Zwanzig


Anwohner der Straße hatten bemerkt, dass ein lachsrosa Hummer-Geländewagen vor der Einfahrt zur Garage beim recht neuen Haus des Bürgermeisters, auf dem begehrten Eckgrundstück Nummer 1, geparkt worden war.


Der Hummer war säuberlich mit dem Schriftzug des Octopussy versehen und seine kantigen Formen wurden durch die weichen Linien eines Frauenkörpers abgemildert, die auf die Seiten und die Motorhaube des Fahrzeugs gemalt worden waren mitsamt dem Logo der Gaststätte und dem Werbespruch: »Octopussy Nightclub for Executives«.


Die Hausfrau Gróa Jónsdóttir, die in Nummer 3 wohnte und dem Bürgermeister immer noch nicht verziehen hatte, dass er sich selbst das Eckgrundstück zugeteilt hatte, bemerkte sofort, dass die Platzierung des Autos interessante Möglichkeiten bot.


Sie rief das Wochenendmagazin >Menschen und Meldungen< an und ließ sich mit dem Redakteur Teitur Jónsson verbinden.


Gróa stellte sich als Nachbarin des Bürgermeisters vor und erklärte Jónsson, sie habe die Berichterstattung des Magazins über die auffällige Verbindung des Bürgermeisters zum Pornoschuppen Octopussy gelesen.


»Ich finde das gut von euch«, sagte Gróa. »Die Medien sollten ruhig öfter ein wachsames Auge auf solche Männer werfen.« Redakteur Teitur war es nicht gewohnt, dass die Leser des Blattes anriefen, um ihn für Großtaten in Sachen Journalismus zu loben. Üblich war eher, dass er an den Hauswänden entlangschlich, um nicht auf empörte und wütende Bürgern zu treffen, die behaupteten, Enthüllungsjournalisten seiner Sorte seien eine Beleidigung des allgemeinen Taktgefühls.


»Neben meinem Dank für die gute und verantwortungsvolle Berichterstattung über unseren Bürgermeister«, sagte Gróa, »möchte ich fragen, ob ihr Interesse hättet, einen Fotografen hierherzuschicken, um festzuhalten, wie unverschämt der Mann ist. Er stellt seine Verbindung mit dem Pornoschuppen am helllichten Tag zur Schau.«


Als Gróa ihre Beschreibung des Fotomotivs abgeschlossen hatte, dankte Teitur ihr für die Informationen und machte sich auf den Weg. Eine solche Gelegenheit wollte er nicht verpassen. Der Bürgermeister hatte kürzlich gedroht, >Menschen und Meldungen<, also Teitur als verantwortlichen Chefredakteur, wegen haltloser Hetze auf Schadensersatz zu verklagen. Teitur hatte nämlich ein Foto des Bürgermeisters veröffentlicht, auf dem dieser zwei Stripperinnen an der Bar des Octopussy im Arm hielt und gelinde gesagt trübe Augen hatte. Leider wusste Teitur nicht, wer das Foto gemacht hatte. Es war der Redaktion anonym zugeschickt worden und die Auflösung ließ vermuten, dass es mit einer Handykamera gemacht worden war. Der Bürgermeister behauptete, das Foto sei gefälscht, er wäre noch nie im Octopussy gewesen und schon gar nicht hätte er die Stripperinnen des Lokals berührt, von denen er sagte, dass sie ihm mithilfe der Software Photoshop in die Arme gelegt worden seien. »Ich bin in einer Viertelstunde da«, sagte Teitur Jónsson zu Gróa und fügte hinzu: »Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast«, obwohl Dankbarkeit nicht seine stärkste Seite war.   

 


*****


Zwischen dem Ende des Telefongesprächs und der Ankunft von Teitur Jónsson mitsamt der Fotografin des Magazins, die vor Entsetzen über den Kamikaze-Fahrstil des Redakteurs leichenblass war und aus dem Auto flüchtete, sobald es stehen blieb, waren nur zwölf Minuten vergangen.


»Fotografier, Junge, fotografier«, sagte Teitur und vergaß, dass der Fotograf eine Frau war. »Wir dürfen das nicht verpassen.«


»Ganz ruhig«, sagte die Fotografin. »Das Auto bewegt sich überhaupt nicht. Der Motor läuft nicht mal.«


Die Bemerkung war korrekt. Der Motor lief nicht.


Was die Hektik des Redakteurs ausgelöst hatte, war, dass man durch die getönten Scheiben jemanden am Steuer erkennen konnte. Dieser Fahrer schien auf irgendetwas zu warten. Er saß reglos und blickte nicht einmal in Richtung der Fotografin, die sich näherte und ununterbrochen auf den Auslöser drückte.


Teitur hielt sich in einiger Entfernung, erinnerte sich daran, dass Elli vom Octopussy ihm gedroht und geraten hatte, ihm niemals unter die Augen zu kommen, sofern ihm seine Gesundheit lieb sei. Er wollte gern wissen, wer im Auto saß. Wenn es irgendein Chauffeurstyp war, wies das darauf hin, dass Elli drin beim Bürgermeister wäre, was wiederum die Möglichkeit eröffnete, ein Foto von beiden zusammen an der Haustür zu bekommen. Die Fotografin war wagemutiger als Teitur und näherte sich dem Auto, wie es schien, furchtlos. Teitur war zufrieden mit diesem Mädchen, das eines Tages mit der Kamera in der Redaktion erschienen war, um ihm mitzuteilen, dass sie sich gerade selbst als Praktikantin bei >Menschen und Meldungen< eingestellt habe. Sie machte zwar keine guten Bilder, aber sie war beherzt und hatte vor niemandem Respekt. Er wusste gerade nicht, wie sie hieß, meinte sich aber zu erinnern, dass sie Systa genannt wurde.


Die Fotografin Súsanna, genannt Sússa, war ganz sicher, dass mit dem im Hummer sitzenden Mann, der sich nicht im Geringsten bewegte, etwas nicht stimmte. Er blickte nicht einmal in ihre Richtung, als sie sich schräg vor dem Auto aufstellte und mit Blitzlicht fotografierte. Sie beschloss, ihn näher anzusehen. Die seitlichen Scheiben waren rauchfarben getönt, aber die Windschutzscheibe war klar. Sie betrachtete den Fahrer, der ein bisschen zusammengesunken dasaß und auf die Straße vor dem Auto zu schauen schien. Zu ihrer Verwunderung sah sie, dass es eine Frau war. Sie saß still wie eine Statue. Plötzlich wurde Sússa bewusst, dass die Ruhe der Frau unnatürlich war.


Sie schien weder zu atmen noch zu blinzeln.


Sússa klopfte an die Scheibe. Die Frau rührte sich nicht.


Sússa wollte die Tür öffnen, aber sie war verschlossen. Sie rief nach Teitur.


»Komm her, komm mal. Irgendetwas stimmt nicht mit der Frau.«


Teitur gehorchte und näherte sich vorsichtig, war aber bereit, sofort die Flucht zu ergreifen, sollte der Fahrer sich anschicken, ein Lebenszeichen von sich zu geben und sie anzugreifen.


»Das ist ja eine Frau«, sagte er erstaunt.


»Ihre Augen sind geöffnet«, meinte Sússa. »Halb geöffnet«, korrigierte Teitur sie. »Kann es sein, dass sie total stoned ist? Hast du ein gutes Bild von ihr bekommen?«


»Sie ist so still, als wäre sie ausgestopft«, sagte Sússa.


»Atmet sie überhaupt? Kann sie einen Herzinfarkt bekommen haben?«


Um besser ins Auto sehen zu können, drückte Sússa die Stirn an die Windschutzscheibe und schirmte ihre Augen mit beiden Händen ab.


»Was siehst du?«, fragte Teitur. »Bewegt sie sich nicht?«


»Ich habe zwar noch nie eine Leiche gesehen«, sagte Sússa, »aber dieser Mensch lebt nicht mehr.«


»Wie kannst du dir da sicher sein?«, fragte Teitur, der sein Glück nicht fassen konnte, als Enthüllungsjournalist in aller Öffentlichkeit eine Leiche zu finden.


»Es ist Blut an ihrer Stirn und außerdem ragt ein Spieß aus ihrer Brust.«


»Lass mich sehen«, sagte Teitur und schob das Mädchen zur Seite.


Ihre Beschreibung war nicht ganz exakt. Auf der Stirn der Frau war Folgendes zu sehen: Die Runen waren mit Blut geschrieben.

 

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Der Mörder hatte seinen Finger in die blutige Wunde gehalten, dort, wo ein runder Stab etwa 10 Zentimeter aus der Haut ragte, an der Stelle, wo Hals und Schlüsselbein sich treffen, auf der linken Seite, und der dann am Hals entlanglief und unter ihrem Kiefer wieder verschwand.              


Das war die Erklärung dafür, dass die Leiche den Kopf aufrecht gehalten hatte. »Wer könnte das sein?«, fragte Sússa. »Die Mädchen vom Octopussy sind nicht so alt.«


»Diese Frau heißt Auður Sörensen«, sagte Teitur. »Anwältin am Obersten Gericht. Keine Revuetänzerin.«


*****


»Sie war heute Mittag quicklebendig«, sagte Terje. »Dagný, erinnerst du dich? Wir haben mit ihr gesprochen?«


Dagný schaute ihn an, ohne zu antworten. Sie waren eingeteilt worden, die Umgebung des Hummers mit gelbem Plastikband abzusperren. Terje war offenbar darüber entsetzt, einen Menschen tot zu sehen, mit dem er sich am selben Tag noch unterhalten hatte. Sie war erfreut, dass ihr Kollege kurzzeitig die Rolle des coolen Typen abgelegt hatte.


»Was ist hier eigentlich los?«, sagte er. »Wenn wir nur einen Funken Verstand gehabt hätten, wäre sie noch am Leben.«


»Was maulst du jetzt schon wieder?«, fragte Dagný.


»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich weiß nur, dass ich in der nächsten Zeit keine weiteren Leichen sehen möchte. Ich begreife jetzt erst, dass wir uns beeilen müssen, weil es um Leben und Tod geht. Ich dachte, es sei vorbei. Ich dachte, das im Sommerhaus sei eine Art Endabrechnung und wir könnten in aller Ruhe versuchen, die Spuren zu verfolgen. Aber so ist es nicht. Während wir auf Besprechungen herumhocken und über Nazikritzeleien und Wappensymbole labern, vergnügt sich der, den wir längst hätten einsperren müssen, damit, weitere Menschen umzubringen.«


»Was hast du erwartet?«, fragte sie.


»Wir müssen etwas tun«, sagte Terje. »Wir kommen überhaupt nicht voran. Der arme Randver hat keinen Plan und Víkingur verhält sich, als sei ihm ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen. Wir drehen uns nur im Kreis. Die Einzigen, die uns helfen, sind irgendwelche Loser, die noch verwirrter sind als wir.«


»Das muss wohl jeder selbst beurteilen«, sagte Dagný.


»Siehst du denn nicht, wie hoffnungslos und daneben das alles ist? Die gesamte Kripo und die technische Abteilung steht hier draußen auf der Straße und wartet darauf, dass die verdammten Autoschlüssel auftauchen, damit man an die Frau herankommt, die ermordet worden ist, während die versammelte Polizeimannschaft am Tisch saß und Kaffee getrunken hat.«


»Was hättest du tun wollen?«


»Das weiß ich nicht. Jedenfalls hätte ich längst das Auto öffnen können, ohne darauf zu warten, dass irgendwelche Schlüssel gefunden werden.«


»Und hättest dabei mögliche Spuren verwischt?«


»Welche Spuren sollen denn an der Autotür sein? Ein ganzes Sommerhaus ist durchkämmt worden, ohne auch nur einen einzigen Fingerabdruck zu finden.«


»Jetzt mach dich mal locker, mein Guter. Ich kann dir versprechen, dass Randver weiß, was er tut.«


»Seit wann versteht Randver etwas von dem, was er tut? Ich habe schon anderes von dir gehört.«


»Er hat vielleicht nicht das Pulver erfunden, aber er hat mehr Erfahrung als wir beide zusammen, und dann ist ja auch noch Víkingur da.«


»Erfahrung mit was denn?«, fragte Terje. »Erfahrung darin, irgendwelche Trottel zu verhaften, die besoffen oder zugedopt irgendwelche Gewalttaten verübt haben?


Das hier ist ganz anders. Wir haben keinerlei Erfahrung darin, mit echten Verbrechen umzugehen.« »Was für ein Blödsinn, Mann«, sagte Dagný. »Seit wann zählt ein Mord nicht mehr zu den echten Verbrechen?


Drei Morde gestern und dann bekommen wir das hier anstelle eines Abendessens.«


*****


Es war Elías junior, der in einem schwarzen Range Rover vorfuhr, um die Schlüssel abzuliefern.


»Was ist hier eigentlich los?«, fragte er, als er die Gruppe Polizisten erblickte.


»Weißt du, was so ein Range Rover kostet?«, fragte Terje Dagný im Flüsterton. »Mindestens fünfzehn Millionen.«


»Was ist hier eigentlich los?«, wiederholte der Octopussy-Erbe und zeigte auf das Absperrband. Er war offenbar überrascht, die Menge Polizisten rund um den Hummer der Firma versammelt zu sehen. »Aber ich muss sagen, das habt ihr gut gemacht, das Auto zu finden, bevor ich mitgekriegt habe, dass es gestohlen worden ist. Ich dachte, es wäre vermietet oder so.«


»Hast du die Schlüssel?«, fragte Guðrún Sólveig und streckte die Hand aus.


»Wer bist du?«, fragte der Junior.


»Ich heiße Guðrún und bin von der kriminaltechnischen Abteilung. Wir müssen das Auto öffnen, ohne das Schloss aufzubrechen.«


Ganz langsam dämmerte dem Junior, dass ein normaler Autodiebstahl in den seltensten Fällen ein solches Polizeiaufkommen bedingte. Die Autoschlüssel wollte er jedoch nicht abgeben, ohne dass ihm ein Durchsuchungsbefehl für das Fahrzeug vorgewiesen würde.


»Was ist hier los?«, wiederholte er und glotzte mit seinen listigen Schweinsäuglein in Richtung Auto. »Hat der Dieb sich eingeschlossen und weigert sich, herauszukommen?«


Guðrún Sólveig riss ihm die Schlüssel aus der Hand.


Der Junior stand mit entrüstetem Gesichtsausdruck da und rief ihr nach: »Was für fucking Faxen sind das denn?«


Es dauerte eine Weile, dem jungen Mann verständlich zu machen, dass sich die Untersuchung um etwas anderes und mehr drehte als einen normalen Autodiebstahl.


Sein Misstrauen der Polizei gegenüber war so groß, dass er sich weigerte, zu glauben, was man ihm sagte, bis Randver ihn unterhakte und zum Hummer führte. Die Türen standen mittlerweile offen und die Frau auf dem Vordersitz saß genauso reglos wie zuvor da, trotz der Menschenmenge, die sich um das Auto herum bewegte.


Als er die Leiche identifiziert hatte, war der Junior wie ausgewechselt und ausgesprochen kooperativ. Er gab zu Protokoll, mit Auður bis kurz vor halb fünf im Büro des Octopussy gewesen zu sein. Dann wäre sie davongeeilt, hätte sich mit jemandem um fünf in Reykjavík treffen wollen. Der Junior sagte, dass seine Mutter Bjarnveig und auch der Buchhalter des Unternehmens diese Aussagen bestätigen könnten.   

 


Er gab an, keine Ahnung vom Verschwinden des Hummers gehabt zu haben. Normalerweise stünde er tagsüber zu Werbezwecken vor dem Lokal. Es käme auch vor, dass Leute den Wagen für Feierlichkeiten mieteten. »Und viele schnallen auch, dass es verdammt cool ist, in einer Hummer-Limousine herumzufahren, und sind dann auch bereit, etwas dafür springen zu lassen. Ich kümmere mich nicht um die Vermietung des Fahrzeugs und bin deswegen aus allen Wolken gefallen, als die Polizei anrief und die Schlüssel haben wollte. Das sind die Ersatzschlüssel.


Die anderen Schlüssel werden normalerweise im Büro verwahrt oder halt im Handschuhfach des Autos.«


Der Junior hielt es für ausgeschlossen, dass Auður das Auto geliehen habe. »Ihre Toyota-Schrottkarre steht vor unserer Tür. Das habe ich bemerkt, als ich hierherfuhr.


Kann gut sein, dass ihr Auto nicht ansprang, aber Auður hätte niemals von sich aus den Hummer genommen.


Sie wollte sich heute Morgen mit Mama und mir schon kaum hineinsetzen und sagte, sie hätte kein Interesse daran, Aufmerksamkeit zu erregen. Menschen sind so verschieden«, fügte der Junior philosophisch hinzu. »Aber warum ist das Auto hier vor dem Haus des Bürgermeisters stehen gelassen worden?«


»Es hat vielleicht von selbst hierhergefunden«, sagte Randver.


*****


Víkingur erwartete Þórhildurs Ankunft jederzeit. Sie war entsprechend der Gepflogenheit, dass ein Gerichtsmediziner angefordert wird, sobald die Untersuchung eines Todesfalls beginnt, zum Tatort gerufen worden. Randver hatte seinen Vorgesetzten ins Schlepptau genommen, um die ärmlichen Erklärungen des Juniors über die Bewegungen des Hummers anzuhören. Víkingur nahm wahr, dass zwar Sveinn eingetroffen, von Þórhildur aber nichts zu sehen war.


Der Junior hatte es inzwischen satt, immer wieder dieselben Fragen zu beantworten, und begann stattdessen, die Polizei zu löchern, welche Vorkehrungen sie zu treffen gedächte, um ihn und seine Mutter zu schützen.


»Mein Vater wird entführt, ohne dass die Polizei etwas davon weiß. Dann wird er ermordet aufgefunden und ihr wisst nicht, wer es getan hat. Und jetzt steht ihr hier wie die Hampelmänner mitten auf der Straße und faselt von irgendwelchen Autoschlüsseln, während meine Anwältin am helllichten Tag ermordet worden ist. Seid ihr etwa so dämlich, dass ihr nicht begreift, dass Auður versehentlich umgebracht worden ist? Dass es einem anderen galt?«


»Und zwar wem?«, fragte Randver.


»Mir natürlich. Ist das nicht halbwegs sonnenklar?«


Der Junior schaute mit abgrundtiefer Verachtung um sich.


»Willst du damit sagen, dass derjenige, der ... der das getan hat, sich bei seinem Opfer geirrt hat und gedacht hat, sie wäre du?«, fragte Dagný.


Der Junior bekam zu viel und verdrehte die Augen.


»Glaubst du, ich bin ein Idiot? So eine Art Verwechslung meine ich nicht. Jemand hat versucht, mich zu bekommen, aber sie stattdessen genommen.«


»Wer trachtet dir nach dem Leben?«, fragte Randver.


»Und warum?«


»Wie zur Hölle soll ich das wissen?«, entgegnete der Junior wütend. »Haben wir nicht die Polizei, um das herauszufinden?«


Randver versuchte, dem jungen Mann klarzumachen, dass es zu seinem Vorteil sei, die Polizei über mögliche Gründe aufzuklären, weshalb jemand eine offene Rechnung mit seinem Vater und mit ihm haben könne. Der Junior hatte nicht die Geduld, sich diese Belehrung anzuhören, schließlich brauchte er keine Polizei, um den Mörder seines Vaters zu finden. »Kümmert ihr euch einfach um eure Angelegenheiten«, sagte er. »Ich kümmere mich um meine.« »Was meinst du denn damit?«, fragte Randver. »Meinst du etwa, die Polizei sollte sich nicht um Morde kümmern, sondern es den Hinterbliebenen überlassen, sie zu rächen?«


Víkingur begriff, dass es wenig Aussicht gab, von diesem gereizten jungen Mann eine nützliche Aussage zu bekommen. Er sah, dass Sveinn Dagný etwas erklärte und auf die Leiche auf dem Vordersitz zeigte. Er ging zu ihnen.


»Grüß dich«, sagte er und schüttelte Sveinn die Hand.


»Weißt du vielleicht, wann Þórhildur eintreffen wird?«


Sveinn verneinte.


»Sie hat ihr Mobiltelefon ausgeschaltet«, sagte er. »Und dann bin ich in Windeseile hierhergefahren.«


Víkingur spürte, wie sich urplötzlich ein schlimmer Verdacht in ihm breitmachte. Sollten die Versprechen von heute Morgen wirklich so schnell vergessen worden sein?              


»Habt ihr heute nicht zusammen gearbeitet?«


»Doch, doch, den ganzen Tag. Es war kein Zuckerschlecken. Wir haben drei Obduktionen fertig gemacht und dann habe ich allein noch eine weitere gemacht, nachdem Þórhildur gegangen war.«


»Wann ging sie denn?«


»Das wird sicher schon so gegen fünf Uhr gewesen sein.«


»Hat sie nichts gesagt?«


»Na ja, das war ja das Seltsame. Wir wollten noch einen weiteren Leichnam machen. Ein Selbstmord, der eigentlich vor diesen Leichen aus dem Sommerhaus reingekommen ist. Es war ein junger Mann und es wirkte, als ob Þórhildur ihn irgendwie kannte. Jedenfalls ist sie so erschrocken, dass sie ging, ohne etwas zu sagen. Es kann sehr unangenehm sein, auf jemanden zu treffen, den man kennt.«


»Kannst du den Toten beschreiben?«


»Ja, das kann ich.« Sveinn schloss die Augen, als sähe er einen Film der Autopsie auf der Innenseite seiner Augenlider: »Dunkelhaarig, Augenfarbe grün, Größe 183 Zentimeter, Gewicht 72 Kilo. Selbstmord, ungewöhnliche Erhängung ­ erhängte sich an der Türklinke ­, Verletzung an der Augenbraue, könnte gestürzt sein. Hoher Alkoholspiegel.«


»Woran hast du erkannt, dass Þórhildur die Leiche identifiziert hat?«


»Ich habe natürlich nicht geschnüffelt, aber ich habe gesehen, dass sie Tränen in den Augen hatte. Sie begann eigentlich direkt zu weinen und dann rannte sie raus.«


Das klang sehr seltsam. Die Polizei war gebeten worden, sich nach Magnús umzusehen. Ein Foto von ihm hing im Aufenthaltsraum der Polizisten mitsamt der Bitte, Víkingur zu benachrichtigen, wenn ihn jemand sähe. Konnte es sein, dass dieser Zettel an allen im System vorbeigegangen war und die Leiche von Magnús gefunden und ins Leichenschauhaus gebracht worden war, ohne dass Víkingur Bescheid gesagt wurde?


»Ich wette, derjenige, der das da gemacht hat, ist derselbe, der Elli im Sommerhaus erledigt hat«, sagte Sveinn und zeigte auf die Tote, die im Auto am Steuer saß.


»Warum bist du dir da so sicher?«, fragte Víkingur.


»Es ist die Pfählung. Aber diesmal wurde sie eingesetzt, um zu töten, nicht um zu foltern. Schau hier, das Ende kommt am linken Schlüsselbein heraus. Das bedeutet, dass der Stab nach links gelenkt wurde, zum Herzen, verstehst du. Mir scheint, das ist das Ende eines Billardqueues, was da am Hals entlangläuft.« »Und der Junge, von dem du mir erzählt hast, ist der auch gepfählt worden?«


»Nein, keineswegs. Das war nur Selbstmord. Erhängung. Sicherlich sehr gemütlich verglichen mit dem hier.«


Þórhildurs Telefon war immer noch ausgeschaltet. Víkingur graute vor seiner Ankunft zu Hause. Um ganz sicher zu sein, beschloss er jedoch, zuerst zum Leichenschauhaus zu fahren.


»Bist du hier fertig?«, fragte er Sveinn. »Ich meine, können wir die Leiche abtransportieren lassen?«


»Ja, ich bin fertig«, sagte Sveinn. »Sie kann meinetwegen weg.«


»Kannst du etwas dazu sagen, wie lange es her ist, dass sie gestorben ist?«


»Ich kann dazu natürlich nichts auf die Minute genau sagen, aber es ist vor mehr als einer Stunde und weniger als zwei Stunden passiert«, sagte Sveinn. »Sie hat sich gewehrt. Ihre Fingernägel sind abgebrochen, deswegen habe ich Tüten über ihre Hände gezogen. Denkbar, dass sie Hautreste von den Angreifern unter den Nägeln hat.


DNA-Proben, mit anderen Worten.«


»Kommst du mit?«, fragte Víkingur. »Ich muss diese Leiche sehen, die du obduziert hast.«


»Kein Problem«, sagte Sveinn, dem es nicht ungelegen kam, Punkte beim Ehemann seiner Vorgesetzten zu sammeln.


*****


Víkingur verlor nicht oft die Fassung, aber diesmal konnte er sich nicht beherrschen. Er rief Randver an.


»Sind eigentlich nur Vollidioten bei der Polizei?«


Die Frage überraschte Randver, der antwortete: »Meinst du abgesehen von uns? Was ist denn los?«


»Þórhildur und ich sind nach Holland gefahren, um ihren Sohn Magnús ausfindig zu machen. Und weißt du, wo er gelandet ist?«


»Nein, das weiß ich nicht«, sagte Randver.


»Er liegt im Leichenschauhaus hier in Reykjavík. Ich habe ihn gerade identifiziert. Das ist aber nicht das Allerschlimmste in diesem Fall. Weißt du, was das Allerschlimmste ist?«


»Nein«, sagte Randver.


»Als seine Mutter heute mit dem Sezieren beschäftigt war, brachte man die Leiche eines unbekannten Mannes herein. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass der Mann auf der Bahre ihr eigener Sohn Magnús war.«


»Ich kann das kaum glauben«, sagte Randver. »So etwas soll doch nicht vorkommen. So etwas darf gar nicht passieren.«


»Es ist aber passiert. Wundert es dich da noch, wenn ich frage, ob ausschließlich Volltrottel bei der Polizei arbeiten?«


»Wie ist Magnús gestorben und wo?«


»Die Leiche wurde in dieser Absteige gefunden, die Playboy-Club genannt wird, und der Arzt hier sagt, dass es Selbstmord war, Erhängung, wahrscheinlich im Alkoholrausch und nach starkem Medikamentenmissbrauch.«


»Schrecklich, das zu hören. Ich spreche dir mein herzlichstes Beileid aus.«


»Danke dir.«


»Und richte Þórhildur meine Grüße aus.«


»Sie geht nicht ans Telefon«, sagte Víkingur. »Ich hoffe trotzdem, dass sie zu Hause ist.«


*****


Víkingur zögerte, ehe er den Schlüssel ins Schloss steckte. Er legte das Ohr an die Tür und lauschte. Kein Ton war von drinnen zu hören.


Ich kann das nicht, dachte er. Ich kann nicht nach Hause kommen, ohne zu wissen, was mich erwartet. Ist sie verschwunden? Hat sie sich einen hinter die Binde gegossen?


Ich weiß, dass sie heute ein schreckliches Erlebnis hatte, aber das rechtfertigt nicht die Reaktion, sich bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken oder zu dopen. Wir haben heute Morgen miteinander gesprochen und sie hat versprochen ... Ich kann nicht mit ihr zusammenleben, wenn ich mich nicht darauf verlassen kann, was sie sagt.   

 


Sei nicht so kompromisslos und geh nicht so hart mit ihr ins Gericht, sagte ihm eine innere Stimme. Þórhildur macht unheimlich schwere Dinge durch. Es ist nicht die Frage, ob du ihr vertrauen kannst, sondern ob sie sich auf dich verlassen kann. Gewiss kann sie sich auf mich verlassen. Ich liebe sie. Sie weiß das. Trotzdem hat sie sich in Holland betrunken.


Liebst du sie, wie sie ist ­ oder nur, solange sie so ist, wie du sie haben willst?


Ich liebe Þórhildur, so wie sie ist. Ich erkenne sie nicht wieder, wenn sie im Rausch ist. Dann ist sie nicht mehr Þórhildur, sondern irgendeine ganz andere Person, distanziert, unbekannt, unsympathisch.


Was ist das für ein Quatsch? Bier bringt dein wahres Ich hervor.


Nein. Bier bringt jemand anderen hervor. Der Rausch verändert die Menschen. Menschen im Rausch sagen und tun Dinge, die ihnen bei vollem Bewusstsein nie im Leben einfallen würden. Þórhildur im Rausch ist wie ein anderer Mensch. Sie ist dann wie von einem bösen Geist besessen. Glaubst du wirklich, dass sich Dämonen in Menschen niederlassen können?


Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass gute und böse Kräfte in unserer Welt im ständigen Wettstreit liegen. Ich glaube, im Rausch ist man völlig schutzlos dem Bösen ausgeliefert. Es bedeutet, das Urteilsvermögen zu verlieren.


Und du liebst deine Frau, solange ihr Urteilsvermögen in Ordnung ist? Und was ist mit dir selbst ­ ist dein Urteilsvermögen unfehlbar?


Víkingur schüttelte den Kopf, als wolle er diese unbequemen Gedanken abschütteln. Liebe ist ein Gefühl, ein Geschenk an uns aus der Welt der Perfektion, in der es keine knallharten Argumente gibt.


Er war erleichtert, als er ihre helle Sommerjacke an einem Haken an der Garderobe sah. Sie war also nicht verschwunden. Wahrscheinlich hatte sie sich schlafen gelegt. Dennoch war er unruhig. Normalerweise spürte er, sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ob jemand zu Hause war oder nicht. Jetzt wusste er, dass Þórhildur zu Hause war. Trotzdem fühlte es sich an, als käme er in eine leere Wohnung.


Er schaute in die Küche. Fand keinerlei Anzeichen dafür, dass sie da gewesen wäre. Sah einen Lichtschein auf der Scheibe der Schiebetür zum Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch stand eine brennende Kerze, halb heruntergebrannt. War sie ins Bett gegangen, ohne die Kerze zu löschen? Das war kein gutes Zeichen.


Er ging hinein und beugte sich hinunter, um die Flamme auszublasen, und sah ein weißes Blatt Papier, das zusammengefaltet auf dem Tisch lag. Seltsam. Normalerweise hinterließen sie sich gegenseitig Botschaften auf der Küchenbank. Er nahm das Blatt und sah die Handschrift, die er so gut kannte.


Geliebter
Ich kann nicht mehr.

Ich habe ihm gegenüber versagt und ich habe dir gegenüber versagt.

Ich bin gar nichts.

Entschuldige.


Þ
Ich küsse dich in alle Ewigkeit.