Anwohner der Straße hatten bemerkt, dass ein lachsrosa
Hummer-Geländewagen vor der Einfahrt zur Garage beim recht neuen
Haus des Bürgermeisters, auf dem begehrten Eckgrundstück Nummer 1,
geparkt worden war.
Der Hummer war säuberlich mit dem Schriftzug des Octopussy versehen
und seine kantigen Formen wurden durch die weichen Linien eines
Frauenkörpers abgemildert, die auf die Seiten und die Motorhaube
des Fahrzeugs gemalt worden waren mitsamt dem Logo der Gaststätte
und dem Werbespruch: »Octopussy Nightclub for
Executives«.
Die Hausfrau Gróa Jónsdóttir, die in Nummer 3 wohnte und dem
Bürgermeister immer noch nicht verziehen hatte, dass er sich selbst
das Eckgrundstück zugeteilt hatte, bemerkte sofort, dass die
Platzierung des Autos interessante Möglichkeiten bot.
Sie rief das Wochenendmagazin >Menschen und Meldungen< an und
ließ sich mit dem Redakteur Teitur Jónsson verbinden.
Gróa stellte sich als Nachbarin des Bürgermeisters vor und erklärte
Jónsson, sie habe die Berichterstattung des Magazins über die
auffällige Verbindung des Bürgermeisters zum Pornoschuppen
Octopussy gelesen.
»Ich finde das gut von euch«, sagte Gróa. »Die Medien sollten ruhig
öfter ein wachsames Auge auf solche Männer werfen.« Redakteur
Teitur war es nicht gewohnt, dass die Leser des Blattes anriefen,
um ihn für Großtaten in Sachen Journalismus zu loben. Üblich war
eher, dass er an den Hauswänden entlangschlich, um nicht auf
empörte und wütende Bürgern zu treffen, die behaupteten,
Enthüllungsjournalisten seiner Sorte seien eine Beleidigung des
allgemeinen Taktgefühls.
»Neben meinem Dank für die gute und verantwortungsvolle
Berichterstattung über unseren Bürgermeister«, sagte Gróa, »möchte
ich fragen, ob ihr Interesse hättet, einen Fotografen
hierherzuschicken, um festzuhalten, wie unverschämt der Mann ist.
Er stellt seine Verbindung mit dem Pornoschuppen am helllichten Tag
zur Schau.«
Als Gróa ihre Beschreibung des Fotomotivs abgeschlossen hatte,
dankte Teitur ihr für die Informationen und machte sich auf den
Weg. Eine solche Gelegenheit wollte er nicht verpassen. Der
Bürgermeister hatte kürzlich gedroht, >Menschen und
Meldungen<, also Teitur als verantwortlichen Chefredakteur,
wegen haltloser Hetze auf Schadensersatz zu verklagen. Teitur hatte
nämlich ein Foto des Bürgermeisters veröffentlicht, auf dem dieser
zwei Stripperinnen an der Bar des Octopussy im Arm hielt und
gelinde gesagt trübe Augen hatte. Leider wusste Teitur nicht, wer
das Foto gemacht hatte. Es war der Redaktion anonym zugeschickt
worden und die Auflösung ließ vermuten, dass es mit einer
Handykamera gemacht worden war. Der Bürgermeister behauptete, das
Foto sei gefälscht, er wäre noch nie im Octopussy gewesen und schon
gar nicht hätte er die Stripperinnen des Lokals berührt, von denen
er sagte, dass sie ihm mithilfe der Software Photoshop in die Arme
gelegt worden seien. »Ich bin in einer Viertelstunde da«, sagte
Teitur Jónsson zu Gróa und fügte hinzu: »Danke, dass du mir
Bescheid gesagt hast«, obwohl Dankbarkeit nicht seine stärkste
Seite war.
*****
Zwischen dem Ende des Telefongesprächs und der Ankunft von Teitur
Jónsson mitsamt der Fotografin des Magazins, die vor Entsetzen über
den Kamikaze-Fahrstil des Redakteurs leichenblass war und aus dem
Auto flüchtete, sobald es stehen blieb, waren nur zwölf Minuten
vergangen.
»Fotografier, Junge, fotografier«, sagte Teitur und vergaß, dass
der Fotograf eine Frau war. »Wir dürfen das nicht
verpassen.«
»Ganz ruhig«, sagte die Fotografin. »Das Auto bewegt sich überhaupt
nicht. Der Motor läuft nicht mal.«
Die Bemerkung war korrekt. Der Motor lief nicht.
Was die Hektik des Redakteurs ausgelöst hatte, war, dass man durch
die getönten Scheiben jemanden am Steuer erkennen konnte. Dieser
Fahrer schien auf irgendetwas zu warten. Er saß reglos und blickte
nicht einmal in Richtung der Fotografin, die sich näherte und
ununterbrochen auf den Auslöser drückte.
Teitur hielt sich in einiger Entfernung, erinnerte sich daran, dass
Elli vom Octopussy ihm gedroht und geraten hatte, ihm niemals unter
die Augen zu kommen, sofern ihm seine Gesundheit lieb sei. Er
wollte gern wissen, wer im Auto saß. Wenn es irgendein
Chauffeurstyp war, wies das darauf hin, dass Elli drin beim
Bürgermeister wäre, was wiederum die Möglichkeit eröffnete, ein
Foto von beiden zusammen an der Haustür zu bekommen. Die Fotografin
war wagemutiger als Teitur und näherte sich dem Auto, wie es
schien, furchtlos. Teitur war zufrieden mit diesem Mädchen, das
eines Tages mit der Kamera in der Redaktion erschienen war, um ihm
mitzuteilen, dass sie sich gerade selbst als Praktikantin bei
>Menschen und Meldungen< eingestellt habe. Sie machte zwar
keine guten Bilder, aber sie war beherzt und hatte vor niemandem
Respekt. Er wusste gerade nicht, wie sie hieß, meinte sich aber zu
erinnern, dass sie Systa genannt wurde.
Die Fotografin Súsanna, genannt Sússa, war ganz sicher, dass mit
dem im Hummer sitzenden Mann, der sich nicht im Geringsten bewegte,
etwas nicht stimmte. Er blickte nicht einmal in ihre Richtung, als
sie sich schräg vor dem Auto aufstellte und mit Blitzlicht
fotografierte. Sie beschloss, ihn näher anzusehen. Die seitlichen
Scheiben waren rauchfarben getönt, aber die Windschutzscheibe war
klar. Sie betrachtete den Fahrer, der ein bisschen zusammengesunken
dasaß und auf die Straße vor dem Auto zu schauen schien. Zu ihrer
Verwunderung sah sie, dass es eine Frau war. Sie saß still wie eine
Statue. Plötzlich wurde Sússa bewusst, dass die Ruhe der Frau
unnatürlich war.
Sie schien weder zu atmen noch zu blinzeln.
Sússa klopfte an die Scheibe. Die Frau rührte sich
nicht.
Sússa wollte die Tür öffnen, aber sie war verschlossen. Sie rief
nach Teitur.
»Komm her, komm mal. Irgendetwas stimmt nicht mit der
Frau.«
Teitur gehorchte und näherte sich vorsichtig, war aber bereit,
sofort die Flucht zu ergreifen, sollte der Fahrer sich anschicken,
ein Lebenszeichen von sich zu geben und sie anzugreifen.
»Das ist ja eine Frau«, sagte er erstaunt.
»Ihre Augen sind geöffnet«, meinte Sússa. »Halb geöffnet«,
korrigierte Teitur sie. »Kann es sein, dass sie total stoned ist?
Hast du ein gutes Bild von ihr bekommen?«
»Sie ist so still, als wäre sie ausgestopft«, sagte
Sússa.
»Atmet sie überhaupt? Kann sie einen Herzinfarkt bekommen
haben?«
Um besser ins Auto sehen zu können, drückte Sússa die Stirn an die
Windschutzscheibe und schirmte ihre Augen mit beiden Händen
ab.
»Was siehst du?«, fragte Teitur. »Bewegt sie sich
nicht?«
»Ich habe zwar noch nie eine Leiche gesehen«, sagte Sússa, »aber
dieser Mensch lebt nicht mehr.«
»Wie kannst du dir da sicher sein?«, fragte Teitur, der sein Glück
nicht fassen konnte, als Enthüllungsjournalist in aller
Öffentlichkeit eine Leiche zu finden.
»Es ist Blut an ihrer Stirn und außerdem ragt ein Spieß aus ihrer
Brust.«
»Lass mich sehen«, sagte Teitur und schob das Mädchen zur
Seite.
Ihre Beschreibung war nicht ganz exakt. Auf der Stirn der Frau war
Folgendes zu sehen: Die Runen waren mit Blut
geschrieben.
Der Mörder hatte seinen Finger in die blutige Wunde gehalten, dort, wo ein runder Stab etwa 10 Zentimeter aus der Haut ragte, an der Stelle, wo Hals und Schlüsselbein sich treffen, auf der linken Seite, und der dann am Hals entlanglief und unter ihrem Kiefer wieder verschwand.
Das war die Erklärung dafür, dass die Leiche den Kopf aufrecht
gehalten hatte. »Wer könnte das sein?«, fragte Sússa. »Die Mädchen
vom Octopussy sind nicht so alt.«
»Diese Frau heißt Auður Sörensen«, sagte Teitur. »Anwältin am
Obersten Gericht. Keine Revuetänzerin.«
*****
»Sie war heute Mittag quicklebendig«, sagte Terje. »Dagný,
erinnerst du dich? Wir haben mit ihr gesprochen?«
Dagný schaute ihn an, ohne zu antworten. Sie waren eingeteilt
worden, die Umgebung des Hummers mit gelbem Plastikband
abzusperren. Terje war offenbar darüber entsetzt, einen Menschen
tot zu sehen, mit dem er sich am selben Tag noch unterhalten hatte.
Sie war erfreut, dass ihr Kollege kurzzeitig die Rolle des coolen
Typen abgelegt hatte.
»Was ist hier eigentlich los?«, sagte er. »Wenn wir nur einen
Funken Verstand gehabt hätten, wäre sie noch am Leben.«
»Was maulst du jetzt schon wieder?«, fragte Dagný.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich weiß nur, dass ich in der
nächsten Zeit keine weiteren Leichen sehen möchte. Ich begreife
jetzt erst, dass wir uns beeilen müssen, weil es um Leben und Tod
geht. Ich dachte, es sei vorbei. Ich dachte, das im Sommerhaus sei
eine Art Endabrechnung und wir könnten in aller Ruhe versuchen, die
Spuren zu verfolgen. Aber so ist es nicht. Während wir auf
Besprechungen herumhocken und über Nazikritzeleien und
Wappensymbole labern, vergnügt sich der, den wir längst hätten
einsperren müssen, damit, weitere Menschen umzubringen.«
»Was hast du erwartet?«, fragte sie.
»Wir müssen etwas tun«, sagte Terje. »Wir kommen überhaupt nicht
voran. Der arme Randver hat keinen Plan und Víkingur verhält sich,
als sei ihm ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen. Wir drehen uns
nur im Kreis. Die Einzigen, die uns helfen, sind irgendwelche
Loser, die noch verwirrter sind als wir.«
»Das muss wohl jeder selbst beurteilen«, sagte Dagný.
»Siehst du denn nicht, wie hoffnungslos und daneben das alles ist?
Die gesamte Kripo und die technische Abteilung steht hier draußen
auf der Straße und wartet darauf, dass die verdammten Autoschlüssel
auftauchen, damit man an die Frau herankommt, die ermordet worden
ist, während die versammelte Polizeimannschaft am Tisch saß und
Kaffee getrunken hat.«
»Was hättest du tun wollen?«
»Das weiß ich nicht. Jedenfalls hätte ich längst das Auto öffnen
können, ohne darauf zu warten, dass irgendwelche Schlüssel gefunden
werden.«
»Und hättest dabei mögliche Spuren verwischt?«
»Welche Spuren sollen denn an der Autotür sein? Ein ganzes
Sommerhaus ist durchkämmt worden, ohne auch nur einen einzigen
Fingerabdruck zu finden.«
»Jetzt mach dich mal locker, mein Guter. Ich kann dir versprechen,
dass Randver weiß, was er tut.«
»Seit wann versteht Randver etwas von dem, was er tut? Ich habe
schon anderes von dir gehört.«
»Er hat vielleicht nicht das Pulver erfunden, aber er hat mehr
Erfahrung als wir beide zusammen, und dann ist ja auch noch
Víkingur da.«
»Erfahrung mit was denn?«, fragte Terje. »Erfahrung darin,
irgendwelche Trottel zu verhaften, die besoffen oder zugedopt
irgendwelche Gewalttaten verübt haben?
Das hier ist ganz anders. Wir haben keinerlei Erfahrung darin, mit
echten Verbrechen umzugehen.« »Was für ein Blödsinn, Mann«, sagte
Dagný. »Seit wann zählt ein Mord nicht mehr zu den echten
Verbrechen?
Drei Morde gestern und dann bekommen wir das hier anstelle eines
Abendessens.«
*****
Es war Elías junior, der in einem schwarzen Range Rover vorfuhr, um
die Schlüssel abzuliefern.
»Was ist hier eigentlich los?«, fragte er, als er die Gruppe
Polizisten erblickte.
»Weißt du, was so ein Range Rover kostet?«, fragte Terje Dagný im
Flüsterton. »Mindestens fünfzehn Millionen.«
»Was ist hier eigentlich los?«, wiederholte der Octopussy-Erbe und
zeigte auf das Absperrband. Er war offenbar überrascht, die Menge
Polizisten rund um den Hummer der Firma versammelt zu sehen. »Aber
ich muss sagen, das habt ihr gut gemacht, das Auto zu finden, bevor
ich mitgekriegt habe, dass es gestohlen worden ist. Ich dachte, es
wäre vermietet oder so.«
»Hast du die Schlüssel?«, fragte Guðrún Sólveig und streckte die
Hand aus.
»Wer bist du?«, fragte der Junior.
»Ich heiße Guðrún und bin von der kriminaltechnischen Abteilung.
Wir müssen das Auto öffnen, ohne das Schloss
aufzubrechen.«
Ganz langsam dämmerte dem Junior, dass ein normaler Autodiebstahl
in den seltensten Fällen ein solches Polizeiaufkommen bedingte. Die
Autoschlüssel wollte er jedoch nicht abgeben, ohne dass ihm ein
Durchsuchungsbefehl für das Fahrzeug vorgewiesen würde.
»Was ist hier los?«, wiederholte er und glotzte mit seinen listigen
Schweinsäuglein in Richtung Auto. »Hat der Dieb sich eingeschlossen
und weigert sich, herauszukommen?«
Guðrún Sólveig riss ihm die Schlüssel aus der Hand.
Der Junior stand mit entrüstetem Gesichtsausdruck da und rief ihr
nach: »Was für fucking Faxen sind das denn?«
Es dauerte eine Weile, dem jungen Mann verständlich zu machen, dass
sich die Untersuchung um etwas anderes und mehr drehte als einen
normalen Autodiebstahl.
Sein Misstrauen der Polizei gegenüber war so groß, dass er sich
weigerte, zu glauben, was man ihm sagte, bis Randver ihn unterhakte
und zum Hummer führte. Die Türen standen mittlerweile offen und die
Frau auf dem Vordersitz saß genauso reglos wie zuvor da, trotz der
Menschenmenge, die sich um das Auto herum bewegte.
Als er die Leiche identifiziert hatte, war der Junior wie
ausgewechselt und ausgesprochen kooperativ. Er gab zu Protokoll,
mit Auður bis kurz vor halb fünf im Büro des Octopussy gewesen zu
sein. Dann wäre sie davongeeilt, hätte sich mit jemandem um fünf in
Reykjavík treffen wollen. Der Junior sagte, dass seine Mutter
Bjarnveig und auch der Buchhalter des Unternehmens diese Aussagen
bestätigen könnten.
Er gab an, keine Ahnung vom Verschwinden des Hummers gehabt zu
haben. Normalerweise stünde er tagsüber zu Werbezwecken vor dem
Lokal. Es käme auch vor, dass Leute den Wagen für Feierlichkeiten
mieteten. »Und viele schnallen auch, dass es verdammt cool ist, in
einer Hummer-Limousine herumzufahren, und sind dann auch bereit,
etwas dafür springen zu lassen. Ich kümmere mich nicht um die
Vermietung des Fahrzeugs und bin deswegen aus allen Wolken
gefallen, als die Polizei anrief und die Schlüssel haben wollte.
Das sind die Ersatzschlüssel.
Die anderen Schlüssel werden normalerweise im Büro verwahrt oder
halt im Handschuhfach des Autos.«
Der Junior hielt es für ausgeschlossen, dass Auður das Auto
geliehen habe. »Ihre Toyota-Schrottkarre steht vor unserer Tür. Das
habe ich bemerkt, als ich hierherfuhr.
Kann gut sein, dass ihr Auto nicht ansprang, aber Auður hätte
niemals von sich aus den Hummer genommen.
Sie wollte sich heute Morgen mit Mama und mir schon kaum
hineinsetzen und sagte, sie hätte kein Interesse daran,
Aufmerksamkeit zu erregen. Menschen sind so verschieden«, fügte der
Junior philosophisch hinzu. »Aber warum ist das Auto hier vor dem
Haus des Bürgermeisters stehen gelassen worden?«
»Es hat vielleicht von selbst hierhergefunden«, sagte
Randver.
*****
Víkingur erwartete Þórhildurs Ankunft jederzeit. Sie war
entsprechend der Gepflogenheit, dass ein Gerichtsmediziner
angefordert wird, sobald die Untersuchung eines Todesfalls beginnt,
zum Tatort gerufen worden. Randver hatte seinen Vorgesetzten ins
Schlepptau genommen, um die ärmlichen Erklärungen des Juniors über
die Bewegungen des Hummers anzuhören. Víkingur nahm wahr, dass zwar
Sveinn eingetroffen, von Þórhildur aber nichts zu sehen
war.
Der Junior hatte es inzwischen satt, immer wieder dieselben Fragen
zu beantworten, und begann stattdessen, die Polizei zu löchern,
welche Vorkehrungen sie zu treffen gedächte, um ihn und seine
Mutter zu schützen.
»Mein Vater wird entführt, ohne dass die Polizei etwas davon weiß.
Dann wird er ermordet aufgefunden und ihr wisst nicht, wer es getan
hat. Und jetzt steht ihr hier wie die Hampelmänner mitten auf der
Straße und faselt von irgendwelchen Autoschlüsseln, während meine
Anwältin am helllichten Tag ermordet worden ist. Seid ihr etwa so
dämlich, dass ihr nicht begreift, dass Auður versehentlich
umgebracht worden ist? Dass es einem anderen galt?«
»Und zwar wem?«, fragte Randver.
»Mir natürlich. Ist das nicht halbwegs sonnenklar?«
Der Junior schaute mit abgrundtiefer Verachtung um sich.
»Willst du damit sagen, dass derjenige, der ... der das getan hat,
sich bei seinem Opfer geirrt hat und gedacht hat, sie wäre du?«,
fragte Dagný.
Der Junior bekam zu viel und verdrehte die Augen.
»Glaubst du, ich bin ein Idiot? So eine Art Verwechslung meine ich
nicht. Jemand hat versucht, mich zu bekommen, aber sie stattdessen
genommen.«
»Wer trachtet dir nach dem Leben?«, fragte Randver.
»Und warum?«
»Wie zur Hölle soll ich das wissen?«, entgegnete der Junior wütend.
»Haben wir nicht die Polizei, um das herauszufinden?«
Randver versuchte, dem jungen Mann klarzumachen, dass es zu seinem
Vorteil sei, die Polizei über mögliche Gründe aufzuklären, weshalb
jemand eine offene Rechnung mit seinem Vater und mit ihm haben
könne. Der Junior hatte nicht die Geduld, sich diese Belehrung
anzuhören, schließlich brauchte er keine Polizei, um den Mörder
seines Vaters zu finden. »Kümmert ihr euch einfach um eure
Angelegenheiten«, sagte er. »Ich kümmere mich um meine.« »Was
meinst du denn damit?«, fragte Randver. »Meinst du etwa, die
Polizei sollte sich nicht um Morde kümmern, sondern es den
Hinterbliebenen überlassen, sie zu rächen?«
Víkingur begriff, dass es wenig Aussicht gab, von diesem gereizten
jungen Mann eine nützliche Aussage zu bekommen. Er sah, dass Sveinn
Dagný etwas erklärte und auf die Leiche auf dem Vordersitz zeigte.
Er ging zu ihnen.
»Grüß dich«, sagte er und schüttelte Sveinn die Hand.
»Weißt du vielleicht, wann Þórhildur eintreffen wird?«
Sveinn verneinte.
»Sie hat ihr Mobiltelefon ausgeschaltet«, sagte er. »Und dann bin
ich in Windeseile hierhergefahren.«
Víkingur spürte, wie sich urplötzlich ein schlimmer Verdacht in ihm
breitmachte. Sollten die Versprechen von heute Morgen wirklich so
schnell vergessen worden sein?
»Habt ihr heute nicht zusammen gearbeitet?«
»Doch, doch, den ganzen Tag. Es war kein Zuckerschlecken. Wir haben
drei Obduktionen fertig gemacht und dann habe ich allein noch eine
weitere gemacht, nachdem Þórhildur gegangen war.«
»Wann ging sie denn?«
»Das wird sicher schon so gegen fünf Uhr gewesen sein.«
»Hat sie nichts gesagt?«
»Na ja, das war ja das Seltsame. Wir wollten noch einen weiteren
Leichnam machen. Ein Selbstmord, der eigentlich vor diesen Leichen
aus dem Sommerhaus reingekommen ist. Es war ein junger Mann und es
wirkte, als ob Þórhildur ihn irgendwie kannte. Jedenfalls ist sie
so erschrocken, dass sie ging, ohne etwas zu sagen. Es kann sehr
unangenehm sein, auf jemanden zu treffen, den man
kennt.«
»Kannst du den Toten beschreiben?«
»Ja, das kann ich.« Sveinn schloss die Augen, als sähe er einen
Film der Autopsie auf der Innenseite seiner Augenlider:
»Dunkelhaarig, Augenfarbe grün, Größe 183 Zentimeter, Gewicht 72
Kilo. Selbstmord, ungewöhnliche Erhängung erhängte sich an der
Türklinke , Verletzung an der Augenbraue, könnte gestürzt sein.
Hoher Alkoholspiegel.«
»Woran hast du erkannt, dass Þórhildur die Leiche identifiziert
hat?«
»Ich habe natürlich nicht geschnüffelt, aber ich habe gesehen, dass
sie Tränen in den Augen hatte. Sie begann eigentlich direkt zu
weinen und dann rannte sie raus.«
Das klang sehr seltsam. Die Polizei war gebeten worden, sich nach
Magnús umzusehen. Ein Foto von ihm hing im Aufenthaltsraum der
Polizisten mitsamt der Bitte, Víkingur zu benachrichtigen, wenn ihn
jemand sähe. Konnte es sein, dass dieser Zettel an allen im System
vorbeigegangen war und die Leiche von Magnús gefunden und ins
Leichenschauhaus gebracht worden war, ohne dass Víkingur Bescheid
gesagt wurde?
»Ich wette, derjenige, der das da gemacht hat, ist derselbe, der
Elli im Sommerhaus erledigt hat«, sagte Sveinn und zeigte auf die
Tote, die im Auto am Steuer saß.
»Warum bist du dir da so sicher?«, fragte Víkingur.
»Es ist die Pfählung. Aber diesmal wurde sie eingesetzt, um zu
töten, nicht um zu foltern. Schau hier, das Ende kommt am linken
Schlüsselbein heraus. Das bedeutet, dass der Stab nach links
gelenkt wurde, zum Herzen, verstehst du. Mir scheint, das ist das
Ende eines Billardqueues, was da am Hals entlangläuft.« »Und der
Junge, von dem du mir erzählt hast, ist der auch gepfählt
worden?«
»Nein, keineswegs. Das war nur Selbstmord. Erhängung. Sicherlich
sehr gemütlich verglichen mit dem hier.«
Þórhildurs Telefon war immer noch ausgeschaltet. Víkingur graute
vor seiner Ankunft zu Hause. Um ganz sicher zu sein, beschloss er
jedoch, zuerst zum Leichenschauhaus zu fahren.
»Bist du hier fertig?«, fragte er Sveinn. »Ich meine, können wir
die Leiche abtransportieren lassen?«
»Ja, ich bin fertig«, sagte Sveinn. »Sie kann meinetwegen
weg.«
»Kannst du etwas dazu sagen, wie lange es her ist, dass sie
gestorben ist?«
»Ich kann dazu natürlich nichts auf die Minute genau sagen, aber es
ist vor mehr als einer Stunde und weniger als zwei Stunden
passiert«, sagte Sveinn. »Sie hat sich gewehrt. Ihre Fingernägel
sind abgebrochen, deswegen habe ich Tüten über ihre Hände gezogen.
Denkbar, dass sie Hautreste von den Angreifern unter den Nägeln
hat.
DNA-Proben, mit anderen Worten.«
»Kommst du mit?«, fragte Víkingur. »Ich muss diese Leiche sehen,
die du obduziert hast.«
»Kein Problem«, sagte Sveinn, dem es nicht ungelegen kam, Punkte
beim Ehemann seiner Vorgesetzten zu sammeln.
*****
Víkingur verlor nicht oft die Fassung, aber diesmal konnte er sich
nicht beherrschen. Er rief Randver an.
»Sind eigentlich nur Vollidioten bei der Polizei?«
Die Frage überraschte Randver, der antwortete: »Meinst du abgesehen
von uns? Was ist denn los?«
»Þórhildur und ich sind nach Holland gefahren, um ihren Sohn Magnús
ausfindig zu machen. Und weißt du, wo er gelandet ist?«
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte Randver.
»Er liegt im Leichenschauhaus hier in Reykjavík. Ich habe ihn
gerade identifiziert. Das ist aber nicht das Allerschlimmste in
diesem Fall. Weißt du, was das Allerschlimmste ist?«
»Nein«, sagte Randver.
»Als seine Mutter heute mit dem Sezieren beschäftigt war, brachte
man die Leiche eines unbekannten Mannes herein. Als sie sich
umdrehte, sah sie, dass der Mann auf der Bahre ihr eigener Sohn
Magnús war.«
»Ich kann das kaum glauben«, sagte Randver. »So etwas soll doch
nicht vorkommen. So etwas darf gar nicht passieren.«
»Es ist aber passiert. Wundert es dich da noch, wenn ich frage, ob
ausschließlich Volltrottel bei der Polizei arbeiten?«
»Wie ist Magnús gestorben und wo?«
»Die Leiche wurde in dieser Absteige gefunden, die Playboy-Club
genannt wird, und der Arzt hier sagt, dass es Selbstmord war,
Erhängung, wahrscheinlich im Alkoholrausch und nach starkem
Medikamentenmissbrauch.«
»Schrecklich, das zu hören. Ich spreche dir mein herzlichstes
Beileid aus.«
»Danke dir.«
»Und richte Þórhildur meine Grüße aus.«
»Sie geht nicht ans Telefon«, sagte Víkingur. »Ich hoffe trotzdem,
dass sie zu Hause ist.«
*****
Víkingur zögerte, ehe er den Schlüssel ins Schloss steckte. Er
legte das Ohr an die Tür und lauschte. Kein Ton war von drinnen zu
hören.
Ich kann das nicht, dachte er. Ich kann nicht nach Hause kommen,
ohne zu wissen, was mich erwartet. Ist sie verschwunden? Hat sie
sich einen hinter die Binde gegossen?
Ich weiß, dass sie heute ein schreckliches Erlebnis hatte, aber das
rechtfertigt nicht die Reaktion, sich bis zur Bewusstlosigkeit zu
betrinken oder zu dopen. Wir haben heute Morgen miteinander
gesprochen und sie hat versprochen ... Ich kann nicht mit ihr
zusammenleben, wenn ich mich nicht darauf verlassen kann, was sie
sagt.
Sei nicht so kompromisslos und geh nicht so hart mit ihr ins
Gericht, sagte ihm eine innere Stimme. Þórhildur macht unheimlich
schwere Dinge durch. Es ist nicht die Frage, ob du ihr vertrauen
kannst, sondern ob sie sich auf dich verlassen kann. Gewiss kann
sie sich auf mich verlassen. Ich liebe sie. Sie weiß das. Trotzdem
hat sie sich in Holland betrunken.
Liebst du sie, wie sie ist oder nur, solange sie so ist, wie du
sie haben willst?
Ich liebe Þórhildur, so wie sie ist. Ich erkenne sie nicht wieder,
wenn sie im Rausch ist. Dann ist sie nicht mehr Þórhildur, sondern
irgendeine ganz andere Person, distanziert, unbekannt,
unsympathisch.
Was ist das für ein Quatsch? Bier bringt dein wahres Ich
hervor.
Nein. Bier bringt jemand anderen hervor. Der Rausch verändert die
Menschen. Menschen im Rausch sagen und tun Dinge, die ihnen bei
vollem Bewusstsein nie im Leben einfallen würden. Þórhildur im
Rausch ist wie ein anderer Mensch. Sie ist dann wie von einem bösen
Geist besessen. Glaubst du wirklich, dass sich Dämonen in Menschen
niederlassen können?
Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass gute und böse Kräfte in
unserer Welt im ständigen Wettstreit liegen. Ich glaube, im Rausch
ist man völlig schutzlos dem Bösen ausgeliefert. Es bedeutet, das
Urteilsvermögen zu verlieren.
Und du liebst deine Frau, solange ihr Urteilsvermögen in Ordnung
ist? Und was ist mit dir selbst ist dein Urteilsvermögen
unfehlbar?
Víkingur schüttelte den Kopf, als wolle er diese unbequemen
Gedanken abschütteln. Liebe ist ein Gefühl, ein Geschenk an uns aus
der Welt der Perfektion, in der es keine knallharten Argumente
gibt.
Er war erleichtert, als er ihre helle Sommerjacke an einem Haken an
der Garderobe sah. Sie war also nicht verschwunden. Wahrscheinlich
hatte sie sich schlafen gelegt. Dennoch war er unruhig.
Normalerweise spürte er, sobald er die Tür hinter sich geschlossen
hatte, ob jemand zu Hause war oder nicht. Jetzt wusste er, dass
Þórhildur zu Hause war. Trotzdem fühlte es sich an, als käme er in
eine leere Wohnung.
Er schaute in die Küche. Fand keinerlei Anzeichen dafür, dass sie
da gewesen wäre. Sah einen Lichtschein auf der Scheibe der
Schiebetür zum Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch stand eine brennende
Kerze, halb heruntergebrannt. War sie ins Bett gegangen, ohne die
Kerze zu löschen? Das war kein gutes Zeichen.
Er ging hinein und beugte sich hinunter, um die Flamme auszublasen,
und sah ein weißes Blatt Papier, das zusammengefaltet auf dem Tisch
lag. Seltsam. Normalerweise hinterließen sie sich gegenseitig
Botschaften auf der Küchenbank. Er nahm das Blatt und sah die
Handschrift, die er so gut kannte.
Geliebter
Ich kann nicht
mehr.
Ich habe ihm gegenüber versagt und ich habe dir gegenüber versagt.
Ich bin gar nichts.
Entschuldige.
Þ Ich
küsse dich in alle Ewigkeit.