seine unternehmerischen Aktivitäten erstreckten sich bis nach Rumänien.

Die Spieler, denen man das Geld mittels Betrug aus den Taschen zog, gewannen zwischendurch auch vereinzelt höhere Summen. In einem dieser Fälle geriet Ioana in Panik. Aber ein gewisser »Rocco« beruhigt sie. »Rocco« ist ein bezeichnendes Beispiel, um die Zusammenarbeit der verschiedenen Mafia-Organisationen zu verstehen. Dieser Mensch, den Ioana um Rat bat, heißt im richtigen Leben Nicola Femia. Er stammt aus Marina di Gioiosa Ionica, im Hinterland von Locri, Provinz Reggio di Calabria. Den Staatsanwälten zufolge lieferte er die Online-Spiele des Clans und garantierte die entsprechenden Gewinne. Im Hinblick auf die Spielautomatenfirma Slot Point Production im norditalienischen Varese fungiere zwar einer seiner Verwandten als Geschäftsführer, aber in Wahrheit sei er für das Geschäft mit den Mafia-Spielhöllen in Carpi und Castelfranco zuständig, die dem Casalesi-Clan unterstehen. Er habe den Clans die Software geliefert und sei Ansprechpartner der Lokalbesitzer für die Online-Spiele.

Femia hat ein langes Vorstrafenregister und wurde 1998 erstmals wegen Zugehörigkeit zu einer mafiösen Vereinigung verurteilt. 2002 erließ die Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft von Reggio di Calabria einen Haftbefehl gegen ihn, da sie ihn als Exponenten des Drogenhandels im Auftrag der Mafia-Clans aus Locri ansah. Femia war im Raum Ravenna festgenommen worden, wo er einen Videospielverleih aufgezogen hatte, den die Staatsanwälte trotz vorhandenen Kundenstamms als Tarnfirma entlarven konnten.

Marina di Gioiosa Ionica, der Ort, aus dem Femia stammt, gehört zum Reich mächtiger Mafia-Familien wie den Coluccis, Aquinos und Mazzaferros. Sie stehen für den internationalen Zweig der ’Ndrangheta. Um die Spitzenstellung eines jener Bosse der genannten Familien zu verstehen, muss man sich nur die Verhaftung des Paten Giuseppe Coluccio in Erinnerung rufen, den sie in Toronto schnappten. Die auf ihn angesetzten Staatsanwälte waren einige Jahre hinter ihm her, bis sie ihn schließlich in seiner Penthousewohnung mit Blick auf den Lake Ontario stellten. Ein Luxuswohnapartment, in dem die Polizei Diamanten und höhere Beträge in verschiedenen Währungen beschlagnahmte. Bei den Autos, die er sich während seiner Flucht zugelegt hatte, handelte es sich ausnahmslos um schnelle und teure Luxusmodelle.

Femia stammt aus demselben Ort wie Coluccio. Den Anklägern zufolge war er über die Aktivitäten des Coluccio-Clans bestens im Bilde, sowie über den Casalesi-Clan insgesamt. Als Ioana ihn wie erwähnt wegen der Gewinne eines ihrer Kunden anrief, antwortete er stoisch: »Geld, das man gewinnt, das verliert man auch wieder. Wo ist das Problem?« An Femias Antwort lässt sich erkennen, wie grundverschieden die Herangehensweisen der beiden Mafia-Clans sind. Der Casalesi-Clan zeichnet sich durch Ungestüm und Grausamkeit aus. Die Männer der Clans aus Kalabrien dagegen bewerten jede Situation vornehmlich aus dem Blickwinkel der Professionalität. Nur wenn es nötig ist, handeln sie gemäß der atavistischen Triebe, die Tod und Verderben bringen können.

Die Familien-Clans der Mafia leben in einer Parallelwelt, in einer Art reziproken, antagonistischen Wirtschaft. Sie generieren ihren Verdienst aus den Verlusten ihrer »Kunden«. Dazu bedienen sie sich auch gern norditalienischer »Einheimischer«. Im Juli 2009 wurde eine illegale Spielhölle entdeckt, die von Giuseppe Arrighi betrieben wurde, der einer bekannten Modeneser Familie entstammt. Gemeinsam mit ihm wurden vier weitere Einwohner Modenas verhaftet, Loris Pinelli, Giovanni Aversano, Luigi Biolchini und Franco Berselli. Pinelli stammt eigentlich aus dem nahe gelegenen Vignola. Ihm wird nachgesagt, der Chef des Clan-Vorpostens in Modena zu sein und Verwalter der Spielhöllen im Auftrag der Bosse. Je mehr Einwohner Modenas die Spielhöllen frequentierten, umso stärker klingelten die Kassen des Clans und wurden so zu einer wichtigen Einnahmequelle. Die Gewinne wurden benutzt, um die jahrelange Flucht des Clan-Bosses Diana zu finanzieren, seine und die Familie von Giuseppe Caterino zu unterstützen.

Norditalien nährt die Mafia-Clans mittels der schwarzen, parasitären, im Verborgenen wirkenden Parallelwirtschaft, auf der Achse zwischen Aversa bei Neapel (dem Hauptquartier des Casalesi-Clans) und Modena. Nach seiner Verhaftung erklärte Pinelli, ein einfacher Kunde des Clans gewesen und nur deshalb ins Visier der Fahnder geraten zu sein. Er sei von Francesco Caterino kontaktiert worden, dem jungen Spross des Paten Giuseppe Caterino, der gleichzeitig Neffe von Raffaele »Rafilotto« Diana ist. Der junge Francesco habe Pinelli unmissverständlich deutlich gemacht, dass ein gewisser Prozentsatz der üppigen Gewinne dem Clan zusteht. Und er habe ohne zu zögern zugestimmt. Pinelli hatte verstanden, dass seine Gewinne durch die Decke gehen würden, wenn erst einmal der Clan über seine dunklen Geschäfte wachte. Und als er die Bosse rufen hörte: »Macht die Pakete klar«, machte sich Loris mit seinen Komplizen umgehend daran, auszurechnen, wie viel Geld künftig in die Kassen des Clans fließen würde.

Biolchini hingegen sorgte nicht nur für Nachschub an Spielern, »die man ausnehmen konnte wie Hühner«, sondern spielte auch eine entscheidende Rolle bei den Erpressungen. In einem abgehörten Gespräch überbrachte Biolchini einem Unternehmer »Forderungen, die nicht von mir stammen, ich spreche für andere, für wichtige Leute«. Da lag der Verdacht nahe, dass Biolchini für den Casalesi-Clan sprach. Biolchini und Pinelli sind zwei Beispiele für Einwohner Modenas, die von der Macht des Clans profitiert haben. Pinelli ist ein guter Bekannter von Alfonso »O Pazzo« Perrone und dessen Anwalt, so dass es kein Wunder ist, dass der Pate am Ende eines Gesprächs bittet, seine Grüße auch Loris (Pinelli) auszurichten.

Von den Spielhöllen bis zur Bauwirtschaft, alle Geschäfte der Clans in der Region Modena drehten sich um die unsichtbare Achse Aversa-Modena, deren Exponenten die Familien Schiavone, Zagaria und Iovine sind. Die Geldflüsse von der Emilia-Romagna in die Kassen des organisierten Verbrechens laufen im Mutterhaus zusammen. Von dort aus wandern sie wieder nach Norden, die Halbinsel hinauf und tauchen im Norden in Form von Wucher, Villen, Luxuslimousinen, Firmen, Wohnungen, Cafés, Restaurants, Handelsunternehmen, Hotels oder großen öffentlichen Bauwerken wieder auf. Womit sich der Kreislauf wieder schließt.