Als er herunterfuhr, konnte er nicht vermeiden, sich in den
Spiegeln des Aufzugs zu sehen. Schlaftrunken, mit zerzaustem Haar,
geröteten Augen und verknitterter Kleidung. Über seine Wange lief
eine rote Linie wie eine Narbe, ein Abdruck von dem
zusammengeknüllten Kopfkissen. Er bereute es, sich keine Zeit
genommen zu haben, sein Aussehen kurz zu richten, bevor er aus dem
Zimmer gestürmt war.
Der junge Mann und die junge Frau am Empfang hörten zu lachen auf,
als er in ihre Richtung ging, und schauten ihn mit höflicher
Erwartung an.
Die Rezeptionistin fragte, ob alles in Ordnung sei.
»Ja«, sagte er. »Also, eigentlich nicht. Ich bin in Zimmer 408 und
musste heute Abend weg. Meine Frau blieb zu Hause. Als ich um elf
Uhr wiederkam, war sie fort.
Ich dachte, sie sei kurz ausgegangen, um sich etwas zu essen zu
besorgen, sodass ich mich hinlegte und einschlief. Jetzt bin ich
aufgewacht, es ist fast zwei Uhr und meine Frau ist immer noch
nicht da.« Die beiden an der Rezeption hörten dieser Erzählung mit
Interesse zu.
Der junge Mann hatte im Computer nachgesehen.
»Hier ist es. 408. Heißt Ihre Frau Magnúsdóttir, Herr
Gunnarsson?«
»Ja, sie trägt nicht denselben Nachnamen wie ich. Isländische
Frauen behalten ihren Nachnamen, wenn sie heiraten.« Víkingur war
nicht danach, weitere Erklärungen zur isländischen Namensgebung zu
machen.
»Ich wollte fragen, ob sie vielleicht eine Nachricht für mich
hinterlassen hat, als sie das Hotel verließ.«
»Hier im Computer ist keine Nachricht und im Fach auch nicht«,
erwiderte der Hotelangestellte. »Wann ist sie denn
losgegangen?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Víkingur. »Ich war nicht hier. Sie muss
irgendwann zwischen sieben und elf losgegangen sein.«
»Gestern Abend?«, fragte die junge Frau.
Einen Moment lang schien es ihm, als glaube ihm das Mädchen seine
Geschichte nicht. Aber sie starrte ihn mit großen Augen voller
Pflichtbewusstsein und Anteilnahme an.
»Ja, genau. Gestern Abend. Hatten Sie gestern Abend
Dienst?«
Die beiden sahen sich gegenseitig an. Wollte der Mann sie jetzt in
irgendeiner Form verantwortlich machen?
»Seit neun Uhr. Da beginnt die Nachtschicht«, erklärte der junge
Mann. Willem stand auf einem Namensschild an seinem Revers. »Sie
könnte das Haus vor dieser Zeit verlassen haben. Wir haben
niemanden gesehen. Kann es sein, dass sie oben im Zimmer eine
Nachricht hinterlassen hat?«
Víkingur gab auf. Sie hatten Þórhildur offensichtlich nicht bemerkt
und fanden es offensichtlich genauso nervig, seine Fragen
beantworten zu müssen.
»Wenn sie eine Nachricht hinterlassen hätte, müsste ich jetzt nicht
hier stehen und Sie fragen«, entgegnete Víkingur.
»Entschuldigen Sie«, sagte Willem und nahm einen bedauernden
Ausdruck an. »Ich versuche nur, zu helfen.«
»Ja, das verstehe ich. Nein, oben ist keine Nachricht.
Entschuldigen Sie. Ich mache mir einfach Sorgen.«
»Hat sie denn kein Telefon?«, fragte die Empfangsdame. Sie schien
erst seit Kurzem hier zu arbeiten, denn sie hatte kein Namensschild
an der Brust.
Víkingur schämte sich dafür, dass er die Auffassungsgabe dieser
großäugigen jungen Frau in Zweifel gezogen hatte. Er selbst war es,
der geistig zurückgeblieben war.
»Doch, natürlich«, sagte er. »Ich verstehe nicht, wieso ich nicht
selbst darauf gekommen bin.«
»Bitte sehr«, sagte Willem und hob einen Telefonapparat auf die
Theke der Rezeption. »Bitte rufen Sie sie an. Ich bin sicher, dass
es sich nur um ein kleines Missverständnis handelt.«
Ich weiß nicht, was mit mir los ist, dachte Víkingur, als er die
Mobilnummer eingab. Werde ich alt? Wie gut, dass keiner weiß, dass
ich mich Polizist schimpfe.
Der Anruf blieb erfolglos. Eine Computerstimme wie aus einem weit
entfernten leeren Raum teilte ihm mit, dass Þórhildur entweder
außerhalb des Versorgungsgebiets sei oder ihr Telefon abgeschaltet
habe.
Þórhildur hatte ihr Telefon noch nie abgeschaltet. Sie war nahezu
besessen davon, es immer dabeizuhaben, um ständig erreichbar zu
sein.
»Wenn ich ein Handy gehabt hätte, als ich mich mit dem Auto
überschlagen habe, hätte ich wenigstens Bescheid geben können«,
hatte sie einmal zu ihm gesagt. »Ich will nicht noch einmal den
Kontakt abreißen lassen.«
»Sie macht das Telefon nie aus«, sagte Víkingur und legte den Hörer
auf.
»Warum antwortet sie dann nicht?«, fragte die junge
Frau.
»Weil das Telefon abgeschaltet ist«, erwiderte Víkingur.
Er konnte es ihren großen Augen ansehen, dass sie ihn für nicht
ganz richtig im Kopf hielt.
»Sie sind sich also sicher, dass sie nicht oben in Ihrem Zimmer
ist?«, fragte Willem vorsichtig und fügte hinzu: »Und auch keine
Nachricht?«
Víkingur sah ihn an, ohne zu antworten.
»Ich könnte hochflitzen und schauen, ob ich eine Nachricht
entdecke«, bot Willem an.
»Wenn Sie wollen«, sagte Víkingur. »Ich werde mich hinsetzen und
hier unten ein Weilchen warten.«
Er nahm auf einem großen Sofa Platz, das dem Hoteleingang genau
gegenüberstand. Ohne aufzusehen hörte er, wie die beiden hinter ihm
leise miteinander sprachen.
Dann Schritte. Die Türen des Aufzugs öffneten und schlossen
sich.
Sie wollten offenbar ausschließen, es mit einem geisteskranken Mann
zu tun zu haben, der behauptete, seine Frau sei verschwunden,
während diese tief schlief. Möglicherweise hielten sie ihn für
gefährlich, vielleicht hatte er der Frau etwas angetan und sie war
entweder geflohen oder lag bewusstlos oben im
Hotelzimmer.
Es war ihr Job, ihren Mitmenschen das allerschlimmste
zuzutrauen.
Sein Job auch.
Schneller als erwartet kam der Lift wieder. Víkingur sah auf und
sah Willem heraustreten. Der lächelte entschuldigend, senkte den
Kopf und streckte die Hände so aus, dass die leeren Handflächen zu
Víkingur wiesen. Keine Frau im Hotelzimmer. Keine
Nachricht.
*****
Nordpol sah auf seinem GPS-Gerät, dass er nur noch etwa drei
Kilometer bis zu diesem Rebase-irgendwas laufen musste.
Die Stiefel verursachten ihm Schmerzen. Was war das für ein
Quatsch, allen zu befehlen, in diesen vorsintflutlichen Stiefeln
umherzulaufen?
Nordpol sah die Notwendigkeit ein, Befehle zu befolgen und sich
einer Führung unterzuordnen. Nicht zuletzt, weil Ulrich ihm
mitgeteilt hatte, dass Karl seine Schulden in Höhe von zehntausend
Euro übernehmen würde, und das für einen Gelegenheitsjob, den auch
ein beliebiger Pfadfindertrupp würde erledigen können. Andererseits
hatte er nicht damit gerechnet, dass er seine guten Schuhe gegen
ungeeignete Latschen eintauschen musste, um sich damit so schnell
wie möglich durch Sümpfe und Wälder zu bewegen, als Ein-Mann-Vorhut
vor einem Zwei-Mann-Regiment.
Sicher glaubte er an die Sache und all das, aber der arrogante
Wicht, der glaubte, diese Aktion zu befehligen, war offenbar
größenwahnsinnig geworden und wollte durch idiotische Anweisungen
seine Vorrangstellung demonstrieren.
Nordpol hielt an und nahm den Rucksack ab. Er war nicht außer Atem,
obwohl er sich schnell bewegt und angenehm geschwitzt hatte. Er
setzte sich auf den Stamm einer umgestürzten Buche und öffnete den
Rucksack. Nahm seine Laufschuhe heraus und löste die Schnürsenkel
der schweren Stiefel. Er war kurz davor, diese blöden Schuhe an
einen Ast zu hängen, für den Fall, dass der Führer Karl hinter ihm
denselben Weg einschlagen würde. Er konnte sich jedoch
zurückhalten. Bloß keine Verachtung zeigen. Lieber nichts sagen und
trotzdem sein eigenes Ding machen. Vernunft walten
lassen.
Nordpol rieb sich die Füße. Allem Anschein nach war es höchste
Zeit, sich vernünftiges Schuhwerk anzuziehen. Die Stiefel hatten
ihm die Haut an der Achillessehne wundgescheuert. Er zog sich die
Adidas-Schuhe an, die speziell für Geländeläufe entworfen worden
waren und eine ordentliche Summe gekostet hatten.
Er steckte die Armeestiefel in seinen Rucksack und stand auf. Ging
ein paar Schritte, um herauszufinden, ob er die Wunde an der Ferse
spürte. Nein. Gut.
Nordpol grinste, als er daran dachte, was Karl wohl sagen würde,
wenn er ihn jetzt so sähe.
Er knallte die Fersen zusammen, richtete sich auf, streckte den Arm
aus und sprach: »Heil Karl!«
Dann lief er los.
*****
Auf einem alten Schild am Abzweig der Nationalstraße stand
»Karusnahakasvatus«, Pelztierzucht, und zur näheren Erklärung stand
darunter »Rebasefarm«, Fuchsfarm. Die Buchstaben waren
abgeblättert, sodass die Wörter kaum lesbar waren. Das war auch
nicht weiter schlimm, denn die Informationen auf dem Schild waren
schon lange überholt.
Der Abzweig lag gute drei Kilometer im Wald, der zum Nationalpark
Lahemaa gehörte. An dessen Rand in der Nähe der Ostseeküste stand
ein Bauernhof, der zu Sowjet-Zeiten eine staatliche Pelztierzucht
beherbergt hatte.
Am Abend des 20. August 1991, als Estland seine Unabhängigkeit und
das Ende der sowjetischen Herrschaft erklärte, hatte Siim Raudsepp,
der letzte Leiter der Fuchsfarm, alle Käfige geöffnet und die
Füchse in den Nationalpark laufen lassen. Er hatte vorgehabt, sich
nach dieser Maßnahme zu erhängen, das aber dann zu tun vergessen;
er trank noch eine Wodkaflasche leer und sah dabei zu, wie sein
Lebenswerk, eine strenge Zucht, in die Freiheit und in ein
ungezügeltes Sexualleben im dunklen Wald entschwand. Als er an
einem sonnenhellen Tag in einem freien Land erwachte, war er von
dem Gedanken abgekommen, sich das Leben zu nehmen. Also sammelte er
die Pelze, die noch da waren, ein, stapelte sie in den Transporter
der Farm und machte sich auf den Weg, auf dem freien Markt den
Höchstbietenden zu suchen.
Siim Raudsepp erhängte sich allerdings zwei Jahre später an einem
Ast in einem öffentlichen Park in Viljandi, sodass keiner behaupten
kann, er habe nicht zu seinen Vorsätzen gestanden. Denn er erlebte
schließlich, wie in den vormaligen Ostblockländern schnell die
westliche Vorstellung modern wurde, dass es unmenschlich sei, Tiere
zu einem anderen Zweck als zur Nahrungserzeugung zu züchten. Siim
Raudsepp war der Auffassung, es sei aus der Sicht der Tiere
einerlei, ob sie nach ihrem Tod eine Pelzmütze oder ein Steak
wurden. Diese Anschauung traf auf wenig Verständnis und so kam eins
zum anderen.
Nachdem der Kommunismus zusammenbrach und die Füchse die Freiheit
erhielten, schwirrten Pläne zwischen den Behören hin und her, das
Grundstück dem Lahemaa-Nationalpark anzugliedern, bis ein
attraktives Angebot einer Firma aus Luxemburg kam, die vorhatte,
die Gebäude als Untersuchungsanstalt für Bodenproben und zur
Düngemittelentwicklung zu verwenden. Nachdem geklärt worden war,
dass diese Firma sich nicht im Besitz von Russen befand, sondern
eine Aktiengesellschaft von estnischen und isländischen Beteiligten
war, wurde die Immobilie verkauft.
Zum Angebot gehörten ein einstöckiges Wohnhaus mit 14 Zimmern und
Dachgeschoss, ein großer Fuchsstall und ein ähnlich großes langes
Gebäude, das unter anderem die Pelzverarbeitung und den
Maschinenraum beherbergt hatte. Die Häuser bildeten drei Seiten
eines Vierecks und die offene Seite wies zum Meer. Die Küste war
gut einen Kilometer entfernt. Dort gab es eine kleine
Anlegestelle.
Wie im Kaufvertrag festgehalten, war der Fuchsstall zu einem
Chemielabor umgestaltet worden. Allerdings nicht für Boden- und
Düngemitteluntersuchungen, sondern zur Herstellung von Amphetamin.
Drei Produktionszeilen wurden rund um die Uhr betrieben, von denen
jede im Durchschnitt um die vierhundert bis vierhundertfünfzig
Gramm reinen Amphetamins hervorbrachte. Ein Produktionszyklus
dauerte zwei Tage und Nächte abgesehen vom Trocknen. Somit konnte
der gesamte Ertrag der Anlage bis zu vier Kilo in der Woche
betragen.
Der Endverkaufspreis von Amphetamin ist je nach Land verschieden.
In Island kostete ein Gramm unterschiedlich stark gestreckten
Stoffs etwa viertausend Kronen, sodass eine Wochenproduktion, wenn
sie auf die Straße gelangte, mindestens sechzehn Millionen wert war
und eine Jahresproduktion etwa achthundert Millionen. Daran
verdienten auch viele Mittelsmänner hervorragend, und es galt als
gutes Ergebnis, wenn die Hälfte dieses Betrags in den Taschen der
Hersteller landete.
Wegen der Saufgelage, die die Johannisnachtfeiern in Estland
normalerweise begleiteten, hatte die Chemikerin beschlossen, mit
der nächsten Inbetriebnahme der Produktionszeilen bis zum folgenden
Tag zu warten. Die letzte Stufe im Produktionszyklus war, den Stoff
aller drei Zeilen zu mischen, in einem Trockenschrank zu trocknen
und ihn kristallisieren zu lassen.
Am Trockenschrank saß diese Nacht Baldur Jónsson, ein Isländer, der
von Beginn an als eine Art Vertrauensmann des isländischen
Besitzers in der Produktion gearbeitet hatte. Baldur war früher
Seemann auf einem Trawler gewesen, er war verrückt nach Büchern und
nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um zu lesen. Er war
wählerisch, was seinen Lesestoff betraf, und interessierte sich
nicht für irgendwelchen Romanfirlefanz, sondern las nur Bücher über
tatsächliche Ereignisse und hatte am meisten Freude an den
Biographien vom Schicksal gebeutelter Prominenter. Seine
Lieblingsbücher waren >Hitlers letzte Tage< des britischen
Historikers Hugh Redwald Trevor-Roper und das Buch von Maurice
Lever über Donatien Alphonse François, besser bekannt als Marquis
de Sade.
In dieser Nacht hatte Baldur ein Buch über den Gründer der
Oakland-Abteilung der Hells Angels, Sonny Barger, gelesen, das von
Keith und Kent Zimmermann verfasst wurde und den Titel >Hell's
Angel< trug, Höllenengel, und er fand, dass es die Hetze und
Ungerechtigkeit, die ein freier Geist ertragen muss, treffend
beschrieb. Es war warm in der Nähe des Trockenschranks und sein
bester Freund lag zu seinen Füßen. Das war Vampír, der zur Rasse
der deutschen Schäferhunde gehörte. In der Luft lag der starke
Geruch von entflammbaren Stoffen, die bei der Trocknung von
Amphetamin freigesetzt werden. Vampír war an diesen Geruch gewöhnt,
seit er denken konnte, und mochte ihn. Normalerweise wurde er an
Trocknungstagen von einer angenehmen Trägheit befallen. Er döste
stets in der Nähe des Trockenschranks und seine Augenlider
zitterten jedes Mal, wenn sein Besitzer mit den Zähnen knirschte.
Das war Baldurs Tick, von dem manche sagten, er stamme vom zu
starken Konsum der produzierten Ware.
In der Wärme des Trockenschranks träumte Baldur davon, eine eigene
Firma zu gründen. Er kannte den gesamten Produktionszyklus in- und
auswendig und wusste haargenau, wie man am besten an die nötigen
Rohstoffe kam. Er wusste auch, dass es in den meisten
Ostblockstaaten ein Überangebot an Akademikern gab, sodass es kein
Problem sein dürfte, einen guten Chemiker ausfindig zu machen, der
für ein anständiges Gehalt in Dollar als Produktionsleiter
fungieren würde, statt für fünftausend estnische Kronen im Monat
dahinzuvegetieren.
Auch ein kleines Labor mit nur einer Produktionszeile, das nur etwa
ein Kilo pro Woche produzierte, könnte ihn in kurzer Zeit zum
Multimillionär machen. Zweiundfünfzig Kilo reinen Amphetamins eins
zu eins mit Traubenzucker gemischt, macht einhundertundvier Kilo im
Jahr zum Preis von, sagen wir, vier Millionen Kronen für das Kilo.
Das ergäbe vierhundert Millionen im Jahr, und das fünf Jahre lang.
Zwei Milliarden. Die Hälfte davon ginge für Rohstoffe drauf, für
Löhne, Bestechungen und overhead. Bliebe eine Milliarde übrig, die
spielend bis zu seinem Todestag für alle notwendigen Dinge in
seinem Leben reichen würde. Selbst wenn er hundert Jahre alt
würde.
Bei dem Gedanken an ein ruhiges Leben, bei dem es ihm an nichts
fehlen würde, knirschte Baldur so wahnsinnig mit den Zähnen, dass
Vampír die Augen öffnete und seinen Herrn anschaute, wie er sich
weißen Schaum aus den Mundwinkeln leckte. Von außen drang ein
Geräusch von etwas Zerbrechendem herein, so, wie wenn man auf einen
Zweig tritt. Vampír spitzte die Ohren und winselte leise. Manchmal
durfte er hinaus und frei im Wald umherlaufen. Am schönsten war es,
die Hirsche zu überraschen und hinter ihnen herzujagen.
»Ach, sei still, mein Freund«, sagte Baldur, der sich durch das
Winseln des Hundes nicht von seinen Berechnungen abhalten lassen
wollte.
Tatsächlich war es kein Reh, das auf den Zweig getreten war,
sondern Nordpol, der den Waldrand erreicht hatte und die Gebäude
mit seinem Nachtsichtfernglas be trachtete.
Es war Viertel vor drei.
*****
Víkingur war sehr unruhig geworden. Es war mittlerweile schon weit
nach Mitternacht und Þórhildur ließ sich nicht blicken. Was nur
eins bedeuten konnte. Ihr musste etwas zugestoßen sein.
Er hatte das Hotel kurz verlassen und seine Nase in ein paar
Restaurants und Bars gesteckt. Dabei war ihm bewusst geworden, wie
zwecklos es war, ziellos nach einer einzelnen Person im
pulsierenden Nachtleben Amsterdams zu suchen. Er eilte deswegen ins
Hotel zurück, setzte sich aufs Sofa in der Lobby und ließ sich
nicht davon beeindrucken, dass den Angestellten am Empfang seine
Anwesenheit offenbar unangenehm war.
Er spielte sogar kurzzeitig mit dem bizarren Gedanken, die Polizei
zu kontaktieren.
Wenn ein isländischer Polizist die Kollegen bäte, nach seiner Frau
zu fahnden, die seit wenigen Stunden abwesend war, würde man sich
davon lange erzählen.
Gleichermaßen versuchte er, den Gedanken zu verdrängen, dass
Þórhildur einen Unfall gehabt haben könnte. Sie trug ihren Ausweis
und den Namen des Hotels im Geldbeutel, also wäre er bestimmt
benachrichtigt worden, wenn sie bewusstlos in die Notaufnahme
gebracht worden wäre.
Die Untätigkeit war unerträglich.
Willem von der Rezeption fragte, ob er Víkingur irgendeine
Erfrischung, Kaffee, Tee oder Bier, bringen dürfe. Ja, danke, eine
Flasche Mineralwasser.
In dem Moment, als Willem ihm das Wasser brachte, fuhr ein Taxi
vor. Leider schien der Fahrer allein zu sein.
Er stieg aus und ging in Richtung Eingang, klein und
beleibt.
Der Taxifahrer öffnete die Tür des Hotels halb und streckte den
Kopf herein, entdeckte Willem und sagte etwas auf Holländisch.
Willem sah Víkingur an und antwortete dem Fahrer, der wieder zu
seinem Auto zurückkehrte.
»Was will der Fahrer?«, fragte Víkingur.
»Er hat einen Fahrgast auf dem Rücksitz, der behauptet, hier zu
wohnen, sich aber weigert, auszusteigen«, sagte der junge Mann.
»Könnte es vielleicht Ihre Frau sein?«
»Ist sie krank?« Víkingur wartete die Antwort nicht ab, sondern
lief los. Der Fahrer hatte die rückwärtige Autotür geöffnet und
betrachtete die Person, die auf dem Rücksitz auf dem Bauch lag.
Víkingurs Herz machte einen Sprung, als er sah, dass es Þórhildur
war.
»Was hat sie denn?«, fragte er den Fahrer auf Englisch.
»Ist sie krank?«
»Betrunken«, sagte der Fahrer. »Sturzbetrunken. Sie hat mein ganzes
Auto vollgekotzt.«
Das war nicht übertrieben. Der Geruch von Alkohol und Erbrochenem
erschlug Víkingur fast, als er sich ins Fahrzeug beugte und den Arm
seiner Frau umfasste, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
Ohne sich umzusehen, schlug sie mit der Hand nach hinten, als er
sie berührte.
»Fass mich nicht an«, rief sie mit rauer Stimme. »Siehst du nicht,
dass ich versuche, mich auszuruhen?«
»Liebling, Þórhildur, komm aus dem Auto«, sagte Víkingur. »Du bist
im Hotel angekommen.«
Sie wandte ihren Kopf und schaute ihn über die Schulter hinweg
an.
»Ach, du bist das, Schatz, was machst du hier?«, lallte
sie.
»Ich habe darauf gewartet, dass du wiederkommst.
Komm jetzt, Þórhildur, Liebling.«
»Ich hab dem Fahrer Bescheid gesagt. Jemand hat hier auf den Boden
von diesem verdammten Auto gekotzt.
Wie kann man seinen Kunden so etwas Ekliges anbieten?«
»Jedem kann einmal schlecht werden«, sagte Víkingur.
»Komm jetzt.«
»Ich komme nicht«, murmelte Þórhildur. »Wir reden morgen weiter.«
»Es ist schon Morgen. Komm jetzt.«
Víkingur fühlte sich, als stünde er neben sich und verfolgte ein
unwirkliches Ereignis, wie im Traum. Er hatte seine Frau nie in
diesem Zustand gesehen, zerzaust, die Augen stumpf und feucht, die
Stimme heiser und unfreundlich. Er hätte nie gedacht, dass
Þórhildur jemals wieder Alkohol anfassen könnte, und schon gar
nicht, dass sie sich um den Verstand trinken würde. Ihm schoss
durch den Sinn, dass er gehört hatte, dass Alkoholiker, die wieder
zu trinken anfingen, schnell wieder da landeten, wo sie waren,
bevor sie aufgehört hatten. Offensichtlich war Þórhildur schon
weiter abgerutscht, als er sich klargemacht hatte.
Sie standen an der hinteren Tür des Autos, Víkingur, Willem vom
Empfang und der Taxifahrer. Willem und der Taxifahrer schauten
abwechselnd Víkingur und Þórhildur an und warteten allem Anschein
nach darauf, dass er zur Tat schritt. Er, der ungewöhnliche
Situationen gewohnt war, wusste nicht, wie er sich verhalten
sollte.
Die Frau lag bäuchlings auf der Rückbank, brabbelte irgendeinen
zusammenhanglosen Unfug und weigerte sich hartnäckig, auszusteigen.
Víkingur war ratlos. Er fühlte seinen Puls rasen. Er hatte einen
Kloß im Hals und seine Gedanken waren ohne Zusammenhang. Vertrauen
und Sicherheit, in vielen Jahren entstanden, waren plötzlich wie
weggeweht und hinterließen Unsicherheit und Furcht.
Er steckte seinen Kopf wieder in das Auto.
»Komm jetzt, liebe Þórhildur. Bitte, Schatz. Wir stehen hier und
warten auf dich.«
Er streckte sich hinein, konnte ihre Hand ergreifen und zog sie zu
sich. Sie leistete keinen Widerstand, sodass er die Gelegenheit
nutzte, um sie mit einem Ruck zur Tür zu ziehen, dann beugte er
sich hinab und nahm sie, wie der Bräutigam seine Braut, auf den
Arm.
»Was ist los? Wieso trägst du mich?«, murmelte sie, nicht
unfreundlich. »Glaubst du, ich kann nicht selbst
laufen?«
»Doch, aber ich möchte dich dennoch stützen«, antwortete Víkingur
und wandte sich an Willem. »Reichen Sie mir bitte ihre Handtasche?
Ich werde sie hochbringen. Darf ich Sie bitten, das Taxi zu
bezahlen und die Summe auf meine Rechnung zu setzen?«
Willem reichte ihm die Tasche und sagte: »Er möchte
einhundertfünfzig Euro für die Reinigung des Wagens haben. Er sagt,
es wird schwer, den Geruch loszuwerden.«
»Würden Sie das mit ihm regeln?«
»Selbstverständlich.«
Víkingur stand der Sinn nicht nach Feilschen. Er machte sich mit
seiner Bürde auf den Weg zum Aufzug. Willem lief neben ihm her und
drückte auf den Liftknopf.
»Soll ich mit hochfahren, um zu öffnen?«
»Nein, danke. Das ist nicht nötig. Ich komme zurecht.«
Willem streckte sich in den Lift hinein und drückte auf den
Knopf.
»Gute Nacht«, sagte er, und die Tür schloss sich.
Was er auf dem Weg nach unten im Spiegel gesehen hatte, war ein
Fest im Vergleich zu dem Anblick, der sich ihm auf dem Weg nach
oben bot: ein Mann in mittleren Jahren, zerzaust und mit
sorgenvollem Blick, mit einer sturzbetrunkenen Frau in den
Armen.
Þórhildur ruhte kraftlos wie ein Waschlappen in seinen Armen. Sie
wiegt achtundfünfzig Kilo, dachte er und bemerkte, dass sie barfuß
war und ihre Füße schmutzig.
Er wusste nicht, ob sie schlief oder nur so tat.