1.

NACH NORDEN

Die Möbelfabrik stand lichterloh in Flammen. Brutal zerstörte die Feuersbrunst das Lebenswerk meines Großvaters Ciccio. Lange hatte er diesen Traum gehegt, ihn passioniert in die Tat umgesetzt. Und jetzt löste sich Ciccios Realität gewordene Vision in Rauch auf.

Mein Großvater war zeitlebens Idealist, möglicherweise ein bisschen naiv. Einer, der seinen Träumen nachhing. Und diese oft der Realität vorzog, vor allem, wenn sie von arroganten Männern reglementiert wurde, die sich kraft ihrer Zugehörigkeit zu einem Mafia-Clan als »Ehrenmänner« gerierten. Die kleine Küchenmöbelfabrik, die mein Großvater trotz unsäglicher Schwierigkeiten und ermüdender Geduldsproben aufzubauen geschafft hatte, fiel nun vor meinen schreckensgeweiteten Augen und unter den ungläubigen Blicken meiner gesamten Familie in sich zusammen.

Ein Anruf hatte uns mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Das Schrillen des Telefons war bedrohlich gewesen, von jener Art, die man nie wieder vergisst. Ein Schrillen, das den Tod eines Traums ankündigt und den Anfang einer Tragödie.

Wir rasten nach Sandrechi. Ein Weiler bei Bovalino, an der Straße nach Careri, Natile und Platì. Das Land ringsum gehört mächtigen ’Ndrangheta-Clans. Hier liegen die Hochburgen von Familien wie den Barbaros, Papalias, Sergis oder Perres. Schon an der Abzweigung Richtung Platì überfiel uns der Schrecken. Wir konnten die Zerstörung riechen, den Geruch von verbranntem Holz, unsere wider alle Wahrscheinlichkeit gehegten Hoffnungen zerstoben.

Die kleine Werkshalle glich einem Flammenmeer. Das Knarzen der brennenden Olivenholzbretter hörte sich an wie leise Hilferufe. Wie letzte Seufzer von zum Tode Verurteilten. Geräusche, die gerade noch hörbar waren und sich deshalb umso unauslöschlicher ins Gedächtnis brannten. Nichts schien die lodernde Wut der Flammen besänftigen zu können. Weder Wasser noch Schmerz, weder Mitleid noch Barmherzigkeit vermochten ihrem furchterregenden Treiben Einhalt zu gebieten. Verzweifelt wohnten wir der Niederlage, der Demütigung unseres Familienoberhauptes, der Vernichtung unserer Zukunft bei.

Die Brandursache stand schnell fest. Kein Zweifel, es handelte sich um einen vorsätzlichen Anschlag. Als die Flammen erloschen, begann in jedem von uns eine quälende Suche nach Antworten. Warum war es geschehen, wer steckte dahinter und mit welcher Absicht hatte man es getan? Berechtigte, richtige Fragen. Aber in Kalabrien werden daraus leicht rhetorische Fragen. Wahrheit und Gerechtigkeit an einem Ort zu erlangen, wo das Recht zu einem Privileg Weniger geworden ist, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wer sie einfordert, den kann es die Freiheit oder das Leben kosten.

Wir schrieben das Jahr 1988. In jenem Juli lag die übliche sommerliche Hitze über Bovalino, wie über dem ganzen Süden Italiens. Und wenn dann noch der Schirokko bläst, nimmt einem die Luftfeuchtigkeit an der Südostküste Kalabriens buchstäblich den Atem. Eine aggressive Schwüle legt sich übers Land, die einen unerbittlich in die Zange nimmt und einem regelrecht den Saft aus dem Fleisch saugt. Genau wie die ’Ndrangheta. Die hat die Lebensadern Kalabriens schon früh angezapft und labt sich an ihnen – bis heute. Damit nimmt sie der Region ihre Energie, ihre Würde.

Kalabrien glich damals dem Dschungel, einem Kriegsgebiet, in dem das Recht des Stärkeren galt. In den achtziger Jahren schlossen dort nur die wenigsten Leute eine Versicherung ab. Mein Großvater hatte auf seine Arbeit und auf die Menschen um ihn herum vertraut. Viele Nachbarn aus Bovalino arbeiteten für ihn. Ehrliche Menschen, bedrückt von der Arbeitslosigkeit und den Verhältnissen hier. Es gab keinen Versicherungsschutz für sein kleines Unternehmen. Ob das daran lag, dass niemals zuvor einer nötig gewesen war?

Auch die Arbeit ist in Kalabrien seit jeher ein Privileg Weniger. Eine Vergünstigung, die man dank der Gnade eines Paten erhält. Aber Ciccio, der zur Ausbildung auch noch die Leidenschaft fürs Holz mitbrachte und so das kleine Unternehmen zum Erfolg führte, hatte nie einen der örtlichen Paten um einen Gefallen gebeten. Der Preis für diese aufrechte Haltung war die Zerstörung seines Lebenstraums.

In dem Augenblick, in dem die juristischen Folgen des Bankrotts einsetzen, geht es nicht um Verständnis für denjenigen, der bankrott geht. Es ist nur ein juristisches Verfahren. Objektiv, gesetzesgemäß und für alle gleich. Oder zumindest fast. Wenn der Schaden eingetreten ist und ein aufopferungsvoll geführtes Leben von der Gier einiger Mafiosi zerstört und den Flammen zum Fraß vorgeworfen wird, spielt all das keine Rolle. Der Bankrotteur muss die Schulden begleichen. Er muss die Schande der Pfändung ertragen.

So kam es auch im Falle meines Großvaters. Da es ihm nicht gelang, das Möbelwerk wieder richtig in Gang zu bekommen, konnte er die Schulden bei den Holzlieferanten und den Möbelzulieferern nicht mehr begleichen. Wenige Monate später starb er, und die Schulden wurden für die ganze Familie zur dauerhaften Erinnerung an die Tragödie.

Seit Jahrhunderten sind es diese ewigen Mafia-Feiglinge, die entscheiden, befehlen, fordern und erzwingen. Mit uns hatten sie noch mehr vor. Das Leid unserer Familie war mit dieser Julinacht 1988 noch nicht vorüber. Die letzte Bestätigung, dass die Südostküste Kalabriens nicht der geeignete Ort war, um unser weiteres Leben zu gestalten, erhielten wir am 23. Oktober 1989. Die Ermordung meines Vaters war das finale Zeichen dafür, dass man uns loswerden, uns aussteißen wollte wie Fremdkörper aus einem Organismus, in dem ohnehin bereits ein tödlicher Tumor wütet. Einem Organismus, der sich an die schlimmste aller Krebsarten angepasst hat. Bereits unfähig, die viehischen Schmerzen wahrzunehmen, die das dunkle Böse ihm zufügt, das von Innen die Hoffnungen und die Träume verschlingt. Taub gegenüber dem Schmerz, den Opfern der Mafiosi und seiner selbst.

Die Hinrichtung meines Vaters geschah auf offener Straße. Er war auf dem Heimweg von der Bank, in der er arbeitete, und wurde von uns zu Hause erwartet. Auf dem Tisch stand die Spezialität meiner Großmutter Amelia, grobe Wurst mit Brokkoli. Amelia war es immer wichtig gewesen, ihre Liebsten und insbesondere meinen Vater kulinarisch zu verwöhnen. An diesem Abend warteten wir vergeblich. Irgendein Mafioso hatte den vorzeitigen Tod meines Vaters beschlossen.

Die Schrotkugeln aus der Lupara zerfetzten ihn, sein Gesicht, seinen Körper. Das Attentat wurde niemals aufgeklärt. Stattdessen beerdigte dieser zweite Anschlag uns endgültig bei lebendigem Leibe. Oben die Realität und die gleichgültigen Marionetten, unten wir in unserem hoffnungslosen Zustand. Wir konnten nicht wie diese Unmenschen leben. Aber wir wollten auch nicht Teil des Drogenkartells werden.

Damals verlor ich meinen Vater, wie so viele in Kalabrien davor und danach. Ich wurde Teil der »Waisenmenge«, wie Staatssekretär Alfredo Mantovano die Opfer der verschiedenen Mafia-Gruppierungen bei der Eröffnung der Anti-Mafia-Generalversammlung 2009 etwas missglückt titulierte.

Feuer, Schrotkugeln, Tod und Bankrott – so könnte man meine Kindheit zusammenfassen. Was mir blieb, waren vage Erinnerungen an eine Zeit voller Leid, das nur durch die Liebkosungen meiner tapferen Mutter abgemildert wurde. Es war nicht zu übersehen, wie die Ungerechtigkeit sie zermürbte, wie der Schmerz an ihr zehrte. Die Liebe, mit der meine Mutter sich trotzdem um mich kümmerte, zerriss mir das Herz. Immer wieder suchte ich nach Wegen, um mich abzureagieren, um meine bittere Familiengeschichte zu ertragen.

Meine Familie, also meine Mutter und ihre Geschwister, setzten alles daran, um mich herum eine schützende Hülle zu schaffen. Sie behüteten und umsorgten mich angesichts einer unsicheren Zukunft, in der alle möglichen Gefahren lauerten. Was unsere wirtschaftliche Zukunft anging, so halfen meine Mutter, meine Tanten und Onkel in den folgenden drei Jahren unserer Großmutter dabei, das, was von der Firma Fonti Küchen übrig geblieben war, behelfsmäßig fortzuführen. Die Trümmer der abgebrannten Werkshalle mussten beseitigt, Schulden beglichen, Gehälter gezahlt und Ware ausgeliefert werden. Gemeinsam versuchten sie, dem wirtschaftlichen und sozialen Druck zu widerstehen, der Verlockung, einfach alles stehen und liegen zu lassen und anderswo neu anzufangen. Aber 1991 holte uns die Realität ein, der Traum von einem besseren und solidarischen Kalabrien war ausgeträumt.

Meine Großmutter musste die Firma endgültig schließen. Drangsaliert von den Banken, Lieferanten und einer Kleinstadt, die sich bewusst blind stellte gegenüber dem moralischen Verfall, stand sie die entwürdigende Prozedur durch. Wir mussten erkennen, dass wir bis dahin in einem Ort voller Besiegter gelebt hatten, die mit dem Verstreichen der Tage, Monate und Jahre die Anomalie akzeptiert und als ethische Verhaltensregel verinnerlicht hatten. Die Mafia ist in Kalabrien heutzutage Normalität. Will man hier überleben und Teil der Günstlingswirtschaft bleiben, die über Privilegien, Gefälligkeiten und Rechte entscheidet, muss man sich erniedrigen und erniedrigen lassen.

Der Alltag in »Mafia-Land« ist geprägt von kollektiver Verantwortungslosigkeit. Mit dem Ergebnis, dass man sich bereitwillig unterdrücken lässt und Gefälligkeiten vom gerade an der Macht befindlichen Paten oder der gerade führenden Mafia-Familie dankbar annimmt – passive Akzeptanz mafiöser Mechanismen, Gesetze und Handlungsnormen.

Wer nicht bereit ist, blind Gehorsam zu leisten, wer sich weigert, dem unilateralen Machtvollzug zuzujubeln, dem bleibt nichts anderes übrig, als auszuwandern. Die Verbündeten mafiöser Machtstrukturen bezeichnen so jemanden gern als Flüchtling, Ausreißer, Feigling oder Schwätzer. Andere verwenden dafür den Begriff Emigrant, dessen schwermütige Konnotation sich nur demjenigen ganz erschließt, der dieses Schicksal teilen musste: Menschen, die sich gezwungen sahen, ihren Geburtsort zu verlassen, und die nicht selten vor Schmerz verkümmert sind, Männer und Frauen, die sich nichts weiter als ein normales Leben wünschten. Rechtschaffene Wesen, die unbehelligt von der Mafia ein selbstbestimmtes Leben anstrebten.

Natürlich gibt es Menschen, die trotz allem dort bleiben. Deborah Cartisano aus Bovalino und Stefania Grasso aus Locri sind zwei Beispiele für das andere Kalabrien. Beide verloren ihren Vater durch Mordanschläge der ’Ndrangheta. Aber sie hatten den Mut, zu bleiben und gegen die Isolierung zu kämpfen, die eine narkotisierte Bevölkerung zugunsten des Status quo in Sachen Mafia über sie und ihre »lästigen« Erlebnisse verhängen wollte. Wir wählten einen anderen Weg – weder besser noch schlechter, einfach anders. Trauer lässt sich auf vielfältige Weise verarbeiten.

Die uns aufgezwungene Entscheidung, unsere Zukunft neu, anders und anderswo zu gestalten, ließ unsere Wut, unsere Trauer noch einmal hochkochen. Die Mafia hatte uns zu Opfern gemacht und unser Leben beschädigt. Aber letztlich war es immer noch ein Leben. Und das Bewusstsein, trotz allem noch Herr über unser Schicksal zu sein, gab uns den Lebensmut zurück. Den Mut, uns zu entscheiden, uns aus dem Mafia-Sumpf herauszukämpfen, statt für immer darin steckenzubleiben.

Unsere Zukunft zurückzugewinnen und sie wieder mit Normalität zu erfüllen, das war unser Ziel. Normalität, so viel stand fest, würden wir nur fern von Bovalino finden. In der Provinz Reggio di Calabria wäre es uns mit Sicherheit nie gelungen, unsere Würde während dieser dunklen Jahre zurückzuerlangen – falls wir überhaupt überlebt hätten.

Also brachen wir auf in eine ungewisse Zukunft. Um wieder bei Null zu beginnen. Es ging Richtung Emilia-Romagna. Zielort Modena. Heimat von Motoren, Tortellini, Tortelloni, Balsamessig, Keramik, Kooperativen und Kommunisten. Eine gastfreundliche, solidarische Gegend, denkbar weit weg von jener Logik der Gewalt, mittels derer die Menschen der Region, aus der ich stamme, unterdrückt werden. Einer Region, die zur Geisel von Wenigen geworden ist und zum Gefangenenlager für viele. In Modena konnte ich endlich wieder ein ganz normaler Junge sein. Hier gelang es mir, einen Teil der verlorenen Jahre aufzuholen, die mir in jener Endlosigkeit aus Schmerz und Schweigen abhanden gekommen waren. Endlich fand ich einen Weg, die verwirrenden Bruchstücke, die mir von meiner Kindheit geblieben waren, wieder ansatzweise zusammenzusetzen.

Aus dem tiefsten Süden kommend, irritierte mich, wie ordentlich es trotz aller Hektik und Dynamik in Modena zuging, dieser lebendigen Stadt voller Licht, Verkehr, Durcheinander, großer Gebäude, Ampeln, Kinos und Kilometern von Fahrradwegen. Normalität. Heute erscheint mir dieser Gedanke aberwitzig. Aber in den Augen eines Elfjährigen, der aus einer Gegend kommt, wo nichts normal ist, war das eine völlig neue Erfahrung.

Zuerst überfiel mich immer Trauer und Schwermut, wenn ich an das Haus meiner Kindheit dachte, an die glitzernden Sonnenreflektionen, an den Mond und die Sterne über dem Ionischen Meer, den Duft von Jasmin, Basilikum und Minze, an das Violett der Bougainvilleen, an die Farbspiele der Sonnenauf- und -untergänge. Aber das ging vorbei, als mir klar wurde, was der Umzug in die Fremde gebracht hatte. In Modena stand mir eine Zukunft offen, weit weg von den zerschossenen Verkehrszeichen, von den Blicken, die Unterwürfigkeit fordern, von den blutbefleckten Bürgersteigen, von den knallenden Kalaschnikow-Salven, die mitten in der Nacht auf die Rollläden von Ladenbesitzern abgefeuert werden, die sich weigern, Schutzgeld zu bezahlen.

In Modena bestand eine reale Chance, die noch warmen Blutlachen, den brandigen Gestank meiner Heimat, die sich in mein Hirn und meine Seele eingebrannt hatten, zu vergessen. Diese Fäulnis, die nie behandelt worden war, die man einfach weiterwuchern ließ und die dank der verbreiteten Weigerung, sich zu wehren, bestens gedieh. Da der abgestorbene Fuß nicht amputiert worden war, hatte die Infektion mittlerweile den gesamten Körper erfasst. Dieser Wundbrand manifestierte sich in Form von Bestechung, Politskandalen, Korruption, Schutzgeld, Drogen, Gewalt, Toten, Bomben, Schüssen, Luxus, Supermärkten, Ausschreibungen, Günstlingswirtschaft, Baustellen, Gift und Müll.

Die Emilia-Romagna und ihre alltägliche Normalität haben uns ein neues Leben ermöglicht. Die Entscheidung, damals aus der Not geboren, war richtig. Eine Flucht in die Freiheit. Natürlich hätten wir auch bleiben können. Wir hätten die Hilfe von Sebastiano Romeo, genannt »U Staccu«, dem verstorbenen Paten von San Luca annehmen und die abgefackelte Fabrik wieder aufbauen können. Wir hätten also die Hilfe von jemandem annehmen müssen, der uns ungefragt angeboten hatte, die Geschicke unserer Firma und unserer Familie in »gesunde Bahnen« zu lenken. Aber damit hätten wir die Mafia-Logik akzeptiert, die zum Brand der Fabrik und zum Tod meines Vaters führte.

Sie sind Aasfresser. Sie schaffen aus eigener Hand die Bedürfnisse, die sie hinterher befriedigen. Sie schüren die allgemeine Angst, verunsichern die Leute, um einem dann lächelnd vorzuschlagen, dass man sich durch entsprechende Zahlungen wieder Ruhe erkaufen kann. Durch die Mafia sind Ruhe und Ordnung inzwischen zur Handelsware geworden. Das Schutzgeld ist Mittel zum Zweck. Es ist die Leitwährung in diesem Geschäft. Die Opfer des Machtterrors, der Schlägertrupps eines »Don Rodrigo« Manzonischer Prägung, sind gezwungen, für eine Sache zu bezahlen, die eigentlich ihr Grundrecht ist: ihre Sicherheit.

1988 waren wir zu isoliert, um uns gegen die Clans in Bovalino zu wehren. Außerdem hatten wir schon vor dem möglichen Beginn eines solchen Kampfes unsere ersten Toten zu beklagen. Damals gab es noch keine Opfervereinigungen. Die Bevölkerung Kalabriens lehnte den Begriff ’Ndrangheta noch rundheraus ab, aus Furcht, die ganze Region werde mit diesem »seltsamen Wort« etikettiert. Es war eine beunruhigende Isolation. Angsteinflößend. Bedrohlich. Sie ließ uns einen weiten Weg gehen, weg von den Berggipfeln des Aspromonte und des Pollino, bis ins Alpenvorland nördlich der Apenninen.

Und wenn alles, was damals geschah, sich heute zugetragen hätte? Hätten wir heute den Mut, in unserem kleinen Dorf zu bleiben, umgeben von den Blumen und den Düften des Mittelmeers? Würden wir den Kampf aufnehmen? Fragen, die ich mir in letzter Zeit oft stelle, die aber letztlich nur hypothetischer Natur sind. Die Vergangenheit kann man nicht ändern. Wahrscheinlich ist es auch besser, dass es so ist. So kann sie uns immer wieder den Weg weisen, die früheren Fehler nicht erneut zu begehen, und uns an die erlittenen Untaten erinnern.

Als ich im Alter von elf Jahren in den Norden kam, dachte ich, bestimmte Realitäten und Machenschaften hätte ich endgültig hinter mir zurückgelassen. Es lag außerhalb meiner Vorstellungskraft, dass viele süditalienische Mafiosi zu diesem Zeitpunkt längst konkrete Projekte zur Ausdehnung ihres Aktionsradius umgesetzt hatten. In Modena besuchte ich ab 1992 die weiterführenden Schulen. Ich verbrachte dort meine restliche Jugend, durchlebte die mit ihr verbundenen Grenzüberschreitungen. Schließlich begann ich zu studieren und stellte gleichzeitig fest, dass der Pesthauch von Mafia und Tod die stille Po-Ebene bereits erreicht hatte.

Diese Mistkerle beuten auch unsere neue Heimat aus. Sie verlangen auch hier Schutzgeld und verwandeln unsere Straßen in Kulissen eines Italo-Westerns von Sergio Leone. Heimlich, still und leise hatten sie sich in den Gemeinden Norditaliens niedergelassen. Um hier die Profite ihrer Verbrechen zu investieren und sie so von den Blutkrusten zu reinigen, die an ihnen klebten. Um diese Profite also in legale Aktivitäten einzuschleusen und damit zu »waschen«.

Sowas nennt sich »Ehrenmänner«. Sie lassen ihre ursprüngliche Heimat lieber durch Arbeitslosigkeit, Giftmüll und Schmerz vor die Hunde gehen, statt sich als die Herren des Ganzen zu erkennen zu geben. Um bei der dortigen Bevölkerung, die ihnen zu großen Teilen immer noch Respekt und Achtung entgegenbringt, keinen Neid auf sich zu ziehen, verbergen sie sorgsam ihren auf verbrecherische Weise erworbenen Reichtum.

Denn an der Südostküste Kalabriens und im bergigen Hinterland des Aspromonte trauen sich die Paten nicht, mit ihrem Reichtum und den damit erworbenen Schätzen zu protzen. Sie wohnen in grauen, unauffälligen, mehrstöckigen Häusern. Aber die Wohnungen selbst sind randvoll gepackt mit den teuersten Dingen: Wasserhähne aus massivem Gold, wertvolle Gemälde, Unterhaltungselektronik neuesten Datums. Schließlich müssen sie ihren Frauen und Kindern demonstrieren, was so ein Mafioso-Leben abwirft. Aber nicht der Bevölkerung, weil das nur Neid erzeugt und Neid bekanntlich der entscheidende Triebfaktor des Denunzianten ist.

Wollen sie den Mythos des volksnahen Mafia-Bosses aufrechterhalten, müssen sie ihren Reichtum verbergen. Folklore, reine Folklore. Die Realität sieht anders aus. Sie investieren im Norden, um keinen Verdacht bei den Ermittlern zu erregen und auf risikoarme Weise Millionen und Abermillionen Euro zu waschen. Und so wird im Norden Italiens eine ohnehin ungebrochen florierende Wirtschaft mit einem unaufhörlichen Zustrom illegalen Kapitals überschwemmt. Gleichzeitig versinkt der Süden des Landes im Elend.

Die legale und die illegale Wirtschaft Italiens spielen sich auf zwei parallel existierenden Ebenen ab. Aber immer häufiger geschieht es, dass sie sich berühren, sich vereinen, eine untrennbare Mischung bilden, in der das illegale Kapital spurlos im legalen verschwindet. Von Orten im Süden wie San Luca, Platì, Reggio di Calabria, Palermo, Catania, Castelvetrano, Casal di Principe, San Cipriano d’Aversa und Neapel fließen unermessliche illegale Kapitalströme in die boomende Wirtschaft des Nordens und in den Finanzsektor. Die Wege dieser Süd-Nord-Finanzströme bilden ein Netzwerk, bilden das eigentliche wirtschaftliche Rückgrat des Landes.

Gelingt es doch einmal, eine mit Drogengeld von einem Clan gekaufte Immobilie zu beschlagnahmen und schließlich zu enteignen, kann die Herkunft des zum Kauf benutzten Geldes meist nicht mehr festgestellt werden, die Herkunft jener schwarzen Liquidität, die auch dazu benutzt wird, in den Aktienmarkt zu investieren. Aus Drogenprofiten werden so unverdächtige Aktien namhafter Unternehmen. Man kauft sie, man verkauft sie.

Die internationalen Finanzmärkte nahmen das Mafia-Geld gern, unter dem Siegel der Verschwiegenheit und so unauffällig wie möglich. Kein Wunder also, dass die europäischen Finanzzentren Mailand, London und Frankfurt am Main heutzutage gleichzeitig Brennpunkte der Geldwäsche sind. Die Abgesandten der ’Ndrangheta haben dort längst Fuß gefasst und massiv investiert. Schätzungen zufolge setzt die »Mafia AG« inzwischen 135 Milliarden Euro pro Jahr um und macht dabei einen Gewinn von siebzig Milliarden Euro. Beträge, über deren genaue Höhe man streiten kann, die aber mit Sicherheit eine ungefähre Vorstellung von den Summen vermitteln, um die es sich hierbei handelt.

Mailand ist mittlerweile eine ’Ndrangheta-Hochburg, genau wie San Luca und Platì in Kalabrien. Weit auseinanderliegende Orte, verbunden durch den Kult der kriminellen Macht. Genährt und abgesichert durch »das weiße Pulver«, das es einem ermöglicht, mit unserer rasenden, destruktiven Gegenwart schrittzuhalten. Über eine Million Kokain-Konsumenten gibt es in Italien, grob geschätzt. Eine ständig steigende Nachfrage, der ein nie versiegendes Angebot gegenübersteht, geliefert von Kreisen, die dafür Sorge tragen, dass die Süchtigen – von denen sich kaum einer als süchtig bezeichnen würde – niemals auf dem Trockenen oder »auf dem Affen« sitzen, wie man im Szenejargon sagt.

Denn im Gegensatz zum Heroin isoliert einen Bamba oder Barella, wie man Kokain in Mailand bezeichnet, nicht. Es stellt einen nicht ins Abseits und schließt einen nicht aus. Im Gegenteil, es zieht seine Anbeter mitten rein ins bunte Leben, es trägt sie, es verbessert ihre Performance in jenem Boxring, in dem täglich der Wettkampf ums Überleben ausgetragen wird. Maurer, Arbeiter, Lkw-Fahrer, Manager, Rechtsanwälte, Politiker und Ärzte, alle vertrauen auf »das weiße Pulver«.

Kokain ebnet die sozialen Klassen ein. Es ist eine von vielen geschätzte Arznei, um Müdigkeit und Apathie zu verdrängen. »Vor zwanzig Jahren war das noch nicht so, da zogen sich nur die Reichen, die Unternehmer, die Rechtsanwälte sowas durch die Nase«, erklärt mir Giulio zu Beginn unserer Unterhaltung. Er ist Lkw-Fahrer und arbeitete jahrelang in einem der Vorzeigebetriebe der Modeneser Industrie. »Für alle anderen gab es Heroin und LSD. Zeug, das dich automatisch an den Rand der Gesellschaft befördert und es dir unmöglich macht, das vorgegebene Arbeitstempo zu halten. Als der Preis für Kokain plötzlich zu fallen begann, haben wir uns alle darauf gestürzt. Zu Lire-Zeiten kostete ein Gramm 200.000 [hundert Euro], heute bekommst du schon für fünfzig Euro ein Piece [ungefähr ein Gramm] mittlerer Qualität. Du kannst auch hundert dafür ausgeben, dann bekommst du zu neunzig Prozent reines Zeug. Ist aber schwer zu kriegen, außer du kaufst direkt an der Quelle, bei einem, der seinen Stoff von Kalabresen bezieht. Alle, die danach den Stoff weiterhandeln, strecken ihn, und du läufst Gefahr, irgendeine Scheiße zu kaufen, die dich umbringt. Sowas findest du für dreißig Euro das Piece, aber da packen die alles Mögliche rein, von Mannit bis Aspirin. Für vierzig Euro kriegst du ein Piece, das mit viel Amphetamin verschnitten ist. Das eignet sich am Besten für die Arbeit. Noch bessere Qualität besorg ich mir für die VIP-Partys am Wochenende, die wir in einer Wohnung, einer Villa oder einer Discothek rund um Bologna organisieren. Abgefahrene Partys. Da sind sie alle. Einmal hab ich dort einen Politiker getroffen, den ich aus den Nachrichtensendungen kannte. Ich versteh nichts von Politik, interessier mich auch nicht dafür, aber das Gesicht hab ich sofort erkannt. Und dann wer weiß wie viele Ärzte. Zum Beispiel einer aus Bologna. Hatte beste Verbindungen zu den Clans von San Luca, die sich hinterher alle über den Haufen geballert haben. Immer wieder fing er davon an, dass seine Freundin ziemlich reines Zeug direkt von den Pizzatas und Martès aus San Luca bezieht. Die wurden wenig später verhaftet, und dann kam raus, dass ihnen bis heute Pizzerien und Cafés im Zentrum von Bologna gehören. Dann waren noch jede Menge junger Rechtsanwälte bei unseren Feten. Das weiß ich, weil mich einer von denen mal vor Gericht verteidigt hat, als ich Probleme mit der Polizei hatte.«

In Giulios Welt existieren dank Kokain und Mafia keine Klassenunterschiede mehr. Doch das kam nicht von heute auf morgen. Verbündet mit den Dealern auf der Straße, eroberten die ’Ndrangheta-Clans nach und nach das Monopol für den Drogenhandel zwischen Turin und Mailand. Heute ist Norditalien ihr Hauptabsatzmarkt. Aber auch im Süden steigt der Kokainkonsum stetig an.

Selbst in einer Kleinstadt wie Bovalino sterben junge Menschen an Drogen. Mitte der siebziger Jahre fing es an. Ab 1978 überschwemmten die Clans aus dem nahegelegenen Küstenort Africo unser Dorf Bovalino und die übrige Region regelrecht mit Drogen. Die Clans aus Platì und San Luca zogen nach und stiegen ebenfalls in den extrem gewinnträchtigen Drogenhandel ein.

Eines der Opfer aus meinem Geburtsort war Alfio. Er brauchte binnen kurzem immer höhere Dosen. Zunächst wartete er noch darauf, dass ihm Dealer der Clans das Heroin nach Bovalino brachten. Doch kurz vor seinem Tod fing er an, selbst nach Africo zu fahren, um sich Nachschub zu besorgen. An einem Tag fuhr er hin, am nächsten kam er zurück. Das ging eine Weile so. Aber dieses Kommen und Gehen wurde in Africo, der Hochburg der ’Ndrangheta, nicht gern gesehen. Es missfiel speziell den Mafia-Bossen, die gerade mit ihren neuen Geschäften in der Lombardei beschäftigt waren und um jeden Preis verhindern wollten, dass in ihrem Heimatort lästige Gerüchte aufkamen.

Africo war das Reich von Giuseppe »U Tiradrittu« Morabito, seinem Sohn Salvatore und von Giuseppe Pansera, dem Mediziner und Handlanger von »U Tiradrittu«. Das Reich der Palamaras und Bruzzanitis. Alfios Leben und das von vielen anderen lagen in der Hand dieser Leute. Leben oder Tod hingen ab von dem Gewinn, den die Mafiosi mit einer bestimmten Ladung Heroin machen wollten. Zu rein, zu wenig verschnitten, niedrigere Gewinnmarge, höheres Neukundengeschäft bedeutet Tod. Als er die Augen schloss und darauf wartete, dass die Wirkung einsetzte, wusste Alfio nicht, dass es sein letzter Schuss sein sollte. Eine Reise ohne Rückfahrkarte, eine Reise hinab in die Abgründe der Unmenschlichkeit. In eine düstere Höhle voller Träume und Alpträume, aus der jeder Abhängige früher oder später raus will.

So wäre das auch für Alfio und viele andere gewesen, wenn sie in einer norditalienischen Stadt mit Heroin angefangen hätten. Vermutlich wären sie von der Polizei festgenommen und in ein Rehazentrum gebracht worden. Sie hätten eine Methadon-Therapie begonnen und versucht, irgendwie aus diesem schwarzen Loch herauszukommen. Alfio und die anderen Jugendlichen von der kalabrischen Südostküste konnten darauf nicht hoffen. Statt Rehazentren gibt es hier die ’Ndrangheta. Sie entscheidet, ob man mittlerweile zu einem lästigen Kunden geworden ist, den es zu beseitigen gilt.

Drogenabhängige, die Probleme machen, die bei den Bullen singen könnten oder die mitten zwischen den Leuten auf die Piazza kotzen, sind ein Ärgernis für die ruhiggestellte Gemeinde. Der Mafia liegt inzwischen – nachdem sie sich andere Absatzmärkte erschlossen hat – viel daran, zu verhindern, dass sich die einheimische Bevölkerung des Drogenproblems bewusst wird. Also ist es besser, den zur Last gewordenen Drogenabhängigen von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Aber natürlich erst, nachdem er genügend Geld in die Kassen gespült hat.

Der einträglichste Drogenmarkt mit den treuesten und wahllosesten Konsumenten, die man mit dem weißen, gelben, braunen oder wie auch immer gefärbten Pulver zuschütten kann, erstreckt sich von Rom aus nach Norden. Auf ihn konzentrieren sich die Clans mittlerweile. Außerdem ist es den Drogenbossen möglich, ihr Ansehen in ihrer Heimatregion Kalabrien zu wahren, wenn sie im reichen Norditalien – und nicht mehr zu Hause im Mezzogiorno – ihnen unbekannte Jugendliche anfixen lassen.

Zu Hause zeigt sich der Pate gern aufmerksam »seiner« Gemeinde gegenüber, besorgt um das Schicksal einheimischer Jugendlicher, deren weitere Förderung seine Herzensangelegenheit zu sein scheint. Was außerhalb der Gemeindegrenzen passiert, bleibt der einheimischen Bevölkerung zumeist verborgen: die in ihrer Kotze liegenden Fixer in den öffentlichen Parks, die zusammengekrümmten, zitternden Süchtigen auf Turkey. So erklärt sich, wie die Clans darauf kamen, ihr Absatzgebiet in die Städte Norditaliens zu verlegen. Dort konnten die Mafiosi schnell und ohne negative Folgen für ihr heimisches Ansehen eine weitaus höhere Nachfrage in Gang setzen.

Modena, unsere neue Heimat, war natürlich längst ebenfalls Umschlagplatz dieser Drogenindustrie. Auch hier sorgten die Clans mittlerweile dafür, dass man leicht an Drogen kam. Erst mit gigantischen Rauschgiftlieferungen, dann mit den unaufhörlich hereinströmenden Drogenprofiten, die zusätzlich in die boomende legale Wirtschaft eingeschleust wurden und so die Region noch reicher machte. Für die verschiedenen Mafia-Gruppierungen stellen Modena und die ganze Emilia-Romagna mittlerweile strategische Zentren dar.

Hatte ich wirklich angenommen, dass es ausreichen würde, einfach die Region zu wechseln, um nie mehr mit der Mafia konfrontiert zu werden? Ich hatte es gehofft. Naiverweise. Ein Traum, eine Utopie, die ich für möglich gehalten hatte. Tatsächlich hatte ich in meinen ersten 17 Lebensjahren in mir die Überzeugung genährt, dass das Leben stärker als alles Übel der Welt sei und dass es dem Tod gleichkäme, wenn man aufhört, an die Kraft der Träume zu glauben. Einem mentalen Selbstmord, der eine weitere Niederlage für uns und einen weiteren Triumph für die Drogen-Mafia bedeutet hätte.

Ich möchte wieder nach Bovalino zurück. Nach Kalabrien. Heute fühle ich mich reif dafür. Ich bin bereit, einen Kampf aufzunehmen, den ich einige Jahre zuvor mit Sicherheit nicht überstanden hätte. Ich habe gelernt, Schicksalsschläge zu ertragen, dank dem Schönen, das es überall auf der Welt gibt. Das habe ich von meiner Mutter. Das und vieles andere mehr. Grundlegende Wertvorstellungen, ohne die es mir nicht möglich gewesen wäre, zu überleben.

Nicht das Leben an sich ist ekelhaft, die Welt als Resultat schlimmster menschlicher Perversionen ist es. Die Träume sind der Motor unserer Handlungen. Ohne Träume, ohne die aus ihnen resultierenden Handlungen kann die Macht der Mafia niemals zerschmettert, besiegt oder einfach nur lächerlich gemacht werden. »Ein Lachen wird es sein, das euch beerdigt« heißt es bei uns. Ein Lachen, das ist meine Hoffnung, wird eines Tages die Mafia überwinden.

Nach Norden also, auf der Flucht vor dem vulkanischen Feuer meiner Heimat, das Träume und Leidenschaften zu Asche zerfallen lässt. Um sich dann, diesmal nicht als Opfer, sondern als Augenzeuge und Chronist von Mechanismen wiederzufinden, die ich nur zu gut kannte, die ich alle schon am eigenen Leib erfahren hatte.