Dass Víkingur nicht, wie lose vereinbart, zur
Nachmittagsbesprechung ging, lag daran, dass der Polizeipräsident
Lúðvík Ásmundsson ihn angerufen und um einen Besuch bei sich zu
Hause in der Weststadt gebeten hatte.
Lúðvík war eigentlich der ehemalige Polizeipräsident.
Vor einem Jahr hatte eine Restrukturierung der Polizei dazu
geführt, dass ihm eine Vertragsauflösung angeboten wurde, um die
zwanzig Monate zu überbrücken, die er noch bis zur Rente
hatte.
Der Ex-Polizeipräsident, der verächtlich oft »Dressman« genannt
worden war wegen seiner völlig fehlenden Eitelkeit in Sachen
Kleidung, kam selbst zur Tür. Sogar Víkingur ging das Aussehen
seines Freundes diesmal zu weit. Er trug einen grasgrünen
Jogginganzug und seine nackten Füße steckten in grauen
Filzpantoffeln, die »Ratten« genannt werden.
Der Polizeipräsident streckte seine Pranke aus und zog seinen Gast
ins Haus, dann steckte er den Kopf zum Türspalt hinaus und blickte
sich in der Umgebung um.
Schloss die Haustür und wies Víkingur den Weg ins
Wohnzimmer.
»Du hast doch nicht herumerzählt, dass wir uns verabredet haben,
oder?«, fragte er, als sie sich gesetzt hatten.
»Nein, ich glaube, ich habe es noch niemandem gegenüber erwähnt«,
sagte Víkingur. »Gut, gut«, sagte Lúðvík. »Belassen wir es auch
dabei.
Soll ich meine Frau bitten, uns Kaffee zu machen?«
»Nein, danke, ich versuche gerade, das Kaffeesaufen etwas
einzudämmen. Habe ich das richtig verstanden?
Es soll ein Geheimnis bleiben, wenn ich dich, als meinen ehemaligen
Vorgesetzten, besuche?«
»Nein, auf keinen Fall. Also so betrachtet nicht«, sagte Lúðvík und
lächelte wie gewöhnlich, wenn er etwas anderes sagte, als er
meinte. »Es ist nun mal mit Wissen und Informationen genauso wie
mit Alkohol, die Menschen vertragen sie unterschiedlich gut. Manche
vertragen jede Menge. Andere verlieren gleich nach dem ersten Glas
den Verstand. Und je schlechter die Menschen Alkohol vertragen,
desto versessener sind sie darauf.«
»Was für ein Quatsch«, sagte Víkingur. »Ich kenne Trunkenbolde, die
Unmengen vertragen können.«
»Ja, die Ausnahme bestätigt die Regel«, sagte der ehemalige
Polizeipräsident, wie immer, wenn er auf eine Lücke in seiner
Argumentation aufmerksam gemacht wurde. »Wahrscheinlich bin ich so
ein Informationsschluckspecht. Ich weiß leider alles Mögliche und
Unmögliche. Was würde ich mir wünschen, nicht so viel zu wissen.
Das war allerdings nicht der Grund, weshalb ich dich bat, bei mir
vorbeizuschauen. Sag mir, wie geht es dir?«
»Meinst du den Þingvellir-Fall oder einfach so
generell?«
»Beides.«
»Es gibt keine eindeutige Spur, die wir verfolgen können. Die
meisten Mordfälle lösen sich eigentlich von selbst, sobald man
beginnt, sie zu untersuchen, weil sie in einem Anfall von Raserei
begangen wurden. Das hier ist anders. Es erinnert mehr an
schauerliche Hinrichtungen als an Mord. So wie es zurzeit steht,
haben wir keinen Verdacht, warum diese Männer ermordet wurden. Wenn
wir das herausfinden, glaube ich, finden wir auch denjenigen oder
diejenigen, die dort am Werk waren.«
»Habt ihr irgendwelche Hinweise bekommen?«
»Nein, das kann man so nicht sagen. Wir wollen uns aber die
wichtigsten Konkurrenten in der Pornobranche ansehen. Du erinnerst
dich an Guðfinnur Bertholds?«
Lúðvík verzog seinen Mund zur Andeutung eines Lächelns, als er
sagte: »Irgendetwas sagt mir der Name. Schließlich ist es weniger
als ein Jahr her, dass ich aufgehört habe, und ich bin noch nicht
vollkommen gaga, auch wenn ich selbstverständlich auf einem guten
Weg bin, es zu werden.«
»Ja, natürlich erinnerst du dich an ihn. Elli und er waren bis vor
zwei Jahren dicke Freunde. Sie waren unzertrennlich. Dann ist etwas
passiert und fortan waren sie wie Hund und Katze. Wir müssen noch
herausfinden, was das Ende der Freundschaft verursachte.«
»Vielerlei Gründe können zu so einer Hinrichtung führen, auch wenn
letztlich vielleicht ein bestimmter Aspekt der Tropfen ist, der das
Fass zum Überlaufen bringt.«
»Kriminologen sprechen von sechs Hauptmotiven für Morde. Auf die
Schnelle würde ich sagen, dass vier von diesen infrage kommen
könnten: Wut, Angst, Gier und Rache.«
»Und die beiden anderen?«
»Begierde und Eifersucht«, sagte Víkingur. »Ich halte es für
unwahrscheinlich, dass jemand diese drei Männer aus Eifersucht oder
einer Art sexueller Begierde getötet haben soll.«
»Was ist mit dem Pfählen? Dem Besenstiel?« »Besenstiel? Wie kommst
du darauf? Ich habe noch keine Obduktionsergebnisse
bekommen.«
»Man erfährt alles Mögliche«, sagte Lúðvík. »Ich habe mich eben
kurz bei Þórhildur gemeldet und es kann sein, dass sie das
vertraulich erwähnte.«
»Ich glaube, das Pfählen war nicht das Ziel, auch wenn es darauf
hinweist, dass derjenige, der es getan hat, von einer Art Sadismus
erfüllt ist. Die Worte, die mir als Erstes in den Sinn kamen, als
ich das sah, waren Grausamkeit und Hass. Man braucht viel
Grausamkeit, um Menschen so zuzurichten oder bodenlosen
Hass.«
»Können wir dann nicht Gier als Motiv vernachlässigen?«, fragte
Lúðvík. »Dann wären nur noch drei Motive übrig.«
»Ich schließe kein Motiv von vornherein aus«, sagte Víkingur.
»Abgesehen davon ist denjenigen, die so etwas tun, in den
seltensten Fällen bewusst, dass die Kriminologie nur sechs
anerkannte Motive vorsieht. Und dann dürfen wir auch nicht
vergessen, dass Morde, sofern sie nicht von Auftragskillern
ausgeführt werden, meistens von Menschen verübt werden, die nicht
mal ein Fahrzeug steuern könnten, geschweige denn sich selbst.
Trotzdem glaube ich, dass diese Tat nicht im Rausch begangen wurde.
Es ist eine Heidenarbeit, drei Männer auf diese Weise zu Tode zu
martern, abgesehen davon, sie in das Sommerhaus zu bringen und
dafür zu sorgen, dass keiner entwischt.«
»Glück?«, fragte Lúðvík. »Narrenglück wenn man in diesem
Zusammenhang von Glück sprechen darf?«
»Nein«, sagte Víkingur. »Es gibt noch andere Aspekte.« Er griff in
seine Jackentasche und zog einige zusammengefaltete Blätter heraus.
»Schau dir das mal an.« Neben Fotos vom Tatort waren es auch die
Bilder aus Holland.
»Ach, ich muss meine Lesebrille suchen«, sagte Lúðvík und wollte
aufstehen.
»Kannst du nicht die Brille benutzen, die du auf der Stirn hast?«,
fragte Víkingur.
»So ist das, wenn man alt wird«, sagte Lúðvík, schob die Brille
herunter auf seine Nase und begann, die Bilder durchzusehen. »Ich
hätte nie gedacht, dass ich einmal alt werde. Ich dachte, ich
bliebe immer jung.«
Víkingur fand den Gedanken skurril. Er versuchte, sich einen jungen
Lúðvík vorzustellen. Es gelang ihm nicht.
Als Lúðvík sich die Brille zurechtgerückt und die richtige
Entfernung gefunden hatte, um die Fotos scharf zu sehen, erzählte
Víkingur ihm von der Reise nach Holland und den Zeichen auf den
Leichen.
»Das kann alles Mögliche sein«, sagte Lúðvík. »Warum glauben die
Holländer, dass es isländisch sei?«
»Sie haben auch Reste einer isländischen Zeitung bei einem der
Leichname gefunden und uns deswegen kontaktiert.«
»Ja, alles muss seine Richtigkeit haben«, sagte Lúðvík.
»Hoffentlich nicht«, sagte Víkingur. »Aber ich muss gestehen, dass
ich mich gefragt habe, ob irgendeine ausländische Mafia sich
vielleicht hierzulande mit diesen Horrortaten etwas aufbauen will.
Da siehst du mal, was ich für Vorurteile habe.«
Lúðvík schnaubte vor Empörung. »Seit wann wird es denn zu den
Vorurteilen gezählt, wenn man einen Verdacht gegenüber Verbrechern
hegt? Es ist gut, wenn man versucht, fair zu sein, aber in unserem
Beruf ist es das Misstrauen, das Bestand hat und nicht die
Fairness. Unsere Rolle ist es nicht, die Regeln zu machen, sondern
dafür zu sorgen, dass sie befolgt werden. Wir sind Wächter keine
Erzieher.«
»Wächter können auch fair sein«, sagte Víkingur.
»Tz, tz, ja, selbstverständlich«, sagte Lúðvík. »Sollten sie dann
nicht auch noch gerecht sein?«
»Doch, das wäre wohl das Beste«, antwortete Víkingur.
»Da hast du was gesagt«, sagte Lúðvík. »Glücklicherweise gehört es
nicht zum Aufgabengebiet der Polizei, zu beurteilen, wer schuldig
und wer unschuldig ist. Dafür haben wir die Gerichte. Ein guter
Polizist verurteilt niemanden, verdächtigt aber umso
mehr.«
Víkingur wusste noch aus der Vergangenheit, wie viel Freude Lúðvík
solche Streitgespräche machten, und er frohlockte, als er
entgegnete: »Jetzt hast du dir selbst widersprochen. Gerade hast du
gesagt, dass es zu unserem Job gehört, gegenüber Verbrechern
Vorurteile zu haben. Und dann fügst du an, dass es nicht zu unserem
Aufgabengebiet gehört, zu urteilen. Urteilen und vorverurteilen ist
dasselbe, mit dem einzigen Unterschied, dass sich ein Urteil auf
Gesetze stützt und ein Vorurteil nicht.«
Lúðvík stöhnte. »Ich hätte mir denken können, dass es für einen
ungebildeten Juristen wie mich wenig Zweck hat, mich auf eine
Haarspalterei mit einem hochgebildeten Theologen wie dir
einzulassen. Wie viele Engel passen noch mal auf eine
Nadelspitze?«
Víkingur lachte. Sie hatten in der Vergangenheit viele Stunden mit
interessanten Diskursen verbracht, aber jetzt spürte er eine innere
Unruhe.
Der Alte war sensibel. Lúðvík sah Víkingur an und fragte: »Halte
ich dich auf?«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich würde gern wissen, ob diese Zeichen
bei dir eine Assoziation auslösen. Sind das Runen oder etwas
anderes?«
Lúðvík brauchte einen kurzen Moment, um den Schärfepunkt auf den
Blättern zu finden. Er begutachtete das Gekrakel
schweigend.
Dann legte er die Blätter ab, schob die Brille auf die Stirn und
fragte: »Hast du das schon einem Spezialisten gezeigt?«
»Das habe ich noch nicht, aber ich habe Theódór drauf schauen
lassen. Wenn er es nicht herausfindet, kann es niemand.«
»Theódór? Der ist doch schon in Rente. Ich war auf seinem
siebzigsten Geburtstag, letztes Jahr oder vorletztes.«
»Er ist immer noch fit wie ein Turnschuh und arbeitet halbtags bei
uns. Wir nennen es >externe Sachverständigenleistung<, damit
die Personalabteilung keine Einwände macht.«
»Ich merke schon, dass du jede Menge zu tun hast«, sagte Lúðvík.
»Ich danke dir, dass du dir die Zeit genommen hast, hier
vorbeizuschauen. Allerdings war es gar nicht das, worüber ich mit
dir sprechen wollte.«
»Sondern was?«
»Kommst du denn nicht selbst darauf?«
»Nein, wovon sprichst du?«
Der Polizeipräsident wiegte sich in seinem Sessel und sagte fast
ein bisschen verlegen: »Du brauchst meinen Rat nicht und hast ihn
nie gebraucht, um die Aufgaben zu lösen, die dir in deinem Beruf
begegnen. Das Seltsame ist, dass du trotz deines klugen Kopfes
nicht den Hauch von politischem Gespür hast und noch weniger den
nötigen Selbsterhaltungstrieb für einen Mann, der von Haien umringt
ist. Als ich aufgehört habe, bist du zum Polizeidirektor befördert
worden, nicht wahr?«
»Ja, das weißt du doch. Ich weiß auch, wer darauf bestanden hat,
dass ich die Stelle bekomme.«
»Das Problem ist nur, dass ich nicht mehr in einer Position bin, wo
man auf etwas bestehen kann, und du hast die Stelle nur für ein
Jahr bekommen.«
»Ich dachte, das sei einfach nur eine Formalie. Man hat mich
offiziell für ein Jahr eingestellt, weil man noch keine Erfahrungen
mit der Umstrukturierung hatte.
Willst du mir sagen, dass meine Stelle demnächst wieder
ausgeschrieben wird?«
»Ich halte das für sehr wahrscheinlich«, sagte Lúðvík.
»Und leider fürchte ich, dass nicht nur du dich darauf bewerben
wirst.«
»Niemand hat mehr Berufserfahrung als ich.«
»Die Stelle wird nicht nach Berufserfahrung, sondern nach Bildung
vergeben.«
»Ich habe einen Universitätsabschluss.«
»Das weiß ich doch, aber einen Abschluss in Theologie. Was
passiert, wenn sich irgendein Schlauberger aus dem Umfeld der
Landespolizeichefin mit einem Diplom einer amerikanischen
Universität in Deeskalationslehre und Verwaltungswissenschaften der
öffentlichen Einrichtungen bewirbt?«
»Darüber habe ich ehrlich gesagt noch nicht nachgedacht«, sagte
Víkingur. »Der Justizminister vergibt die Stellung vermutlich an
denjenigen, den er für am fähigsten hält, in ihr etwas zu
bewirken.« »Für ihn etwas zu bewirken«, sagte Lúðvík.
»Was meinst du?«, fragte Víkingur.
»Die Spitzenjobs im Staat werden seltenst danach besetzt, wer der
Fähigste ist, sondern wer all denen am bravsten dient, die ihn in
die Position berufen haben.
Jetzt sag mir nicht, du hältst es für nichts als einen lustigen
Zufall, dass alle Polizeipräsidenten und Gemeindevorsteher
hierzulande entweder in der Demokratiepartei oder der Bauernpartei
sind. Sag mir nicht, dass du denselben Zufall für die Tatsache
verantwortlich hältst, dass keine Linken am Obersten Gericht tätig
sind.«
»Willst du mir sagen, dass ich der Demokratiepartei beitreten soll,
damit ich auf meine Stelle berufen werden kann?«
»Pfui, dafür ist es viel zu spät. Das würde nicht
reichen.
Das Einzige, was du tun kannst, ist, dich mit der
Landespolizeichefin zu treffen und ihr zu sagen, dass du es sehr zu
schätzen wüsstest, wenn sie dich für die Stelle empfehlen würde,
und dass sie in Zukunft auf dich zählen könne. Zwischen euch
besteht ja diese rätselhafte Hassliebe, sodass es sogar sein
könnte, dass sie auf dich hört.«
Víkingur wusste, dass Lúðvík recht hatte. Als er die Stelle des
Polizeidirektors, auf ein Jahr befristet, angetreten hatte, hatte
er sofort das Gefühl gehabt, eine Fortsetzung sei ungewiss. Er war
nur begrenzt an Politik interessiert und alles Gerede über die
Korruption des Machtsystems und die Stellenvergabe aufgrund von
Familienbanden und Verbindungen zu Regierungskreisen hatte er immer
weit von sich gewiesen, denn er wollte daran glauben, in einer
Gesellschaft zu leben, in der man die Menschen an ihren Meriten
maß. Er hatte versucht, nicht wahrzunehmen, dass die Wirklichkeit
eine ganz andere war. Es gab viel zu viele Ausnahmen von den
vernünftigen Auswahlkriterien. Doch es gehörte nicht in sein
Aufgabengebiet, etwas anderes als Verbrechen zu untersuchen. Es war
Sache der Politiker, sich wie zivilisierte Menschen zu benehmen,
und Sache der Journalisten und Medien, sie im Zaum zu halten und
dafür zu sorgen, dass sie auf dem Teppich blieben.
Wenn er in einer besseren Verfassung gewesen wäre, hätte Víkingur
möglicherweise anders reagiert und auf weitere Ratschläge, wie er
seine Stellung sichern konnte, gehört, aber er war gestresst wegen
der gerade angelaufenen Untersuchung der Þingvellir-Morde und
aufgewühlt wegen der Vorfälle um Þórhildur. Er wollte sich nicht
noch mit Sorgen um seine zukünftige berufliche Sicherheit belasten,
sondern beschloss, sie von sich zu schieben, und sagte: »Ich danke
dir, dass du dir über mich Gedanken machst, aber du hast recht. Ich
habe weder politisches Gespür noch genügend Selbsterhaltungstrieb,
um in der Sache etwas zu tun. Ich bin schon etwas älter und
vielleicht ist es ganz gut, wenn ein jüngerer Mann die Stelle
übernimmt, dem es vielleicht leichterfällt, sich an die raschen
Veränderungen in der Kriminalität anzupassen.
Das wird einfach so laufen müssen, wie es läuft. Ich hatte es mir
nie zum Ziel gesetzt, als Polizeidirektor zu enden.«
»Verstehst du denn nicht, Víkingur, was es bedeutet, wenn du nicht
unbefristet zum Polizeidirektor berufen wirst? Dann bedeutet das,
dass dich keiner mehr bei der Polizei haben will. Auch wenn es im
Laufe der Jahrhunderte immer Veränderungen in der Kriminalität
geben wird, verändert sich doch die menschliche Natur ausgesprochen
wenig. Deine große Schwäche ist, dass du glaubst, jeder, der nicht
vorbestraft ist, sei dir freundlich gesonnen und setze sich für
dein Wohlergehen ein. Das Leben wird dir schwergemacht werden, bis
du selbst um die Auflösung deines Vertrages bitten
wirst.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Víkingur. »Warum sollte man mich
loswerden wollen? Ich mache nur meinen Job und versuche ihn so gut
zu machen, wie ich kann, und damit werde ich wohl kaum jemanden
stören.«
»Du bist zu selbstständig. Du bist von niemandem abhängig und lässt
dich von nichts anderem beherrschen als von dem, was du Fairness
und Gerechtigkeitssinn nennst von dem viele nicht einmal wissen,
was das ist. Man weiß doch nie, auf welche Ideen so ein Mann kommt.
Jetzt bin ich weg und habe keine Ahnung, ob dieser neue Vorgesetzte
von dir Interesse an diesen seltenen Eigenschaften hat, die du
hast. Wenn ja, dann ist alles in Ordnung. Wenn nicht
...«
Víkingur stand auf.
»So, jetzt muss ich wohl los. Wir bleiben in Kontakt.
Das geht alles seinen Gang. Aber ich möchte dich noch etwas
fragen.«
Lúðvík wartete die Frage ab und lächelte dann, als er sie hörte:
»Wo sich doch alles um Politik und Interessen dreht wie kam es
dann dazu, dass du Polizeipräsident wurdest?«
Die Antwort folgte sofort: »Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen war
mein Vater in der Bauernpartei. Weil ich vermied, über Politik zu
sprechen, vermutete man, dass ich ihr auch angehörte.
Zweitens hielt man mich für einen Vollidioten. Nachdem sich das als
Irrtum herausstellte, brauchten sie elf Jahre, um mich aus dem Amt
zu bekommen.«
*****
Wenngleich er geschwätzig war, konnte Þórhildur nur zufrieden mit
ihrem Schüler sein. Sveinn arbeitete schnell und abgeklärt, seine
Handbewegungen waren sicher und elegant, schließlich hatte er vor
seiner Spezialisierung Chirurgie gelernt. Er ging so flink zu Werk,
dass Þórhildur nicht einmal während ihrer Ausbildung in Australien
jemanden gesehen hatte, der eine Autopsie in kürzerer Zeit
abschließen konnte. Sie sprach Sveinn darauf an. Er freute sich
offensichtlich über das Lob, denn Þórhildur ging normalerweise
sparsam damit um.
»Es wäre doch interessant zu sehen, wie viele Obduktionen wir an
einem Tag schaffen können«, sagte er.
»Noch zwei warten vorne, ein Erhängter und ein Ertrunkener. Wenn
wir sie beide heute fertig machen könnten, hätten wir den ganzen
Tag morgen für die Protokolle.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals drei Obduktionen an
einem Tag gemacht zu haben«, sagte Þórhildur. »Sollen wir es nicht
gut sein lassen und die anderen beiden Autopsien bis morgen
aufheben?«
Aber Sveinn war nicht willens, schon aufzuhören.
»Wenn du müde bist, kann ich mich noch um eine kümmern, bevor ich
nach Hause fahre«, sagte er. »Ich habe Zeit. Mich erwartet
niemand.«
Þórhildur verzichtete darauf, zu fragen, warum ihn niemand zu Hause
erwartete. Sie erinnerte sich daran, dass er einmal gesagt hatte,
er lebe in einer kinderlosen Partnerschaft. Die Partnerin schien
entweder auf Reisen zu sein oder die Beziehung war
auseinandergegangen.
Þórhildur hatte nicht genug Energie, um sich für das Privatleben
ihres Schülers zu interessieren. Sie hatte genug mit ihrem eigenen
zu tun.
Jedes Mal, bevor sie sich einem weiteren Leichnam zuwandten, begab
sich Þórhildur ins Bad. Sie wusch sich die Hände, steckte eine Hand
in die Tasche ihres Umhangs und nahm die weißen Tabletten heraus.
Sie steckte sich zwei in den Mund und spülte sie mit einem Schluck
Wasser aus dem Wasserhahn hinunter. Sie betrachtete sich gründlich
im Spiegel. Nichts an ihrem Aussehen war unnatürlich, außer dass
ihr Ausdruck so düster war.
Sie versuchte zu lächeln, aber das Lächeln war falsch. Sie hatte
ein schlechtes Gewissen wegen ihres Mannes. Sie hatte ihm Offenheit
und Aufrichtigkeit versprochen und dass alles wieder so würde, wie
es war.
Bald wird wieder alles, wie es war, dachte sie. Bis dahin muss ich
einfach so tun, als ob es schon so sei. Wegen Víkingur. Seinetwegen
muss ich mich behaupten. Ich bin kein Junkie, auch wenn ich
Medikamente nehme, um über den Tag zu kommen. Ich bin Ärztin und
weiß, was mir nicht schadet. Am liebsten würde ich alle Tabletten
schlucken, die ich in der Tasche habe, und von allem davonschweben.
Aber tue ich es? Nein. Ich nehme immer nur zwei. Das würde ein
Junkie nicht schaffen. Ein Junkie würde sich in den Schutz des
Rausches flüchten.
Das tue ich nicht. Ich widerstehe dem Medikamentenmissbrauch. Ich
benutze die Medikamente nur, um trocken zu werden. Und wenn ich
trocken bin, täusche ich niemanden.
*****
Nachdem sie den dritten Leichnam seziert hatten, legten sie
gemeinsam fest, welche Informationen sie der Polizei zukommen
lassen konnten, schon bevor der eigentliche Autopsiebericht
geschrieben war. Sie waren sich einig, dass, wenn man das Klima der
letzten Zeit und die vermutliche Temperatur im Sommerhaus in
Betracht zog, mindestens fünf Tage vergangen sein mussten, seit die
Männer getötet worden waren. Von denselben Grundlagen ausgehend
konnten kaum mehr als zehn Tage seit dem Tod der Männer vergangen
sein.
»Ohne Gewähr würde ich sagen, eher fünf als zehn«, sagte Sveinn.
»Wie der Fette im Inneren aussah, hat nichts zu bedeuten. Wenn das
Gedärm durchstochen wird, sind die Bakterien schnell auf dem Plan.
Verdammt, es war Wahnsinn, zu sehen, wie der Besenstiel nach rechts
gerichtet worden ist, um das Herz zu umgehen.«
Þórhildur war es nicht gewohnt, das Auftreten anderer Menschen
kommentieren zu müssen. Diesmal war es aber wohl
angebracht.
»Entschuldige, Sveinn«, sagte sie, anstatt ihn mit Svenni
anzusprechen, wie sie es gewöhnlich tat. »Ein Rechtsmediziner darf
keine Ausdrücke wie >der Fette< benutzen, wenn er von Toten
spricht, die ihm anvertraut wurden. Und dann flucht man auch nicht
am Arbeitsplatz. Das gesamte Auftreten eines Rechtsmediziners soll
von Respekt seiner Aufgabe gegenüber und von wissenschaftlichem
Interesse geprägt sein. Der Sinn unserer Tätigkeit ist es, nach der
Wahrheit zu suchen. Das dürfen wir nicht vergessen. Es ist
tödlicher Ernst. Das Schild dort an der Wand hängt da, um uns daran
zu erinnern.«
In Sektionssälen in der ganzen Welt hängen Schilder, die dasselbe
lateinische Zitat tragen: Hic locus est ubi mors gaudet
succurrere vitae.
An diesem Ort freut sich der Tod, dem Leben beizustehen.
Þórhildur war
erstaunt, wie nahe Sveinn diese freundliche Anmerkung zu gehen
schien. Er hatte vor Zufriedenheit über das Lob gestrahlt, das er
für seine Handfertigkeit und die flinke Arbeitsweise bekommen
hatte.
Jetzt fiel ihm das Lächeln aus dem Gesicht, und einen kurzen
Augenblick lang schien es Þórhildur, als bräche er gleich in Tränen
aus.
»Was soll das?«, murmelte er. »Alles ist vergänglich. Es ist ja
nicht so, als wären es lebendige Menschen.«
Plötzlich ist er empfindlich, dachte sie. Eine ordinäre
Ausdrucksweise ist ja oft ein Zeichen dafür, dass die Menschen
dünnhäutig sind.
Dennoch tat es ihr leid, wie bedrückt der Kerl war.
Deswegen konnte sie sich nicht dazu durchringen, kompromisslos Nein
zu sagen, als Sveinn sie wieder drängte, nicht aufzuhören, bevor
sie ihren bisherigen Rekord an Autopsien an einem Tag überboten
hatten.
Um sich von der Betroffenheit ihres Schülers freizukaufen, hörte
sie sich selbst vorschlagen, eine weitere Obduktion vorzunehmen.
»Nicht, um irgendwelche Rekorde zu brechen«, sagte sie. »Sondern
weil du heute so gut drauf bist. Und du hast auch recht, dann haben
wir morgen mehr Zeit, die Berichte zu verfassen.«
Sveinn konnte seine Zufriedenheit nicht verbergen, auch wenn er
schon alt genug war, um sich Luftsprünge und Hurrarufe zu
sparen.
So sind sie alle, diese Jungs, dachte sie. Ständig mühen sie sich
ab, irgendwelche Heldentaten zu vollbringen und Rekorde
aufzustellen, nur damit sie Lob bekommen.
Sogleich fühlte sie einen schmerzhaften Stich im Herzen, als sie an
den Jungen dachte, der sich nicht nach ihrem Lob sehnte.
Magnús, wo bist du?, dachte sie. Lass mich wissen, wo du gelandet
bist. Gib mir eine Gelegenheit, dir zu sagen, wie sehr ich mich
selbst dafür hasse, dass ich dich enttäuscht habe. Gib mir nur eine
Gelegenheit, dir meine Fürsorge zu zeigen.
Sie bemerkte, dass Sveinn dastand und sie anschaute.
Er hatte sie anscheinend nach etwas gefragt und wartete auf die
Antwort.
»Entschuldige«, sagte sie. »Ich war irgendwie abwesend. Was hast du
gesagt?«
»Ich habe dich gefragt, ob du den Gehängten oder den Ertrunkenen
nehmen willst?«
»Das kommt für mich auf dasselbe heraus«, sagte sie.
»Du hast sie entgegengenommen, als ich im Ausland war.
Du entscheidest.«
Jetzt konnte Sveinn seine Zufriedenheit nicht länger verhehlen. Er
strahlte geradewegs, dass er diese Anerkennung seiner Mentorin
bekommen hatte.
»Dann schlage ich vor, dass wir den Gehängten nehmen. Es handelt
sich allerdings um einen Selbstmord und der Zeitpunkt ist ziemlich
gesichert. Aber interessant deswegen, weil ich noch nie von einem
Mann gehört habe, der über eins achtzig ist und sich an einem
Türgriff von nur einem Meter zehn Höhe erhängt hat. Der Mann hat
sich mit seinem Gürtel aufgeknüpft«, fügte er erklärend hinzu. »Ich
habe ihn selbst gestern Morgen im Playboy-Club abgeschnitten, bevor
ich runter nach Þingvellir musste. Ich bin ziemlich gespannt
darauf, was wir finden.«
Es war zu spät für Þórhildur, ihre Meinung doch noch zu
ändern.
»Ich muss kurz ins Bad«, sagte sie. »Ich bin gleich wieder
da.«
»Lass dir Zeit«, sagte Sveinn. »Ich kümmere mich darum, alles
vorzubereiten, sodass wir in null Komma nichts fertig sein werden.«
Sie ging wieder ins Bad. Sah wieder in den Spiegel. Sie erschrak,
als sie sich selbst sah.
Víkingur merkt bestimmt, dass mein Gesicht wie eingefroren
ist.
Entspanne dich, Mensch, er wird nichts bemerken. Du bist einfach
ein bisschen ausgelaugt.
Sie schluckte die Pillen mit Leitungswasser hinunter.
Sah dann wieder in den Spiegel und machte Grimassen, riss den Mund
auf und lockerte den Unterkiefer. Sie war nicht mehr
eingefroren.
*****
In Reykjavík war das Gästehaus Hlynur als Playboy-Club bekannt.
Diese Bezeichnung rührte nicht daher, dass es im Inneren so
exquisit ausgesehen hätte, sondern war dadurch entstanden, dass die
Gäste nur in Ausnahmefällen ausländische Reisende waren. Meistens
waren es Männer, die frisch geschieden waren, in Trennung lebten
oder denen eine Scheidung drohte. Trunksüchtige, die mehrmals im
Jahr von zu Hause verschwanden, um sich volllaufen zu lassen,
fanden dort ebenso Unterschlupf wie Ehebrecher, die auf frischer
Tat ertappt und davongejagt worden waren.
Viele glaubten, im Playboy-Club herrschten stete Gaudi und
Munterkeit, und stellten sich vor, die Gäste würden von
leichtbekleideten Bunnys bedient. Nichts war jedoch unzutreffender
als das, denn Zimmerservice gab es keinen und um Empfang und
Reinigung kümmerten sich zwei Männer, die in Wechselschicht
arbeiteten.
Der eine hieß Inunnguaq Jensen, genannt Nonni Quak, und war ein
Grönländer, der erlöst worden war und aufgehört hatte zu trinken.
Dann hatte er angefangen, im Playboy-Club zu arbeiten, um seine
durch Sauftouren entstandenen Schulden begleichen zu können. Der
andere hieß Phiwokwakhe Mphikeleli, Feigenlilli oder kurz Lilli von
den Stammgästen genannt, die in der Regel zu stark lallten, um ihre
eigenen Namen aussprechen zu können, ganz zu schweigen von
fremdsprachlichen Namen. Er stammte aus Südafrika und behauptete,
von Shaka kaSenzangakhona abzustammen, der 18161828 König der Zulu
war. Inunnguaq und Phiwokwakhe waren beide nach Island gezogen,
weil sie isländische Frauen kennengelernt hatten, Nonni Quak in
Kopenhagen und Feigenlilli in London. Beide hatten getrunken und
die Frauen in die Flucht geprügelt, aber dann wurden sie vom
Alkoholismus befreit durch das Blut des Lammes und die Vermittlung
eines gewissen Sigurður, der Sankt Sigurður genannt wurde und
Vorsitzender der Sekte »Der Kelch« gewesen war, bevor er wegen
Unterschlagung und freizügiger Sexualkontakte mit seinen
Schützlingen im Gefängnis landete.
Als Nonni Quak zur Arbeit erschien, hatte er die Flure des
Gästehauses und zwei freie Zimmer, Nummer 13 und Nummer 28, zu
putzen. Als er zum letztgenannten Raum kam und den Schlüssel im
Schloss drehte, wollte sich die Tür nicht öffnen lassen. Es war,
als hielte jemand dagegen. Mit ganzer Kraft gelang es Nonni jedoch,
die Tür weit genug zu öffnen, um hineinspähen zu können, und dann
sah er, was die Ursache war. Im Zimmer, das leer sein sollte, war
ein Übernachtungsgast gewesen, der sich aus irgendeinem Grunde
nicht in der Lage gefühlt hatte, die helle Sommernacht zu
überstehen, und Selbstmord begangen hatte. Der Mann hatte sich
erhängt, indem er das eine Ende seines Gürtels an der Türklinke
befestigt und das andere Ende um seinen Hals geschlungen hatte.
Dann hatte er sich mit dem Rücken zur Tür heruntersacken lassen und
auf seinen Tod gewartet, während der Gürtel seinen Hals einengte.
Es war nicht das erste Mal, dass Nonni einen toten Hotelgast
auffand, und ohne zu zögern rief er die Polizei an. Zwei junge
Männer, die über den Sommer vertretungsweise im Einsatz waren,
wurden an den Ort des Geschehens geschickt mit der Anordnung, die
Leiche nicht zu berühren, bevor der Rechtsmediziner eingetroffen
war. Also tranken sie in einer kleinen Ecke der Küche bei Nonni
Kaffee, während sie auf Sveinn warteten, der wegen Þórhildurs
Abwesenheit Bereitschaft hatte.
Als Sveinn zum Tatort kam, gelangte er schnell zum selben Ergebnis
wie Nonni, nämlich dass es sich um einen Selbstmord handele. Die
starke Alkoholfahne des Leichnams wies darauf hin, dass der Mann
betrunken gewesen war, was eine Erklärung dafür sein konnte, wie er
dieses unbequeme Erhängen ertragen haben konnte, ohne aufzustehen
und sich eine geeignetere Örtlichkeit zu suchen. Nichts im Raum gab
Anlass zu der Annahme, dass sich Handgreiflichkeiten ereignet
hatten. Das einzig Ungewöhnliche war, dass der Mann keine Papiere
bei sich trug und niemand dieses Zimmer für diese Nacht gebucht
hatte.
Mit einem scharfen Messer schnitt Sveinn den Gürtel so nahe wie
möglich an der Türklinke entzwei und beließ jenen Teil, der sich in
den Hals eingegraben hatte, an der Leiche. Es gab keinen Grund, den
Gürtel vom Hals zu lösen, denn der Mann war offenbar seit geraumer
Zeit tot. Er war bereits kalt und die Totenstarre
eingetreten.
Sveinn vermutete, dass der Mann vor ungefähr zwölf Stunden
gestorben war. Er hatte nicht viel Zeit für weitere Überlegungen an
Ort und Stelle, da ihn die Nachricht erreichte, es habe höchste
Priorität, dass er zu einem bestimmten Sommerhaus in Grafningur
führe und alles mitbrächte, was man für die Untersuchung eines
Mordes am Tatort bräuchte.
Sveinn gab daher sein Fazit zu Protokoll, dass es sich um
Selbstmord handele, und übergab die Leiche den beiden
Urlaubsvertretungen, die dann einen Krankenwagen verständigten, um
den Leichnam ins Leichenschauhaus zu transportieren.
Trotz der Arbeitslast am Vortag und den drei Obduktionen an diesem
Tag freute sich Sveinn darauf, die Bekanntschaft mit dem Mann
aufleben zu lassen, den er in so großer Hast im Gästehaus hatte
zurücklassen müssen.
Die Methode, die der Mann gewählt hatte, war eher ungewöhnlich, und
in seinem Beruf begrüßte Sveinn alles mit offenen Armen, was
ungewöhnlich war.
Jetzt lag der erhängte Mann auf dem Sektionstisch. Die Kleidung war
entfernt worden, die Totenstarre größtenteils gewichen und die
Leiche lag auf dem Rücken. Der Gürtel war noch immer fest um den
Hals geschlungen, das Gesicht wies von Sveinn und der Tür des
Sektionssaals weg.
Als Þórhildur in die Tür trat, blickte sie an Sveinn vorbei in
Richtung des Leichnams. Ihr Blick blieb gleich an dem Gürtel
hängen. Sie erschrak, starrte ihn fassungslos an und ging dann mit
unsicheren Schritten zum Sektionstisch. Sie erkannte die
Gürtelschnalle, die unterhalb des linken Ohrs der Leiche ruhte. Im
Frühling, am ersten Mai, hatte sie ihrem Sohn diesen Gürtel zum
Geburtstag geschenkt. Die Schnalle war aus poliertem Stahl und in
ihrer Mitte war der Buchstabe M ausgeschnitten. Sein Buchstabe.
Magnús war ein Maikind, er war ihr im Frühling des Lebens geboren
worden, einem Frühling, den sie selbst zu einem kalten Herbst
gemacht hatte.
Sie hielt am Sektionstisch inne und beugte sich über den Leichnam,
um sein Gesicht zu sehen. Der Ausdruck des Toten war entstellt von
der Qual. Die Zunge, die fast durchgebissen war, hing aus dem Mund.
An der linken Augenbraue war ein blutiger Schnitt und an der
Schläfe ein blauer Fleck.
Einen kurzen Moment wirkte es auf sie wie ein schlimmer Traum, ein
Albtraum, und innerhalb kurzer Zeit würde sie aufwachen aber sie
wusste es besser. Die Wirklichkeit ist derjenige Traum, dem man
nicht entkommt, bis der Tod seine schwarzen Flügel über Freude und
Sorgen breitet. Endgültig. Für immer. In alle Ewigkeit. Keine
Sorgen mehr. Nie wieder Freude.
Mit unsicherer Hand strich sie das Haar von der Stirn des Leichnams
und schrak auf, als etwas brennend Heißes auf ihren Handrücken
fiel. Es war eine Träne. Sie weinte, ohne auch nur einen Ton von
sich zu geben, und die Tränen rannen von ihrem Handrücken auf die
geschlossenen Augenlider ihres Jungen und seine Wangen herab. So
weinten Mutter und Sohn gemeinsam über die tödliche Finsternis, die
ihr Leben entzweit hatte, um es erneut im Tode zu
vereinen.