Neun


Vampír hatte die Schnauze voll von der Untätigkeit. Jeder dahergelaufene Hund kann die Schritte eines Menschen und eines Rehs spielend unterscheiden.


Beim ersten Schritt winselte er. Beim nächsten heulte er laut. Sprang dann mit Bellen und Knurren auf. Dann warf Baldur ihm die Biographie des Höllenengels Sonny Barger an den Kopf und befahl ihm, still zu sein. Das Buch hatte keinen festen Einband und fügte ihm daher keine Schmerzen zu, aber Vampír verstand, dass Baldur entschlossen war, alle Warnungen zu ignorieren. Er beschloss deswegen, einen Trick anzuwenden, um seinem Herrn die Augen zu öffnen. Er ging zur Tür, die nach draußen führte, kratzte mit der Vorderpfote daran und winselte dabei leise und höflich.


»Immer diese Scheißrennerei«, murrte Baldur und öffnete dem Hund die Tür. Freilich war es ihm selbst mittlerweile ein Bedürfnis geworden, zu urinieren.


Vampír war der Auffassung, dass er keine Zeit verlieren dürfe, und sprintete sofort los. Er bog mit so hoher Geschwindigkeit um die Hausecke, dass er auf dem Schotter rutschte und schlidderte. Er entdeckte seine Beute, die vom Waldrand kommend langsam über das Gras in Richtung des Hauses lief, sofort.


Vampír hatte keineswegs vor, dem Mann auf kürzestem Weg in die Arme zu laufen. Dieser Schwarzkopf konnte sehr wohl bewaffnet sein und Vampír fand, es schadete nicht, einen winzigen Umweg zu machen.


Um seinen Weg zu verkürzen und Zickzack soweit es ging zu vermeiden, nahm Nordpol seinen Blick nicht vom Fenster an der Rückseite des Hauses. Trotz seines Rucksacks lief er mit leichten und federnden Schritten und dachte darüber nach, wie er seine Rechnung mit dem Idioten begleichen würde, der ununterbrochen Befehle erteilte und glaubte, er wäre eine Art Partisanenführer. Und doch war es mit seinen Führungsqualitäten nicht weit her, denn schließlich schien Karl nicht einmal bemerkt zu haben, dass Nordpol die schweren Armeestiefel in den Rucksack gesteckt hatte und wieder seine Turnschuhe trug. Vampír erhöhte sein Tempo, bevor er zu einem Sprung ansetzte, Nordpol in den Rücken fiel und umwarf. Nordpol, der nichts davon hatte kommen sehen, stürzte schwer und landete auf Kopf und Schulter. Ohne Skimütze hätte er wohl schwere Schrammen im Gesicht davongetragen, aber das Kleidungsstück schützte seinen Kopf. Allerdings drehte sich die Mütze beim Schleifen über den Boden, wodurch der Schlitz für die Augen sich in den Nacken verschob, sodass Nordpol nicht sofort begriff, was geschehen war. Eins war jedoch sicher. Er war angegriffen worden und die Skimütze nahm ihm die Sicht.


Er versuchte, die Mütze so zu drehen, dass er seinen Angreifer sehen konnte, und tastete mit der rechten Hand nach dem scharfen Jagdmesser, das er in einer Scheide an seinem Oberschenkel trug. Er bekam das Messer zu greifen und riss es blitzschnell heraus.


Die Klinge stieß in den Unterkiefer von Vampír, der sich bereitgemacht hatte, seine Beute zu erlegen. Er fand es ein wenig verwunderlich, nirgendwo in dem schwarzen Gesicht Augen zu sehen, und zuckte zusammen, als die spitze Klinge ihm die Unterlippe zerschnitt. Blitzartig war er wutentbrannt. Schloss die Zähne um das Handgelenk der Hand, die das Messer hielt, und brach deren Knochen, indem er einen plötzlichen Ruck mit dem Kopf machte.


Der schwarze Teufel stieß einen Schmerzensschrei aus, aber Vampír war nicht zu bremsen. Er hieb die Fangzähne in das schwarze Gesicht und riss dann mit ganzer Kraft daran. Er fühlte, wie die Haut nachgab und die Zähne auf angenehme Weise an den Gesichtsknochen entlangschliffen. Er setzte seine Vorderbeine auf die Brust des Mannes und ruckte mit ganzer Kraft mit den Zähnen. Die Skimütze, von der Vampír dachte, es sei der Skalp, löste sich in einem Stück von dem Mann.


In diesem Augenblick erklang ein scharfes Pfeifen.


Dann ein heiserer Ruf.


»Vampír! Vampír! Wo bist du, du Biest?«


Baldur kam um die Ecke des Laborgebäudes gelaufen.


Er erblickte Vampír und erriet sofort, dass der Hund fieberhaft dabei war, irgendein Lebewesen, das vom Gras verdeckt war, abzumurksen.


»Vampír! Komm her! Sofort!« Dem Befehl folgte ein scharfer Pfiff.


Vampír beschloss, seinem Herrchen einen Teil der Beute abzutreten, und rannte mit der Skimütze im Maul zu ihm.


Erst dachte Baldur, es sei ein toter Vogel. Als der Hund näher kam, sah er, dass der Köter irgendeinen Stofffetzen gefunden hatte.


Er streckte die Hand aus. »Aus! Vampír! Aus!«


Der Hund wollte spielen. Er gestattete seinem Herrchen, nach seinem Fang zu greifen, ruckte dann aber daran herum und zog ihn zu sich zurück.


Baldur hatte keine Lust auf das Spiel. »Loslassen, sage ich! Aus!« Um dem Befehl mehr Nachdruck zu verleihen, versetzte er dem Hund einen derben Schlag mit dem Schaft des Schrotgewehrs, das er in der Hand hielt.


Der Hund ließ den Stofffetzen los.


Baldur sah sofort, dass es sich um eine Skimütze handelte, aber sie enthielt irgendetwas Weiches und Glitschiges. Er nahm die Mütze beim Schopf und schüttete ihren Inhalt auf den Boden.


Ein blutiges menschliches Gesicht kam zum Vorschein, ohne Augen und lachend wie eine Theatermaske mit aufgerissenem Mund. Was zur Hölle hatte der Hund getan?


Er schaute sich um. Versuchte sich zu erinnern, aus welcher Richtung Vampír mit dieser Beute gekommen war. Hörte ein Summen in der Luft und dann einen Schmerzenslaut des Hundes, der begann, im Kreis zu laufen, wie ein Welpe, der versucht, seine eigene Rute zu fangen. Baldur versuchte, den Hund beim Halsband zu packen, um diesem irren Ringelpiez ein Ende zu machen, was ihm erst gelang, als Vampír langsamer wurde und das Winseln sich in ein Jaulen steigerte.


Der Hund jagte nicht seinen eigenen Schwanz, sondern versuchte, einen metallenen Spieß zu erreichen, der zwischen den hintersten Rippen aus seiner Seite ragte.


Baldur gelang es, den Hund hinzulegen, und er versuchte, den Stab zu ergreifen, der durch ihn hindurchgestoßen war. Es handelte sich um einen metallenen Pfeil.   

 


Die Spitze kam auf der einen Seite zum Fell heraus und auf der anderen sah man das hintere Ende. Ein schwarzer Bolzen. Kurz: Armbrust.


Baldur warf sich zu Boden. Auch wenn er sich an einem friedlichen und abgelegenen Ort befand, wusste er, dass man nie sicher sein konnte. Dennoch hätte er nicht gedacht, dass er sich je einem Angriff von Feinden ausgesetzt sehen würde, die mit Armbrüsten aus dem Hundertjährigen Krieg bewaffnet waren.


Das Jaulen des Hundes verstummte. Baldur sah ihn an.


Die Augen waren gebrochen. Kurz bewegte der Hund im Todeskampf noch die Vorderbeine, wie sonst, wenn er darum bettelte, dass ihm sein Herrchen die Tür öffnen möge.


Baldur versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er hatte im Laufe der Zeit einiges ausprobiert und war schon sehr oft in Kämpfe verwickelt worden. Knüppel und sogar Messer waren für ihn selbstverständliche Werkzeuge im Kampf des Lebens, genauso wie Fortbildungen und Prüfungsnoten für diejenigen, die die Lebensweise des Steuerzahlers wählten. Schusswaffen in der Unterwelt entsprachen Diplom oder Doktortitel in der geordneten Bürowelt.


Auch wenn Baldur so erfolgreich geworden war, dass Schusswaffen ein selbstverständlicher Bestandteil seines Arbeitsumfeldes waren, war ihm nie in den Sinn gekommen, dass der Tag kommen könnte, an dem er selbst zur Zielscheibe werden würde. Er war ein Kind des Kalten Krieges und glaubte fest und unverbrüchlich daran, dass genügend gute Waffen der beste Schutz gegen Gewalt und Blutvergießen seien. Er hatte ehrlich gesagt den Gedanken nie zu Ende gedacht, dass er eine Waffe zu etwas anderem einsetzen könnte, als andere Menschen damit zu bedrohen.


In Wirklichkeit hielt Baldur nicht viel von Gewalt, außer natürlich in guten Kinofilmen. Er wandte Gewalt nie zu seinem Vergnügen an, sondern nur fachlich gut ausgeführt im geschäftlichen Zusammenhang. Er hatte früh gelernt, dass Vorsicht unerlässlich ist. Die Grundregel ist, nicht zu zögern, Gewalt einzusetzen, wenn es nötig ist, immer den ersten Schlag auszuführen und mit mehr Erbarmungslosigkeit als der Gegner zu agieren.


Angriff ist einfach viel besser als Verteidigung.


Baldur war nicht unbedingt in einer Angriffssituation.


Irgendwo im Gras verbarg sich ein Feind, der seinen besten Freund getötet hatte. Mit einer Armbrust.


Statt näher zu betrachten, wer dieser Feind war und mit welchem Anliegen er kam, blieb Baldur beim Wort »Armbrust« hängen. Eine seltsame Waffenwahl. Möglicherweise ein Wilddieb. Der einzige Vorteil, den eine Armbrust bietet, ist, dass Polizisten oder Zöllner, die schier durchdrehen, wenn sie irgendwo eine Pistole entdecken, Armbrustschießen wahrscheinlich nur für eine seltene und interessante Sportart halten. Der Grund dafür, dass nicht jeder mit einer Armbrust bewaffnet herumläuft, ist der, dass das Ding einfach viel zu schwer zu handhaben ist. Lauter als eine Pistole mit einem guten Schalldämpfer, und dann braucht man eine halbe Ewigkeit, um den Bogen für jeden einzelnen Schuss zu spannen.


Deswegen lässt sich der Feind nichts anmerken! Er kann den Bogen nicht spannen, ohne sich zu verraten.              


Wenn er sich bewegt, sehe ich ihn, dachte Baldur.


Ihm wurde plötzlich klar, dass er Oberwasser hatte.


Dass er im Angriff war, nicht in der Verteidigung.


Als er aufstand, um sich nach dem Armbrustschützen umzusehen, ertönte ein Schuss. De facto zwei Schüsse, die fast wie einer klangen, weil Karl und Ulrich nahezu gleichzeitig abdrückten. Die erste Kugel durchschlug Baldurs Hosenbein und er hätte ihre Hitze gespürt, wäre nicht Kugel Nummer zwei in seinem Rücken zwischen den Schultern gelandet, um ihm das Rückenmark zu durchtrennen, die Richtung zu wechseln, in die Bauchhöhle katapultiert zu werden und in der Hüfte zum Halten zu kommen.


Baldur war tot, noch ehe sein Körper auf dem Boden landete, neben Vampír, seinem Freund, der ihm vorausgegangen war.


Kaum war Baldur niedergesunken, sahen Karl und Ulrich, wie sich ein blutiger Schädel grob geschätzt zwanzig Meter von den gefallenen Kameraden aus dem Gras erhob und sogleich wieder verschwand.


*****


Ulrich kam Nordpol zu Hilfe, stützte ihn auf dem Weg in das Wohnhaus und suchte ohne Erfolg nach einem Verbandskasten.


Karl hob Nordpols Gesicht vom Boden auf, nahm es mit hinein und brachte es im Kühlschrank in der Küche unter. Ulrich war fast fertig damit, die Leiche Baldurs zum Laborgebäude zu ziehen. Er lehnte Hilfe ab, sodass Karl sich rasch um den Hund kümmerte.


Nordpol hatte sich von dem Sofa gewälzt, wohin Ulrich ihn gebettet hatte, war auf allen vieren ins Bad gekrochen und dann aufgestanden, indem er sich am Waschbecken hochgezogen hatte. Seine Verletzung war viel schlimmer, als er sich in Gedanken ausgemalt hatte.


Der Hund hatte ihm das Gesicht weggerissen. Die gesamte Haut und alles Fleisch von der Mitte der Stirn bis zur Unterlippe waren verschwunden. Keine Augenlider.


Keine Nase. Keine Oberlippe.


Karl kam zu ihm, wie er da stand und den Horror im Spiegel betrachtete.


»Dein Gesicht ist im Kühlschrank«, sagte Karl.


*****


Es war bereits 06:51 Uhr, als Andrus und Frau Nuul vorfuhren. Alles war gut vorbereitet worden und es dauerte nur einen Augenblick, sie zu töten und die Leichen ins Laborgebäude zu ziehen.


Karl goss Flüssigkeit aus einem Benzinkanister über die Leichen und ging dann rückwärts bis zur Tür, wobei er eine Spritspur hinterließ. Außerhalb der Labortür stand Ulrich. Er wollte die Kalaschnikow mit dem Granatwerfer ausprobieren.


»Überflüssig«, sagte Karl. »Ich will einfach nur sehen, wie das funktioniert«, sagte Ulrich.


»Ich werde es dir nachher zeigen«, sagte Karl. »Erst müssen wir einige der Treibstofffässer ausschütten.«


Als das Labor lichterloh brannte, liefen sie in den Wohntrakt. Nordpol lag in der Tür des Badezimmers.


In einer Schüssel, die er vor sich hatte, war der Rest von seinem Gesicht.


»
Shit«, sagte Ulrich.


Nordpol hörte das wie aus weiter Ferne. Er sah nichts mehr mit seinen ausgetrockneten und blutigen Augen, er murmelte und fuchtelte mit den Händen, als ob er nähen würde.


»Mit Nadel und Zwirn? Du machst wohl Scherze«, sagte Karl und löste den Schuss aus.


Die Energie der Explosion war so groß, dass Karl und Ulrich an die Haustür geworfen wurden.


»So funktioniert sie«, sagte Karl, als er wieder Fuß gefasst und das Gewehr mit dem Granatwerfer vom Boden aufgehoben hatte. »Das kann richtig gefährlich sein.«


Von Nordpol war nichts mehr übrig außer dem Gesicht, das aus der Schüssel gefegt worden war und nun an den scharfen Glasscherben eines Bilderrahmens an der Wand hing. Im Hintergrund konnte man einen Engel sehen, der zwei jungen Kindern in einem Unwetter über eine Brücke half.


Sie ließen die Gewehre zurück, ebenso die Armbrüste.


Ulrich saß am Steuer und fuhr ziemlich schnell, bis sie zur Nationalstraße hinaus kamen. Danach hielt er sich an die erlaubte Geschwindigkeit. Die Tankanzeige zeigte einen fast vollen Tank an. Bei der nächsten Gelegenheit hielten sie an und warfen die Overalls und die Armeestiefel in einen Mülleimer. Dann nahmen sie ihre Fahrt Richtung Tallinn wieder auf.


Am Rand der Stadt hielten sie, parkten das Auto an einem abgelegenen Ort und zündeten es an. Gingen dann jeder in seine Richtung. Karl nahm ein Taxi zum Flughafen. Ulrich ging zu Fuß zur Anlegestelle der Fähre am Hafen.


*****


Als Andrus und Frau Nuul beim Labor gehalten hatten, war Vello im Kofferraum kurz davor, höflich zu klopfen, um sich in Erinnerung zu rufen. Als er die ersten Schüsse hörte, beschloss er, noch damit zu warten, bis es günstiger wäre.


Im Kofferraum war es ausgesprochen heiß und trotz des starken Schmerzes in seinem Fingerstumpf schlief Vello ein. Sorgen hatten ihn noch nie wachhalten können.


*****


Engel sind viel mächtiger als Menschen. Sie kommen im Christentum vor, im Islam, Judentum, Zoroastrismus und anderen Religionen.


Viele Leute glauben, dass Menschen nach dem Tod zu Engeln werden und dass ihre wichtigste Beschäftigung sei, sich auf Wolken treiben zu lassen und Harfe zu spielen.


Das ist ein großes Missverständnis.


Engel sind damit beschäftigt, dringende Aufgaben zu lösen.


Gleichfalls glauben viele, dass Engel Flügel haben. Weit gefehlt. Die überwältigende Mehrheit der Engel bewegt sich ohne Flügel fort, ohne von den Menschen hier auf der Erde gesehen zu werden.


Über die gesamte Anzahl der Engel weiß man nicht genau Bescheid ­ außer dass im Koran (74.30) verkündet wird, dass die Engel der Hölle neunzehn an der Zahl seien.


Engel sind der Sicherheitsdienst, die Waffen-SS, der höchsten Instanz.