Siebzehn


Dass Víkingur nicht, wie lose vereinbart, zur Nachmittagsbesprechung ging, lag daran, dass der Polizeipräsident Lúðvík Ásmundsson ihn angerufen und um einen Besuch bei sich zu Hause in der Weststadt gebeten hatte.


Lúðvík war eigentlich der ehemalige Polizeipräsident.


Vor einem Jahr hatte eine Restrukturierung der Polizei dazu geführt, dass ihm eine Vertragsauflösung angeboten wurde, um die zwanzig Monate zu überbrücken, die er noch bis zur Rente hatte.


Der Ex-Polizeipräsident, der verächtlich oft »Dressman« genannt worden war wegen seiner völlig fehlenden Eitelkeit in Sachen Kleidung, kam selbst zur Tür. Sogar Víkingur ging das Aussehen seines Freundes diesmal zu weit. Er trug einen grasgrünen Jogginganzug und seine nackten Füße steckten in grauen Filzpantoffeln, die »Ratten« genannt werden.


Der Polizeipräsident streckte seine Pranke aus und zog seinen Gast ins Haus, dann steckte er den Kopf zum Türspalt hinaus und blickte sich in der Umgebung um.


Schloss die Haustür und wies Víkingur den Weg ins Wohnzimmer.


»Du hast doch nicht herumerzählt, dass wir uns verabredet haben, oder?«, fragte er, als sie sich gesetzt hatten.


»Nein, ich glaube, ich habe es noch niemandem gegenüber erwähnt«, sagte Víkingur. »Gut, gut«, sagte Lúðvík. »Belassen wir es auch dabei.


Soll ich meine Frau bitten, uns Kaffee zu machen?«


»Nein, danke, ich versuche gerade, das Kaffeesaufen etwas einzudämmen. Habe ich das richtig verstanden?


Es soll ein Geheimnis bleiben, wenn ich dich, als meinen ehemaligen Vorgesetzten, besuche?«


»Nein, auf keinen Fall. Also so betrachtet nicht«, sagte Lúðvík und lächelte wie gewöhnlich, wenn er etwas anderes sagte, als er meinte. »Es ist nun mal mit Wissen und Informationen genauso wie mit Alkohol, die Menschen vertragen sie unterschiedlich gut. Manche vertragen jede Menge. Andere verlieren gleich nach dem ersten Glas den Verstand. Und je schlechter die Menschen Alkohol vertragen, desto versessener sind sie darauf.«


»Was für ein Quatsch«, sagte Víkingur. »Ich kenne Trunkenbolde, die Unmengen vertragen können.«


»Ja, die Ausnahme bestätigt die Regel«, sagte der ehemalige Polizeipräsident, wie immer, wenn er auf eine Lücke in seiner Argumentation aufmerksam gemacht wurde. »Wahrscheinlich bin ich so ein Informationsschluckspecht. Ich weiß leider alles Mögliche und Unmögliche. Was würde ich mir wünschen, nicht so viel zu wissen. Das war allerdings nicht der Grund, weshalb ich dich bat, bei mir vorbeizuschauen. Sag mir, wie geht es dir?«


»Meinst du den Þingvellir-Fall oder einfach so generell?«


»Beides.«


»Es gibt keine eindeutige Spur, die wir verfolgen können. Die meisten Mordfälle lösen sich eigentlich von selbst, sobald man beginnt, sie zu untersuchen, weil sie in einem Anfall von Raserei begangen wurden. Das hier ist anders. Es erinnert mehr an schauerliche Hinrichtungen als an Mord. So wie es zurzeit steht, haben wir keinen Verdacht, warum diese Männer ermordet wurden. Wenn wir das herausfinden, glaube ich, finden wir auch denjenigen oder diejenigen, die dort am Werk waren.«


»Habt ihr irgendwelche Hinweise bekommen?«


»Nein, das kann man so nicht sagen. Wir wollen uns aber die wichtigsten Konkurrenten in der Pornobranche ansehen. Du erinnerst dich an Guðfinnur Bertholds?«


Lúðvík verzog seinen Mund zur Andeutung eines Lächelns, als er sagte: »Irgendetwas sagt mir der Name. Schließlich ist es weniger als ein Jahr her, dass ich aufgehört habe, und ich bin noch nicht vollkommen gaga, auch wenn ich selbstverständlich auf einem guten Weg bin, es zu werden.«


»Ja, natürlich erinnerst du dich an ihn. Elli und er waren bis vor zwei Jahren dicke Freunde. Sie waren unzertrennlich. Dann ist etwas passiert und fortan waren sie wie Hund und Katze. Wir müssen noch herausfinden, was das Ende der Freundschaft verursachte.«   

 


»Vielerlei Gründe können zu so einer Hinrichtung führen, auch wenn letztlich vielleicht ein bestimmter Aspekt der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt.«


»Kriminologen sprechen von sechs Hauptmotiven für Morde. Auf die Schnelle würde ich sagen, dass vier von diesen infrage kommen könnten: Wut, Angst, Gier und Rache.«


»Und die beiden anderen?«


»Begierde und Eifersucht«, sagte Víkingur. »Ich halte es für unwahrscheinlich, dass jemand diese drei Männer aus Eifersucht oder einer Art sexueller Begierde getötet haben soll.«


»Was ist mit dem Pfählen? Dem Besenstiel?« »Besenstiel? Wie kommst du darauf? Ich habe noch keine Obduktionsergebnisse bekommen.«


»Man erfährt alles Mögliche«, sagte Lúðvík. »Ich habe mich eben kurz bei Þórhildur gemeldet und es kann sein, dass sie das vertraulich erwähnte.«


»Ich glaube, das Pfählen war nicht das Ziel, auch wenn es darauf hinweist, dass derjenige, der es getan hat, von einer Art Sadismus erfüllt ist. Die Worte, die mir als Erstes in den Sinn kamen, als ich das sah, waren Grausamkeit und Hass. Man braucht viel Grausamkeit, um Menschen so zuzurichten ­ oder bodenlosen Hass.«


»Können wir dann nicht Gier als Motiv vernachlässigen?«, fragte Lúðvík. »Dann wären nur noch drei Motive übrig.«


»Ich schließe kein Motiv von vornherein aus«, sagte Víkingur. »Abgesehen davon ist denjenigen, die so etwas tun, in den seltensten Fällen bewusst, dass die Kriminologie nur sechs anerkannte Motive vorsieht. Und dann dürfen wir auch nicht vergessen, dass Morde, sofern sie nicht von Auftragskillern ausgeführt werden, meistens von Menschen verübt werden, die nicht mal ein Fahrzeug steuern könnten, geschweige denn sich selbst. Trotzdem glaube ich, dass diese Tat nicht im Rausch begangen wurde. Es ist eine Heidenarbeit, drei Männer auf diese Weise zu Tode zu martern, abgesehen davon, sie in das Sommerhaus zu bringen und dafür zu sorgen, dass keiner entwischt.«


»Glück?«, fragte Lúðvík. »Narrenglück ­ wenn man in diesem Zusammenhang von Glück sprechen darf?«


»Nein«, sagte Víkingur. »Es gibt noch andere Aspekte.« Er griff in seine Jackentasche und zog einige zusammengefaltete Blätter heraus. »Schau dir das mal an.« Neben Fotos vom Tatort waren es auch die Bilder aus Holland.


»Ach, ich muss meine Lesebrille suchen«, sagte Lúðvík und wollte aufstehen.


»Kannst du nicht die Brille benutzen, die du auf der Stirn hast?«, fragte Víkingur.


»So ist das, wenn man alt wird«, sagte Lúðvík, schob die Brille herunter auf seine Nase und begann, die Bilder durchzusehen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal alt werde. Ich dachte, ich bliebe immer jung.«


Víkingur fand den Gedanken skurril. Er versuchte, sich einen jungen Lúðvík vorzustellen. Es gelang ihm nicht.


Als Lúðvík sich die Brille zurechtgerückt und die richtige Entfernung gefunden hatte, um die Fotos scharf zu sehen, erzählte Víkingur ihm von der Reise nach Holland und den Zeichen auf den Leichen.


»Das kann alles Mögliche sein«, sagte Lúðvík. »Warum glauben die Holländer, dass es isländisch sei?«


»Sie haben auch Reste einer isländischen Zeitung bei einem der Leichname gefunden und uns deswegen kontaktiert.«


»Ja, alles muss seine Richtigkeit haben«, sagte Lúðvík.


»Hoffentlich nicht«, sagte Víkingur. »Aber ich muss gestehen, dass ich mich gefragt habe, ob irgendeine ausländische Mafia sich vielleicht hierzulande mit diesen Horrortaten etwas aufbauen will. Da siehst du mal, was ich für Vorurteile habe.«              


Lúðvík schnaubte vor Empörung. »Seit wann wird es denn zu den Vorurteilen gezählt, wenn man einen Verdacht gegenüber Verbrechern hegt? Es ist gut, wenn man versucht, fair zu sein, aber in unserem Beruf ist es das Misstrauen, das Bestand hat ­ und nicht die Fairness. Unsere Rolle ist es nicht, die Regeln zu machen, sondern dafür zu sorgen, dass sie befolgt werden. Wir sind Wächter ­ keine Erzieher.«


»Wächter können auch fair sein«, sagte Víkingur.


»Tz, tz, ja, selbstverständlich«, sagte Lúðvík. »Sollten sie dann nicht auch noch gerecht sein?«


»Doch, das wäre wohl das Beste«, antwortete Víkingur.


»Da hast du was gesagt«, sagte Lúðvík. »Glücklicherweise gehört es nicht zum Aufgabengebiet der Polizei, zu beurteilen, wer schuldig und wer unschuldig ist. Dafür haben wir die Gerichte. Ein guter Polizist verurteilt niemanden, verdächtigt aber umso mehr.«


Víkingur wusste noch aus der Vergangenheit, wie viel Freude Lúðvík solche Streitgespräche machten, und er frohlockte, als er entgegnete: »Jetzt hast du dir selbst widersprochen. Gerade hast du gesagt, dass es zu unserem Job gehört, gegenüber Verbrechern Vorurteile zu haben. Und dann fügst du an, dass es nicht zu unserem Aufgabengebiet gehört, zu urteilen. Urteilen und vorverurteilen ist dasselbe, mit dem einzigen Unterschied, dass sich ein Urteil auf Gesetze stützt und ein Vorurteil nicht.«


Lúðvík stöhnte. »Ich hätte mir denken können, dass es für einen ungebildeten Juristen wie mich wenig Zweck hat, mich auf eine Haarspalterei mit einem hochgebildeten Theologen wie dir einzulassen. Wie viele Engel passen noch mal auf eine Nadelspitze?«


Víkingur lachte. Sie hatten in der Vergangenheit viele Stunden mit interessanten Diskursen verbracht, aber jetzt spürte er eine innere Unruhe.


Der Alte war sensibel. Lúðvík sah Víkingur an und fragte: »Halte ich dich auf?«


»Nein, ganz und gar nicht. Ich würde gern wissen, ob diese Zeichen bei dir eine Assoziation auslösen. Sind das Runen oder etwas anderes?«


Lúðvík brauchte einen kurzen Moment, um den Schärfepunkt auf den Blättern zu finden. Er begutachtete das Gekrakel schweigend.

 

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Dann legte er die Blätter ab, schob die Brille auf die Stirn und fragte: »Hast du das schon einem Spezialisten gezeigt?«


»Das habe ich noch nicht, aber ich habe Theódór drauf schauen lassen. Wenn er es nicht herausfindet, kann es niemand.«


»Theódór? Der ist doch schon in Rente. Ich war auf seinem siebzigsten Geburtstag, letztes Jahr oder vorletztes.«


»Er ist immer noch fit wie ein Turnschuh und arbeitet halbtags bei uns. Wir nennen es >externe Sachverständigenleistung<, damit die Personalabteilung keine Einwände macht.«


»Ich merke schon, dass du jede Menge zu tun hast«, sagte Lúðvík. »Ich danke dir, dass du dir die Zeit genommen hast, hier vorbeizuschauen. Allerdings war es gar nicht das, worüber ich mit dir sprechen wollte.«


»Sondern was?«


»Kommst du denn nicht selbst darauf?«


»Nein, wovon sprichst du?«


Der Polizeipräsident wiegte sich in seinem Sessel und sagte fast ein bisschen verlegen: »Du brauchst meinen Rat nicht und hast ihn nie gebraucht, um die Aufgaben zu lösen, die dir in deinem Beruf begegnen. Das Seltsame ist, dass du trotz deines klugen Kopfes nicht den Hauch von politischem Gespür hast und noch weniger den nötigen Selbsterhaltungstrieb für einen Mann, der von Haien umringt ist. Als ich aufgehört habe, bist du zum Polizeidirektor befördert worden, nicht wahr?«


»Ja, das weißt du doch. Ich weiß auch, wer darauf bestanden hat, dass ich die Stelle bekomme.«


»Das Problem ist nur, dass ich nicht mehr in einer Position bin, wo man auf etwas bestehen kann, und du hast die Stelle nur für ein Jahr bekommen.«


»Ich dachte, das sei einfach nur eine Formalie. Man hat mich offiziell für ein Jahr eingestellt, weil man noch keine Erfahrungen mit der Umstrukturierung hatte.


Willst du mir sagen, dass meine Stelle demnächst wieder ausgeschrieben wird?«


»Ich halte das für sehr wahrscheinlich«, sagte Lúðvík.


»Und leider fürchte ich, dass nicht nur du dich darauf bewerben wirst.«


»Niemand hat mehr Berufserfahrung als ich.«


»Die Stelle wird nicht nach Berufserfahrung, sondern nach Bildung vergeben.«


»Ich habe einen Universitätsabschluss.«


»Das weiß ich doch, aber einen Abschluss in Theologie. Was passiert, wenn sich irgendein Schlauberger aus dem Umfeld der Landespolizeichefin mit einem Diplom einer amerikanischen Universität in Deeskalationslehre und Verwaltungswissenschaften der öffentlichen Einrichtungen bewirbt?«


»Darüber habe ich ehrlich gesagt noch nicht nachgedacht«, sagte Víkingur. »Der Justizminister vergibt die Stellung vermutlich an denjenigen, den er für am fähigsten hält, in ihr etwas zu bewirken.« »Für ihn etwas zu bewirken«, sagte Lúðvík.


»Was meinst du?«, fragte Víkingur.


»Die Spitzenjobs im Staat werden seltenst danach besetzt, wer der Fähigste ist, sondern wer all denen am bravsten dient, die ihn in die Position berufen haben.


Jetzt sag mir nicht, du hältst es für nichts als einen lustigen Zufall, dass alle Polizeipräsidenten und Gemeindevorsteher hierzulande entweder in der Demokratiepartei oder der Bauernpartei sind. Sag mir nicht, dass du denselben Zufall für die Tatsache verantwortlich hältst, dass keine Linken am Obersten Gericht tätig sind.«


»Willst du mir sagen, dass ich der Demokratiepartei beitreten soll, damit ich auf meine Stelle berufen werden kann?«


»Pfui, dafür ist es viel zu spät. Das würde nicht reichen.


Das Einzige, was du tun kannst, ist, dich mit der Landespolizeichefin zu treffen und ihr zu sagen, dass du es sehr zu schätzen wüsstest, wenn sie dich für die Stelle empfehlen würde, und dass sie in Zukunft auf dich zählen könne. Zwischen euch besteht ja diese rätselhafte Hassliebe, sodass es sogar sein könnte, dass sie auf dich hört.«


Víkingur wusste, dass Lúðvík recht hatte. Als er die Stelle des Polizeidirektors, auf ein Jahr befristet, angetreten hatte, hatte er sofort das Gefühl gehabt, eine Fortsetzung sei ungewiss. Er war nur begrenzt an Politik interessiert und alles Gerede über die Korruption des Machtsystems und die Stellenvergabe aufgrund von Familienbanden und Verbindungen zu Regierungskreisen hatte er immer weit von sich gewiesen, denn er wollte daran glauben, in einer Gesellschaft zu leben, in der man die Menschen an ihren Meriten maß. Er hatte versucht, nicht wahrzunehmen, dass die Wirklichkeit eine ganz andere war. Es gab viel zu viele Ausnahmen von den vernünftigen Auswahlkriterien. Doch es gehörte nicht in sein Aufgabengebiet, etwas anderes als Verbrechen zu untersuchen. Es war Sache der Politiker, sich wie zivilisierte Menschen zu benehmen, und Sache der Journalisten und Medien, sie im Zaum zu halten und dafür zu sorgen, dass sie auf dem Teppich blieben.   

 


Wenn er in einer besseren Verfassung gewesen wäre, hätte Víkingur möglicherweise anders reagiert und auf weitere Ratschläge, wie er seine Stellung sichern konnte, gehört, aber er war gestresst wegen der gerade angelaufenen Untersuchung der Þingvellir-Morde und aufgewühlt wegen der Vorfälle um Þórhildur. Er wollte sich nicht noch mit Sorgen um seine zukünftige berufliche Sicherheit belasten, sondern beschloss, sie von sich zu schieben, und sagte: »Ich danke dir, dass du dir über mich Gedanken machst, aber du hast recht. Ich habe weder politisches Gespür noch genügend Selbsterhaltungstrieb, um in der Sache etwas zu tun. Ich bin schon etwas älter und vielleicht ist es ganz gut, wenn ein jüngerer Mann die Stelle übernimmt, dem es vielleicht leichterfällt, sich an die raschen Veränderungen in der Kriminalität anzupassen.


Das wird einfach so laufen müssen, wie es läuft. Ich hatte es mir nie zum Ziel gesetzt, als Polizeidirektor zu enden.«


»Verstehst du denn nicht, Víkingur, was es bedeutet, wenn du nicht unbefristet zum Polizeidirektor berufen wirst? Dann bedeutet das, dass dich keiner mehr bei der Polizei haben will. Auch wenn es im Laufe der Jahrhunderte immer Veränderungen in der Kriminalität geben wird, verändert sich doch die menschliche Natur ausgesprochen wenig. Deine große Schwäche ist, dass du glaubst, jeder, der nicht vorbestraft ist, sei dir freundlich gesonnen und setze sich für dein Wohlergehen ein. Das Leben wird dir schwergemacht werden, bis du selbst um die Auflösung deines Vertrages bitten wirst.«


»Das glaube ich nicht«, sagte Víkingur. »Warum sollte man mich loswerden wollen? Ich mache nur meinen Job und versuche ihn so gut zu machen, wie ich kann, und damit werde ich wohl kaum jemanden stören.«


»Du bist zu selbstständig. Du bist von niemandem abhängig und lässt dich von nichts anderem beherrschen als von dem, was du Fairness und Gerechtigkeitssinn nennst ­ von dem viele nicht einmal wissen, was das ist. Man weiß doch nie, auf welche Ideen so ein Mann kommt. Jetzt bin ich weg und habe keine Ahnung, ob dieser neue Vorgesetzte von dir Interesse an diesen seltenen Eigenschaften hat, die du hast. Wenn ja, dann ist alles in Ordnung. Wenn nicht ...«


Víkingur stand auf.


»So, jetzt muss ich wohl los. Wir bleiben in Kontakt.


Das geht alles seinen Gang. Aber ich möchte dich noch etwas fragen.«


Lúðvík wartete die Frage ab und lächelte dann, als er sie hörte: »Wo sich doch alles um Politik und Interessen dreht ­ wie kam es dann dazu, dass du Polizeipräsident wurdest?«


Die Antwort folgte sofort: »Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen war mein Vater in der Bauernpartei. Weil ich vermied, über Politik zu sprechen, vermutete man, dass ich ihr auch angehörte.


Zweitens hielt man mich für einen Vollidioten. Nachdem sich das als Irrtum herausstellte, brauchten sie elf Jahre, um mich aus dem Amt zu bekommen.«


*****


Wenngleich er geschwätzig war, konnte Þórhildur nur zufrieden mit ihrem Schüler sein. Sveinn arbeitete schnell und abgeklärt, seine Handbewegungen waren sicher und elegant, schließlich hatte er vor seiner Spezialisierung Chirurgie gelernt. Er ging so flink zu Werk, dass Þórhildur nicht einmal während ihrer Ausbildung in Australien jemanden gesehen hatte, der eine Autopsie in kürzerer Zeit abschließen konnte. Sie sprach Sveinn darauf an. Er freute sich offensichtlich über das Lob, denn Þórhildur ging normalerweise sparsam damit um.             


»Es wäre doch interessant zu sehen, wie viele Obduktionen wir an einem Tag schaffen können«, sagte er.


»Noch zwei warten vorne, ein Erhängter und ein Ertrunkener. Wenn wir sie beide heute fertig machen könnten, hätten wir den ganzen Tag morgen für die Protokolle.«  


»Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals drei Obduktionen an einem Tag gemacht zu haben«, sagte Þórhildur. »Sollen wir es nicht gut sein lassen und die anderen beiden Autopsien bis morgen aufheben?«


Aber Sveinn war nicht willens, schon aufzuhören.


»Wenn du müde bist, kann ich mich noch um eine kümmern, bevor ich nach Hause fahre«, sagte er. »Ich habe Zeit. Mich erwartet niemand.«


Þórhildur verzichtete darauf, zu fragen, warum ihn niemand zu Hause erwartete. Sie erinnerte sich daran, dass er einmal gesagt hatte, er lebe in einer kinderlosen Partnerschaft. Die Partnerin schien entweder auf Reisen zu sein oder die Beziehung war auseinandergegangen.


Þórhildur hatte nicht genug Energie, um sich für das Privatleben ihres Schülers zu interessieren. Sie hatte genug mit ihrem eigenen zu tun.


Jedes Mal, bevor sie sich einem weiteren Leichnam zuwandten, begab sich Þórhildur ins Bad. Sie wusch sich die Hände, steckte eine Hand in die Tasche ihres Umhangs und nahm die weißen Tabletten heraus. Sie steckte sich zwei in den Mund und spülte sie mit einem Schluck Wasser aus dem Wasserhahn hinunter. Sie betrachtete sich gründlich im Spiegel. Nichts an ihrem Aussehen war unnatürlich, außer dass ihr Ausdruck so düster war.


Sie versuchte zu lächeln, aber das Lächeln war falsch. Sie hatte ein schlechtes Gewissen wegen ihres Mannes. Sie hatte ihm Offenheit und Aufrichtigkeit versprochen und dass alles wieder so würde, wie es war.


Bald wird wieder alles, wie es war, dachte sie. Bis dahin muss ich einfach so tun, als ob es schon so sei. Wegen Víkingur. Seinetwegen muss ich mich behaupten. Ich bin kein Junkie, auch wenn ich Medikamente nehme, um über den Tag zu kommen. Ich bin Ärztin und weiß, was mir nicht schadet. Am liebsten würde ich alle Tabletten schlucken, die ich in der Tasche habe, und von allem davonschweben. Aber tue ich es? Nein. Ich nehme immer nur zwei. Das würde ein Junkie nicht schaffen. Ein Junkie würde sich in den Schutz des Rausches flüchten.


Das tue ich nicht. Ich widerstehe dem Medikamentenmissbrauch. Ich benutze die Medikamente nur, um trocken zu werden. Und wenn ich trocken bin, täusche ich niemanden.


*****


Nachdem sie den dritten Leichnam seziert hatten, legten sie gemeinsam fest, welche Informationen sie der Polizei zukommen lassen konnten, schon bevor der eigentliche Autopsiebericht geschrieben war. Sie waren sich einig, dass, wenn man das Klima der letzten Zeit und die vermutliche Temperatur im Sommerhaus in Betracht zog, mindestens fünf Tage vergangen sein mussten, seit die Männer getötet worden waren. Von denselben Grundlagen ausgehend konnten kaum mehr als zehn Tage seit dem Tod der Männer vergangen sein.


»Ohne Gewähr würde ich sagen, eher fünf als zehn«, sagte Sveinn. »Wie der Fette im Inneren aussah, hat nichts zu bedeuten. Wenn das Gedärm durchstochen wird, sind die Bakterien schnell auf dem Plan. Verdammt, es war Wahnsinn, zu sehen, wie der Besenstiel nach rechts gerichtet worden ist, um das Herz zu umgehen.«


Þórhildur war es nicht gewohnt, das Auftreten anderer Menschen kommentieren zu müssen. Diesmal war es aber wohl angebracht.


»Entschuldige, Sveinn«, sagte sie, anstatt ihn mit Svenni anzusprechen, wie sie es gewöhnlich tat. »Ein Rechtsmediziner darf keine Ausdrücke wie >der Fette< benutzen, wenn er von Toten spricht, die ihm anvertraut wurden. Und dann flucht man auch nicht am Arbeitsplatz. Das gesamte Auftreten eines Rechtsmediziners soll von Respekt seiner Aufgabe gegenüber und von wissenschaftlichem Interesse geprägt sein. Der Sinn unserer Tätigkeit ist es, nach der Wahrheit zu suchen. Das dürfen wir nicht vergessen. Es ist tödlicher Ernst. Das Schild dort an der Wand hängt da, um uns daran zu erinnern.«


In Sektionssälen in der ganzen Welt hängen Schilder, die dasselbe lateinische Zitat tragen:
Hic locus est ubi mors gaudet succurrere vitae.


An diesem Ort freut sich der Tod, dem Leben beizustehen.
Þórhildur war erstaunt, wie nahe Sveinn diese freundliche Anmerkung zu gehen schien. Er hatte vor Zufriedenheit über das Lob gestrahlt, das er für seine Handfertigkeit und die flinke Arbeitsweise bekommen hatte.


Jetzt fiel ihm das Lächeln aus dem Gesicht, und einen kurzen Augenblick lang schien es Þórhildur, als bräche er gleich in Tränen aus.


»Was soll das?«, murmelte er. »Alles ist vergänglich. Es ist ja nicht so, als wären es lebendige Menschen.«


Plötzlich ist er empfindlich, dachte sie. Eine ordinäre Ausdrucksweise ist ja oft ein Zeichen dafür, dass die Menschen dünnhäutig sind.


Dennoch tat es ihr leid, wie bedrückt der Kerl war.


Deswegen konnte sie sich nicht dazu durchringen, kompromisslos Nein zu sagen, als Sveinn sie wieder drängte, nicht aufzuhören, bevor sie ihren bisherigen Rekord an Autopsien an einem Tag überboten hatten.


Um sich von der Betroffenheit ihres Schülers freizukaufen, hörte sie sich selbst vorschlagen, eine weitere Obduktion vorzunehmen. »Nicht, um irgendwelche Rekorde zu brechen«, sagte sie. »Sondern weil du heute so gut drauf bist. Und du hast auch recht, dann haben wir morgen mehr Zeit, die Berichte zu verfassen.«


Sveinn konnte seine Zufriedenheit nicht verbergen, auch wenn er schon alt genug war, um sich Luftsprünge und Hurrarufe zu sparen.


So sind sie alle, diese Jungs, dachte sie. Ständig mühen sie sich ab, irgendwelche Heldentaten zu vollbringen und Rekorde aufzustellen, nur damit sie Lob bekommen.


Sogleich fühlte sie einen schmerzhaften Stich im Herzen, als sie an den Jungen dachte, der sich nicht nach ihrem Lob sehnte.


Magnús, wo bist du?, dachte sie. Lass mich wissen, wo du gelandet bist. Gib mir eine Gelegenheit, dir zu sagen, wie sehr ich mich selbst dafür hasse, dass ich dich enttäuscht habe. Gib mir nur eine Gelegenheit, dir meine Fürsorge zu zeigen.


Sie bemerkte, dass Sveinn dastand und sie anschaute.


Er hatte sie anscheinend nach etwas gefragt und wartete auf die Antwort.


»Entschuldige«, sagte sie. »Ich war irgendwie abwesend. Was hast du gesagt?«


»Ich habe dich gefragt, ob du den Gehängten oder den Ertrunkenen nehmen willst?«


»Das kommt für mich auf dasselbe heraus«, sagte sie.


»Du hast sie entgegengenommen, als ich im Ausland war.


Du entscheidest.«


Jetzt konnte Sveinn seine Zufriedenheit nicht länger verhehlen. Er strahlte geradewegs, dass er diese Anerkennung seiner Mentorin bekommen hatte.   

 


»Dann schlage ich vor, dass wir den Gehängten nehmen. Es handelt sich allerdings um einen Selbstmord und der Zeitpunkt ist ziemlich gesichert. Aber interessant deswegen, weil ich noch nie von einem Mann gehört habe, der über eins achtzig ist und sich an einem Türgriff von nur einem Meter zehn Höhe erhängt hat. Der Mann hat sich mit seinem Gürtel aufgeknüpft«, fügte er erklärend hinzu. »Ich habe ihn selbst gestern Morgen im Playboy-Club abgeschnitten, bevor ich runter nach Þingvellir musste. Ich bin ziemlich gespannt darauf, was wir finden.«


Es war zu spät für Þórhildur, ihre Meinung doch noch zu ändern.


»Ich muss kurz ins Bad«, sagte sie. »Ich bin gleich wieder da.«


»Lass dir Zeit«, sagte Sveinn. »Ich kümmere mich darum, alles vorzubereiten, sodass wir in null Komma nichts fertig sein werden.« Sie ging wieder ins Bad. Sah wieder in den Spiegel. Sie erschrak, als sie sich selbst sah.


Víkingur merkt bestimmt, dass mein Gesicht wie eingefroren ist.


Entspanne dich, Mensch, er wird nichts bemerken. Du bist einfach ein bisschen ausgelaugt.


Sie schluckte die Pillen mit Leitungswasser hinunter.


Sah dann wieder in den Spiegel und machte Grimassen, riss den Mund auf und lockerte den Unterkiefer. Sie war nicht mehr eingefroren.


*****


In Reykjavík war das Gästehaus Hlynur als Playboy-Club bekannt. Diese Bezeichnung rührte nicht daher, dass es im Inneren so exquisit ausgesehen hätte, sondern war dadurch entstanden, dass die Gäste nur in Ausnahmefällen ausländische Reisende waren. Meistens waren es Männer, die frisch geschieden waren, in Trennung lebten oder denen eine Scheidung drohte. Trunksüchtige, die mehrmals im Jahr von zu Hause verschwanden, um sich volllaufen zu lassen, fanden dort ebenso Unterschlupf wie Ehebrecher, die auf frischer Tat ertappt und davongejagt worden waren.


Viele glaubten, im Playboy-Club herrschten stete Gaudi und Munterkeit, und stellten sich vor, die Gäste würden von leichtbekleideten Bunnys bedient. Nichts war jedoch unzutreffender als das, denn Zimmerservice gab es keinen und um Empfang und Reinigung kümmerten sich zwei Männer, die in Wechselschicht arbeiteten.


Der eine hieß Inunnguaq Jensen, genannt Nonni Quak, und war ein Grönländer, der erlöst worden war und aufgehört hatte zu trinken. Dann hatte er angefangen, im Playboy-Club zu arbeiten, um seine durch Sauftouren entstandenen Schulden begleichen zu können. Der andere hieß Phiwokwakhe Mphikeleli, Feigenlilli oder kurz Lilli von den Stammgästen genannt, die in der Regel zu stark lallten, um ihre eigenen Namen aussprechen zu können, ganz zu schweigen von fremdsprachlichen Namen. Er stammte aus Südafrika und behauptete, von Shaka kaSenzangakhona abzustammen, der 1816­1828 König der Zulu war. Inunnguaq und Phiwokwakhe waren beide nach Island gezogen, weil sie isländische Frauen kennengelernt hatten, Nonni Quak in Kopenhagen und Feigenlilli in London. Beide hatten getrunken und die Frauen in die Flucht geprügelt, aber dann wurden sie vom Alkoholismus befreit durch das Blut des Lammes und die Vermittlung eines gewissen Sigurður, der Sankt Sigurður genannt wurde und Vorsitzender der Sekte »Der Kelch« gewesen war, bevor er wegen Unterschlagung und freizügiger Sexualkontakte mit seinen Schützlingen im Gefängnis landete.


Als Nonni Quak zur Arbeit erschien, hatte er die Flure des Gästehauses und zwei freie Zimmer, Nummer 13 und Nummer 28, zu putzen. Als er zum letztgenannten Raum kam und den Schlüssel im Schloss drehte, wollte sich die Tür nicht öffnen lassen. Es war, als hielte jemand dagegen. Mit ganzer Kraft gelang es Nonni jedoch, die Tür weit genug zu öffnen, um hineinspähen zu können, und dann sah er, was die Ursache war. Im Zimmer, das leer sein sollte, war ein Übernachtungsgast gewesen, der sich aus irgendeinem Grunde nicht in der Lage gefühlt hatte, die helle Sommernacht zu überstehen, und Selbstmord begangen hatte. Der Mann hatte sich erhängt, indem er das eine Ende seines Gürtels an der Türklinke befestigt und das andere Ende um seinen Hals geschlungen hatte. Dann hatte er sich mit dem Rücken zur Tür heruntersacken lassen und auf seinen Tod gewartet, während der Gürtel seinen Hals einengte.              


Es war nicht das erste Mal, dass Nonni einen toten Hotelgast auffand, und ohne zu zögern rief er die Polizei an. Zwei junge Männer, die über den Sommer vertretungsweise im Einsatz waren, wurden an den Ort des Geschehens geschickt mit der Anordnung, die Leiche nicht zu berühren, bevor der Rechtsmediziner eingetroffen war. Also tranken sie in einer kleinen Ecke der Küche bei Nonni Kaffee, während sie auf Sveinn warteten, der wegen Þórhildurs Abwesenheit Bereitschaft hatte.


Als Sveinn zum Tatort kam, gelangte er schnell zum selben Ergebnis wie Nonni, nämlich dass es sich um einen Selbstmord handele. Die starke Alkoholfahne des Leichnams wies darauf hin, dass der Mann betrunken gewesen war, was eine Erklärung dafür sein konnte, wie er dieses unbequeme Erhängen ertragen haben konnte, ohne aufzustehen und sich eine geeignetere Örtlichkeit zu suchen. Nichts im Raum gab Anlass zu der Annahme, dass sich Handgreiflichkeiten ereignet hatten. Das einzig Ungewöhnliche war, dass der Mann keine Papiere bei sich trug und niemand dieses Zimmer für diese Nacht gebucht hatte.


Mit einem scharfen Messer schnitt Sveinn den Gürtel so nahe wie möglich an der Türklinke entzwei und beließ jenen Teil, der sich in den Hals eingegraben hatte, an der Leiche. Es gab keinen Grund, den Gürtel vom Hals zu lösen, denn der Mann war offenbar seit geraumer Zeit tot. Er war bereits kalt und die Totenstarre eingetreten.


Sveinn vermutete, dass der Mann vor ungefähr zwölf Stunden gestorben war. Er hatte nicht viel Zeit für weitere Überlegungen an Ort und Stelle, da ihn die Nachricht erreichte, es habe höchste Priorität, dass er zu einem bestimmten Sommerhaus in Grafningur führe und alles mitbrächte, was man für die Untersuchung eines Mordes am Tatort bräuchte.


Sveinn gab daher sein Fazit zu Protokoll, dass es sich um Selbstmord handele, und übergab die Leiche den beiden Urlaubsvertretungen, die dann einen Krankenwagen verständigten, um den Leichnam ins Leichenschauhaus zu transportieren.


Trotz der Arbeitslast am Vortag und den drei Obduktionen an diesem Tag freute sich Sveinn darauf, die Bekanntschaft mit dem Mann aufleben zu lassen, den er in so großer Hast im Gästehaus hatte zurücklassen müssen.


Die Methode, die der Mann gewählt hatte, war eher ungewöhnlich, und in seinem Beruf begrüßte Sveinn alles mit offenen Armen, was ungewöhnlich war.


Jetzt lag der erhängte Mann auf dem Sektionstisch. Die Kleidung war entfernt worden, die Totenstarre größtenteils gewichen und die Leiche lag auf dem Rücken. Der Gürtel war noch immer fest um den Hals geschlungen, das Gesicht wies von Sveinn und der Tür des Sektionssaals weg.


Als Þórhildur in die Tür trat, blickte sie an Sveinn vorbei in Richtung des Leichnams. Ihr Blick blieb gleich an dem Gürtel hängen. Sie erschrak, starrte ihn fassungslos an und ging dann mit unsicheren Schritten zum Sektionstisch. Sie erkannte die Gürtelschnalle, die unterhalb des linken Ohrs der Leiche ruhte. Im Frühling, am ersten Mai, hatte sie ihrem Sohn diesen Gürtel zum Geburtstag geschenkt. Die Schnalle war aus poliertem Stahl und in ihrer Mitte war der Buchstabe M ausgeschnitten. Sein Buchstabe. Magnús war ein Maikind, er war ihr im Frühling des Lebens geboren worden, einem Frühling, den sie selbst zu einem kalten Herbst gemacht hatte.


Sie hielt am Sektionstisch inne und beugte sich über den Leichnam, um sein Gesicht zu sehen. Der Ausdruck des Toten war entstellt von der Qual. Die Zunge, die fast durchgebissen war, hing aus dem Mund. An der linken Augenbraue war ein blutiger Schnitt und an der Schläfe ein blauer Fleck.


Einen kurzen Moment wirkte es auf sie wie ein schlimmer Traum, ein Albtraum, und innerhalb kurzer Zeit würde sie aufwachen ­ aber sie wusste es besser. Die Wirklichkeit ist derjenige Traum, dem man nicht entkommt, bis der Tod seine schwarzen Flügel über Freude und Sorgen breitet. Endgültig. Für immer. In alle Ewigkeit. Keine Sorgen mehr. Nie wieder Freude.


Mit unsicherer Hand strich sie das Haar von der Stirn des Leichnams und schrak auf, als etwas brennend Heißes auf ihren Handrücken fiel. Es war eine Träne. Sie weinte, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben, und die Tränen rannen von ihrem Handrücken auf die geschlossenen Augenlider ihres Jungen und seine Wangen herab. So weinten Mutter und Sohn gemeinsam über die tödliche Finsternis, die ihr Leben entzweit hatte, um es erneut im Tode zu vereinen.